Rassismus im Literaturbetrieb
Von
TEXT: Jacinta Nandi
ILLUSTRATION: Xueh Magrini Troll
In dieser Debatte geht es nicht um Zensur. Es geht auch nicht darum, dass weniger weiße Menschen veröffentlicht werden sollen. Es müssen einfach mehr nicht-weiße Menschen gehört werden. Und dass konstruktive Kritik zu einer Cancel-Culture-Debatte reduziert wurde, beweist, wie rassistische Ideen tief in manchen weißen Autor*innen und Verleger*innen drin sitzen.
Am 04. April 2019 veröffentlichte die britische Autorin und Englischlehrerin Kate Clanchy das Sachbuch „Some Kids I Taught And What They Taught Me“ bei Picador. Das Buch, das sich mit dem Englischunterricht befasst (mit Schwerpunkt auf Poesie lesen und schreiben) in den sogenannten „Problemvierteln“, mit den sogenannten „Problemkindern“ (Kinder aus der arbeitenden Klasse und Geflüchtete basically), wurde in den Medien übertrieben gelobt.
Die „Sunday Times“, z.B., beschrieb Clanchys Arbeit als „eines der inspirierendsten Bücher über den Lehrberuf, das Sie je lesen werden (…) ausgezeichnet geschrieben (…) brillant lustig (…) kaufen Sie unbedingt dieses Buch!“ Dazu kommt noch, dass die Autorin mit dem renommierten Orwell Prize für politisches Schreiben belohnt wurde. Ein richtig erfolgreiches Buch, mit richtig viel literarischer Anerkennung. Die Kritiker*innen waren begeistert – besonders die weißen. Aber nicht alle fanden das Buch toll. Bei „GoodReads“ gab es immer wieder negative Rezensionen. Kritik von Leser*innen, die nicht aus dem Literaturbetrieb kamen und die Probleme damit hatten, dass in dem Buch immer wieder rassistische, ableistische und auch klassenfeindliche Begriffe – und Sentiments – vorkamen, kamen ebenfalls auf. Bei dem Shitstorm haben die Verteidiger*innen von Clanchy versucht, sich lediglich gegen die Rassismusvorwürfe zu wehren – doch die Kritik war nicht nur auf den Aspekt begrenzt.
Ich bin selbst Autorin. Und ich muss sagen: Niemand liest gerne eine negative Rezension. Niemand mag negative Kritik. Niemand geht damit besonders brillant um. Wirklich niemand. Aber das, was Clanchy tat, war besonders ungünstig: Sie behauptete, dass die Kritiken auf „GoodReads“ und die rassistischen Zitate, die aufgeführt wurden, frei erfunden waren – erfunden und deswegen diffamierend. Über Twitter rief sie ihre Follower*innen auf, diese negativen Reviews bei „GoodReads“ als Verleumdung zu melden, damit sie gelöscht werden. (Komischerweise fand niemand im weißen britischen Literaturbetrieb, dass dieses Verhalten irgendwas mit Cancel Culture oder Zensur zu tun hätte. Aber ich möchte hier betonen, dass bei dieser ganzen Geschichte diese Bitte von Clanchy, die einzige Bitte war, die irgendwas mit Canceln zu tun hatte.)
And this is where it get‘s interesting: Draufhin meldeten viele Leser*innen über Twitter, dass rassistische Begriffe in Clanchys Buch doch vorkamen. Sie lieferten Beweise – Screenshots von Seiten, die zeigten, dass genau das, was Clanchy leugnete, im Buch stand. Clancy löschte den Tweet schließlich, der zum Melden aufrief. Daraufhin sagte sie, dass die Zitate „aus dem Kontext“ gerissen worden sein. Schließlich meldeten sich viele Menschen, die Clanchys Behauptung widersprachen, und machten deutlich, dass diese Zitate aus dem Kontext eines problematischen Buches entstanden waren. Besonders drei WoC-Autorinnen (Chimene Suleyman, Sunny Singh und Monisha Rajesh) analysierten höflich und sachlich, warum die benutzen Begriffe rassistisch konnotiert sind und warum der Text insgesamt problematisch ist.
Und wie immer, wenn nicht-weiße Menschen erwähnen, dass etwas rassistisch ist, kam dann, wie bestellt, ein Shitstorm, eine Empörungswelle, ein Tsunami von white tears! Der Twitterstorm war natürlich groß – und die meistern Literaturszeneanhänger*innen waren aufseiten von Clanchy. Viele berühmte, „angesehene“ britische Autor*innen, wie z.B. Philip Pullman und Amanda Craig, wussten sofort, was passiert war: Clanchy wurde zum Opfer von Cancel Culture. Die WoC, die das Buch analysierten, waren Täter*innen, waren Mobber*innen. Die WoC, die bei „GoodReads“ die erste Kritik veröffentlicht hatte, war ebenfalls Mobberin – und hat natürlich das Buch nie gelesen. Und die nicht-weißen Autorinnen waren bestenfalls nur neidisch oder schlimmstenfalls (laut eines mittlerweile gelöschten Tweets von Pullman) nicht besser als die Taliban.
Was mich wirklich abfuckt an der Geschichte ist einfach, wie unfair sie ist. Kritik an weißen Menschen – wenn ausgeübt von nicht-weißen Menschen – wird sofort als Mobbing geframed. Ich mag Kritik auch nicht, aber dass Bücher rezensiert werden, gehört nun mal zum Literaturleben dazu. Der Versuch, einen Text verschwinden zu lassen, gilt nicht als Zensur – wenn es von einer intelligenten weißen Frau kommt. Der Versuch, ein Buch zu rezensieren oder zu analysieren, ist Mobbing – wenn es von WoC kommt.
Denn die Wahrheit ist, dass das Buch problematisch ist. Die rassistischen, klassenfeindlichen und ableistischen Begriffe sind nicht deswegen schlimm, weil sie politisch inkorrekt und Clanchy einfach „rausgerutscht“ sind. Sie sind problematisch, weil der Blick, mit dem Clanchy ihre Schüler*innen betrachtet, nicht gleichberechtigt ist. Clanchy tut das deshalb, weil sie sich selbst nicht als „Rassistin“ betrachtet und es „gut“ meint. Jedoch ist ihr Buch voll von Ideen, die gut gemeint sind – und trotzdem werden durch ihre Narrative die Kinder zu etwas Fremden klassifiziert. (Ich muss hier auch erwähnen, dass nicht alles gut gemeint ist.) Ein weiteres großes Problem an dem Buch ist, dass die Privatsphäre der Kinder nicht ausreichend geschützt wurde. Die Kinder sind sehr leicht zu identifizieren, ebenfalls Clanchys Kolleg*innen.
Kate Clanchy ist keine Rassistin. Ich bin ziemlich sicher, dass sie davon überzeugt ist, dass sie antirassistisch denkt und handelt. Sie hasst niemanden, weil er*sie Schwarz oder jüdisch ist, sie hasst Be_hinderte nicht, sie ist eine der „Guten“. Sie hilft sogar in den Problemvierteln! Unterrichtet sogar Geflüchtete! Die rassistischen Begriffe jedoch, die in dem Buch vorkommen, sind kein Zufall. Das ganze Konzept des Buches – ehrlich gesagt, die ganze Karriere als Autorin, aber auch als Lehrerin, basiert auf der Idee, dass weiße Menschen nicht-weißen Menschen überlegen sind. Dass die arbeitende Klasse die Weisheit der Oberschicht bräuchte, um die Welt verstehen zu können. Some Kids I Taught And What They Taught Me – diese Überraschung, dass nicht-weiße Kinder, geflüchtete Kinder, Kinder der arbeitenden Klasse, Kinder mit Lernbehinderungen Menschen sind, die auch was zu erzählen haben – es steht bereits im Titel: Clanchy ist eine White Savior, die den Kinder der Unterschicht Poesie beibringt.
Der britische Literaturbetrieb ist ganz klar rassistisch. Das bedeutet nicht, dass die Menschen, die im Literaturbetrieb arbeiten, schlechte Menschen sind oder dass sie bewusst wollen, dass es weniger BIPoC gibt, die im Vereinigten Königreich Bücher herausbringen. Aber dass eine Kritik als Mobbing dargestellt wird, wenn diese von nicht-weißen Personen kommt – das passiert deswegen, weil Menschen wie Philip Pullman und Amanda Craig nicht wirklich denken, dass nicht-weiße Menschen das Recht (oder die Skills) hätten zu schreiben. It’s called White Supremacy.
Wie sieht es denn im deutschen Literaturbetrieb aus? Wir leben in einer Zeit, in der viele, viele nicht-weiße Autor*innen schreiben, veröffentlichen und auch für Preise nominiert werden. Z. B. sind meine beiden Kolleg*innen Mithu Sanyal und Dilek Güngör für den Deutschen Buchpreis nominiert. Es gibt im Moment einen Hype um nicht-weiße Literatur in Deutschland und die Bücher, die gerade im Begriff sind zu erscheinen, sind neu und spannend: Die Autor*innen, so habe ich das Gefühl, sind befreiter denn je, weil „endlich“ klar geworden ist, dass nicht-weiße Menschen auch ab und zu lesen.
Aber was ebenfalls wichtig wäre – in Deutschland und in UK –, ist die Besetzung von nicht-weißen Menschen, die behind the scenes im Literaturbetrieb arbeiten. Ich glaube, ich habe in meinen ganzen Jahren als Schriftstellerin in Deutschland noch nie eine nicht-weiße Person in einer Entscheidungsposition gesehen. Ich frage mich, ob Bücher wie „Some Kids I Taught And What They Taught Me“ oder die deutsche „Frau Freitag“-Reihe (wahrscheinlich ist diese Publikation in manchen Hinsichten problematischer als „Some Kids“, denn „Some Kids“ ist deswegen schlimm, weil Clanchy darin ihren White-Savior-Komplex auslebt. Hierzulande wollen White Saviors BIPoC jedoch überhaupt nicht retten, sondern erziehen und kontrollieren) überhaupt geschrieben werden würden, wenn eine nicht-weiße Lektorin drübergeschaut hätte.