TEXT: Debora Antmann
ILLUSTRATION: Xueh Magrini Troll

Es schwirren so viele Texte in meinem Kopf, ich weiß gar nicht, welchen davon ich schreiben soll. Zum einen liegt das natürlich daran, dass ich unglaublich kreativ und voller wichtiger Gedanken bin (well …), zum anderen, dass die Kacke gerade an so vielen Ecken am Dampfen ist, dass ich ein jüdisches Wochenblatt gründen und damit füllen könnte. Und dann gibt es ja auch noch die schönen Dinge – über die möchte man schließlich auch schreiben.

Es ist einen Tag vor Jom Kippur und ich nehme den Wunsch: „gmar chatima tova – möge deine Einschreibung in das Buch des Lebens gut abgeschlossen werden“ mal ganz wortwörtlich und schreibe sie noch schnell alle:

Ich schreibe euch zunächst eine Rosch-Ha-Schana-Kolumne über die Süße unseres Jüdischseins. Zum Jahresbeginn essen wir Honig, um die Süße des neuen Jahres zu schmecken.

Debora Antmann

1989 in Berlin geboren und die meiste Zeit dort aufgewachsen. Als weiße, lesbische, jüdische, analytische Queer_Feministin, Autorin und Körperkünstlerin, schreibt sie auf ihrem Blog „Don’t degrade Debs, Darling!“ seit einigen Jahren zu Identitätspolitiken, vor allem zu jüdischer Identität, intersektionalem Feminismus, Heteronormativität/ Heterosexismus und Körpernormen. Jenseits des Blogs publiziert sie zu lesbisch-jüdischer Widerstandsgeschichte in der BRD, philosophiert privat über Magneto (XMen) als jüdische Widerstandsfigur und sammelt High Heels für ihr Superheld_innen-Dasein.

Mit der gleichen Süße strömt unser Jüdischsein aus jeder einzelnen Pore unserer Körper. Ob es uns bewusst ist oder nicht. Egal, worauf wir schauen, wir betrachten es als Jüd*innen – durch unsere Jewishness hindurch. Ob wir davon wissen oder nicht. Ob andere sie uns zugestehen oder nicht. Ein neues Jahr bedeutet eine neue Chance, die Süßheit und Richness dessen zu schmecken, was uns ausmacht. Unser Jüdischsein, das wie dicke, goldene Perlen aus unserer Existenz tropft – es könnte köstlicher nicht sein. Eine Geschichte erzählt von Bildern.

Ich schreibe euch eine Kolumne über das toxische deutsche Verständnis von Judentum. Wie gefährlich es ist, dass in Deutschland der Unterschied zwischen religiösem Judentum und Jüdischsein ignoriert wird. Wie sehr dies die Zerstörung jüdischer Kulturen fortschreibt und zeigt, wie kaputt jüdische Kultur in Deutschland immer noch ist. Wie die Diskussion um die Legitimität von Jüd*innen nur anhand der Halacha* zeigt, dass in diesem Land jegliches Verständnis zerstört wurde, dass es sich um religiöse Gesetze handelt. Es gibt aber noch ein ganzes fucking Universum jenseits des religiösen Judentums. Für säkulares Judentum war die Halacha schon immer schnurz-piep-egal. Als hätten sich bspw. Bundist*innen** hingesetzt und über halachische Gesetze in ihren Familien diskutiert.

Diese völlige Fixierung auf religiöses und vor allem orthodoxes Judentum, es so selbstverständlich als Norm zu setzen, ist eine Folge der Ausrottung sämtlicher jüdischer Vielfalt in Europa. In der „Vaterjuden-Debatte“ spielen alle mit, als würden wir eine Inhaltsanalyse über die Nürnberger Gesetze schreiben. Jüdisch-religiöse Gesetze sind EINE jüdische Wirklichkeit und so zu tun, als wäre es die einzige, manifestiert NS-Wirklichkeiten statt jüdische Wirklichkeiten. In jedem anderem Land ist die Frage in sozialen Kontexten nicht, OB man jüdisch ist, wenn man ein jüdisches Elternteil hat – denn selbstverständlich ist man es –, sondern („nur“) welchen Zugang, welchen Status man im RELIGIÖSEN Leben, genau genommen sogar NUR welchen religiösen Zugang man in den GEMEINDEN hat. Dass wir hier das eine mit dem anderen gleichsetzen, dass wir uns jüdische Wirklichkeiten außerhalb der Gemeinden gar nicht vorstellen können, dass wir jüdische Realität nicht von religiöser Realität unterscheiden können, zeigt, in welchen verrotteten Trümmern von Jüdischkeit wir leben müssen. Aber stattdessen halten wir das für Normalität!

 

 

Ich würde euch gerne eine Kolumne  darüber schreiben, was der Bund war, über sein Wirken und seine Bedeutung, doch dazu reicht der Platz nun wirklich nicht. Aber zumindest einen groben Überblick über die Bewegung will ich niemandem vorenthalten: Bundist*innen waren sozialistische Jüd*innen, die Infrastrukturen und Sozialsysteme, wie Schulen, Waisenhäuser, Ärztehäuser etc. für Jüd*innen aufgebaut haben und die jiddische Kultur, in Form von Sprache, Literatur, Musik und Geschichte, gelehrt und aktiv aufrechterhalten und geschaffen haben. Bundist*innen waren entscheidend am Aufstand im Warschauer Ghetto beteiligt und für viele geflohene Jüd*innen war bundistischer Zusammenhalt die einzige Struktur und Solidarität und Gemeinschaft in der Diaspora. Egal, wo, das Ziel der bundistischen Bewegung war, für Jüd*innen ein freies, selbstbestimmtes und an jüdisch-säkularer Kultur reiches Leben zu ermöglichen. Bis heute existieren Organisationen, die aus dem Bund entstanden sind, und Strukturen vom Bund.

Man schreibt eine Kolumne ja selten ohne Kontext und wahrscheinlich wäre es eher eine Kolumne darüber, warum es genau aus dieser Geschichte und Leistung heraus nicht okay ist, sich als aktivistische Gruppe einfach mal eben „jüdischer Bund“ zu nennen – inklusive Bund-Logo, um einen Twitter-Kanal zu betreiben und ein paar Statements zu veröffentlichen. Weniger Selbstreflexion und mehr Missachtung gegenüber der Arbeit und Bedeutung des Bundes geht wohl kaum. Und es gab tatsächlich Menschen, die die Sorge hatten, dass es der Zenit der Selbstüberhöhung sei, dass jede*r mit Twitter-Account jetzt Aktivist*in ist. Aber wie gesagt: „wäre es“ – Konjunktiv. Ich schreibe sie ja nicht ;)

Ich schreibe euch dafür eine Kolumne darüber, wie es ist, als Jüdin in einer nicht-jüdischen Familie aufzuwachsen. Darüber, wie plötzlich alles eklig geschmeckt hat und nichts nach zu Hause, weil in der Suppe plötzlich Speck und auf dem Brot plötzlich Kochschinken war, und obwohl alle wussten, dass ich ein jüdisches Kind aus einem jüdischen Haushalt war, obwohl alle wussten, dass viele Jüd*innen kein Schweinefleisch essen, niemand auf die Idee kam, dass ICH vielleicht bis dahin quasi kein Schwein gegessen habe. Meine Mutter zu verlieren, bedeutete gleichzeitig, auch alle Gerichte zu verlieren, die ich liebte. Ein Schmerz, den ich verhältnismäßig schnell begriff. Und offensichtlich würde ab jetzt alles in meinem Leben nach Schwein schmecken. Es gab ständig mikroaggressive Kommentare, weil ich Eier, in denen man die Nabelschnur erkennen konnte, oder rote Punkte in der Wurst (eigentlich von Sehnen, aber in meiner Kinderlogik Blut) partout nicht essen konnte, weil mir schon bei dem Gedanken schlecht wurde. Nie wäre jemand auf die Idee gekommen, sich die Mühe zu machen und zu versuchen, das für sich selbst „kulturell zu übersetzen“. Und so gab es 1000 Dinge. Leute glauben, dass meine „jüdische Paranoia“ (nenne ich sie liebevoll und so darf tatsächlich nur ich das nennen) – entstanden ist, weil ich in einer jüdischen Familie aufgewachsen bin. Doch das Gegenteil ist der Fall: Schon mein Kinderhirn hat nach wenigen Vorfällen verstanden, dass wenn mir ALS JÜDIN etwas passiert, auf meine nicht-jüdische Familie kein Verlass ist. Es gab so wenig Verständnis für meine Realität, dafür, wie Menschen mir begegnen (und ja auch meine Familie selbst), wie schlimm und beängstigend meine Realität manchmal war, dass ich immer das Gefühl hatte: Wenn Geschichte sich wiederholt, wenn mein Leben ernsthaft bedroht wird, werden sie es nicht sehen und werden sie auch nicht die sein, die mich beschützen. Sie werden mir nur ein Schinkenbrot reichen und sagen: Dann gib halt nicht damit an, dass du jüdisch bist. Ohne zu fragen, ob ich es überhaupt erzählt habe.

Ohne Verständnis, dass es okay wäre, darauf stolz zu sein.

Ohne Gefühl, dass es eine Katastrophe ist, wenn schon ein Kind weiß, dass es zu gefährlich ist, zu öffentlich damit zu sein, wer man ist.

Ohne Gefühl dafür, dass ununterbrochen meine Haare oder meine Nase zu thematisieren kein Kompliment, sondern ein Problem ist. Ohne Gefühl dafür, dass es bei Familienfeiern und Anekdoten dieses Unbehagen gibt, was die geliebten Uromas und Omas so getrieben haben, als meine Familie um ihr Überleben kämpfte.

Ohne Gefühl dafür, dass nicht jede Suppe mit fucking Speck serviert werden muss.

Ich schreibe euch eine Kolumne darüber, warum das Judentum, mit dem ich aufgewachsen bin, aus der Zeit gefallen und deswegen so wundervoll ist. Wenn ich von Judentümern spreche, die es mal in Deutschland und Europa gab, aber nicht mehr gibt, weil nur ein Sandkorn davon nicht von Deutschen gewaltsam zertrümmert, zerschmettert, verbrannt und ermordet wurde, dann mag es so scheinen, als jage ich einem Ideal nach, von dem ich in Büchern gelesen oder auf Bildern gesehen habe. Doch wahrscheinlich gäbe es diese Bücher und Bilder nicht mehr.

Das Judentum, in dem ich aufgewachsen bin, ist original Vintage – Deutschland Zwanzigerjahre. Der echte Stoff. Meine Urgroßmutter (die mit 104 gestorben ist und unfassbar toll war) ist aufgewachsen in dem, was es in Deutschland nicht mehr gibt: kreatives, säkulares, nicht assimiliertes Judentum. Meine Mutter hat lange Phasen bei ihrer Großmutter im Ausland verbracht (Ausland ist wichtig, weil nach 1945 so viel passiert ist, dass das Jüdische, was es in Deutschland noch gab, unter den Verhältnissen verformt und verflacht wurde) und war in aller Selbstverständlichkeit mit einer progressiven Art des Judentums umgeben, wie sie später im Ansatz nur in den USA weiter- bzw. nachwachsen konnte.

Das Judentum, das bei uns zu Hause gelebt wurde, war von seiner gesamten Philosophie und Tradition das meiner Urgroßmutter und weil es Teil einer progressiven Zwanzigerjahre-Bewegung war, wahrscheinlich auch nicht zufällig feministisch as fuck. Wobei meine Mutter da mit Sicherheit in Sachen Feminismus auch noch mal nachgelegt hat. Es ist schön zu wissen, dass mein Jüdischsein ein Kleinod aus den 1920ern ist. Etwas, das es eigentlich nicht mehr gibt, aber in dem einen oder anderen Haushalt doch sorgsam aufbewahrt und hoffentlich wie ein Familienschatz an die nächste Generation weitergegeben wird.

Ich schreibe euch also eine Kolumne über all die Kolumnen, all die Texte, die noch in dieses Jahr gehören. Und schreibe mich so ein in mein persönliches Buch des Lebens – meine heiß geliebte Missy Kolumne und frei für das neue süße Jahr vor mir.

Shana tova u’metuka & Chatima Tova!

 

Anmerkungen zum Text:

* Halacha: ist die Sammlung der Rechtsvorschriften des religiösen Judentums.

**Bundismus: Eine säkulare sozialistisch-jüdische Bewegung, die ihren Ursprung im 1897 gegründeten Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland, kurz Der Bund, hatte.