Literaturtipps 05/21
Von MissyRedaktion
Ist es nicht schön hier
Knapp 1,4 Milliarden Einwohner*innen hat China aktuell. Dieser Zahl der Superlative nimmt das großartige Debüt von Te-Ping Chen ihre Anonymität. Aus zehn grundlegend ver- schiedenen Perspektiven reißen die einzelnen Kurzgeschichten an, welche Lebensrealitäten in diesem Land aufeinandertreffen. Auf den Skalen von Dorf zu Metropole, patriotisch zu regierungskritisch, arm zu reich bewegen sich diese Episoden dabei in alle Richtungen. Und auch wenn der permanente Maximierungsdrang der Industrienation genauso kritisch beäugt wird wie die antidemokratischen Strukturen, so steht etwas ganz anderes im Vordergrund. Selbst im engen Rahmen der Kurzgeschichten entwickeln sich nämlich schnell Bindungen zu den liebenswerten Protagonist*innen – zu dem alternden Erfinder Cao Cao in der Provinz, den Gefangenen in einer Bahnstation oder der Hotline-Mitarbeiterin Bayi. Chens Händchen für Erzählformen intensivieren dieses Erlebnis ungemein. Vom nahezu monotonen Ton in „Lulu“ über die überspitzte Erzählstimme von „An meiner Straße“ bis zum magischen Realismus in „Die neue Frucht“ entfaltet sich eine immer wieder neue Grundstimmung, die die Emotionen jeder einzelnen Geschichte mit kräftigen Farben vor das geistige Auge pinselt. Ein bewegendes Debüt, das seinem großen Anspruch mehr als gerecht wird. Julia Köhler
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Te-Ping Chen „Ist es nicht schön hier“ ( Aus dem Englischen von Anke Carolin Burger. Aufbau Verlag, 251 S., 22 Euro
Ein erhabenes Königreich
Gifty promoviert in Neurowissenschaften an der Stanford University und erforscht an Mäusen, wie neuronale Schaltkreise nach Belohnung streben. Doch ihre Aufmerksamkeit wird durch die plötzliche Anwesenheit ihrer stark depressiven Mutter von ihren Experimenten abgelenkt. Sie sieht sich mit traumatischen Erinnerungen aus ihrer Kindheit konfrontiert – sie waren einmal zu viert, dann zu dritt und nun sind sie nur noch zu zweit. Ihr Vater kehrte nach Ghana zurück, als Gifty so klein war, dass sie fast keine Erinnerungen an ihn hat. Aufgrund einer Sportverletzung wurde ihr Bruder Nana mit 14 Jahren süchtig nach Opioiden und starb drei Jahre später an einer Überdosis, da war Gifty elf. Yaa Gyasi lässt ihre Protagonistin viel über Wissenschaft, Glaube, Trauer und Abhängigkeit reflektieren und dies auf eine philosophisch und doch sehr persönliche Art. Gleichzeitig schafft sie es, durch ihre Brille Themen wie Rassismus oder die Opioidkrise, die die amerikanische Gesellschaft prägen, sehr anschaulich zu machen. Aus den gekonnt ein- gewobenen Rückblicken und gemachten Erfahrungen wird klar, wie aus dem lebhaften Kind eine introvertierte Wissenschaftlerin geworden ist, die es allen durch bestechende Brillanz beweisen will. Nicole Hoffmann
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Yaa Gyasi „Ein erhabenes Königreich“ ( Aus dem Englischen von Anette Grube. Dumont, 304 S., 22 Euro )
Daddy
Mit Kurzgeschichten ist es so eine Sache. Kaum hat sich der*die Leser*in in die Figuren reingefunden bzw. an sie gewöhnt, wer- den sie gemeinerweise schon wieder wegge- rissen. Emma Cline macht das Loslassen für ihre Leser*innen in ihrem endlich auf Deutsch erschienenen Kurzgeschichtenband „Daddy“ in dieser Hinsicht einfach. Denn ihre Figuren sind keine Sympathieträger*innen im klassischen Sinn und taugen mit ihren first world problems nur bedingt zur Identifikation. In erster Linie sind sie fast immer mit sich selbst beschäftigt, „gefangen in ihren mühsam errichteten Selbstbildern“. Clines wortkarge Familienväter, tablettensüchtige Gefälligkeitspublizisten oder ehemalige Filmproduzenten haben ihre besten Jahre oft hinter sich, trauern der guten alten Zeit hinterher und schämen sich für ihre erfolglosen Söhne. Sie leben in Los Angeles oder in New York. Also an Sehnsuchtsorten, an denen Träume schnell platzen oder zu Illusionen werden. Davon erzählte auch schon Clines erfolgreicher Erstlingsroman „The Girls“, der vor dem Hintergrund der Manson- Morde ein fiktives Coming-of-Age-Drama um eine orientierungslose Teenagerin spann. In „Daddy“ dreht Cline den Spieß um und leuchtet die Lebenswelten privilegierter weißer Männer aus, wobei auch junge Frauen zu Wort kommen. Cline schafft es, mit wenig Story viel zu erzählen. Souverän taucht sie auf wenigen Seiten in das Leben ihrer Figuren ein, ohne dabei allzu viel von ihnen preiszugeben. Häufig liegt ein Gefühl des Grauens in der Luft. Das macht ihre Geschichten so reizvoll. Katja Peglow
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Emma Cline „Daddy“ ( Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser, 256 S., 22 Euro )
Mutter werden.
Mutter sein
Mutterschaft ist wie ein alles veränderndes Portal. Die Autorinnen des Sammelbands „Mutter werden. Mutter sein“ haben es durchschritten und thematisieren dies in ihren Tex-ten auf unterschiedlichste Weise. Wut und Müdigkeit stecken nicht nur zwischen den Zeilen, die auf von Grießbrei ver- schmierten Tastaturen entstanden sind. „SZ“- Kolumnistin Teresa Bücker skizziert gewohnt konstruktiv Familienutopien, Simone Hirth steuert der Anthologie ein Manifest voller simp- ler Forderungen bei („Ich will mal zehn Minuten für mich […] Ich will keine Mama-App“) und in ihrem Einstiegstext „Das Natürlichste der Welt“ unterzieht die Herausgeberin Barbara Rieger sämtliche Phrasen rund um Schwangerschaft und Geburt einem Reality-Check, der jeder Mut- tergewordenen erkennendes Nicken entlocken wird. Besonders spannend liest sich Franziska Hausers Bericht vom Kinderkriegen in der DDR und nach dem Mauerfall. Gefühlsduseliges hat in diesem Buch keinen Platz, den (un-)möglichen Spagat zwischen Muttersein und Berufstätigkeit als Autorin schildert Bachmann-Preisträgerin Nava Ebrahimi eindrücklich. Eine wertvolle Sammlung. Doch ist es möglich, den Mutterbegriff neu zu definieren? Eine Fortsetzung, die dem Muttersein nicht Frausein voraussetzt, wäre sehr spannend. Amelie Persson
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Barbara Rieger (Hg.) „Mutter werden. Mutter sein“ ( Leykam, 216 S., 22 Euro )
Dornauszieher
Der Dornauszieher zieht – im Glauben der Protagonistin – Qual und Leid aus Seele und Fleisch. Dabei ist Itō eigentlich Atheistin und ihr Glaube mehr ein Glauben-Wollen. Als Tochter und Mutter pendelt sie zwischen Japan und Kalifornien. In Japan wohnen ihre alten Eltern, in Kalifornien Kinder und Mann; wobei vom Mann relativ wenig die Rede ist, am ehesten noch von seinen Problemen mit Selbstwert und Penis. Itō lebt ihr transitorisches Leben und kommentiert Krankheiten, gefleckte Beine, Ausscheidungen und Geschwulste mit makaberer Gelassenheit und Überschriften wie „Die Einsamkeit des Plätscherns in der Urinflasche“. Mit Bedauern, Akzeptanz, einem Stachel Selbsthass und fast immer einem Schuss Komik beschreibt sie auch das eigene Altern, hängende Brüste, Blutungen und eine fatale Warze in der Gebärmutter. Itōs Humor parallelisiert streitende Eheleute und küssende Sittiche in der Nähe des Spatzenhundes und fantasiert eine Horde alter Frauen, die mit der Wut vertrockneter Vaginen stellvertretend ihren Mann, seine Arroganz, Egozentrik und sein Unverständnis attackieren. Die Autorin mischt in ihrem lebendigen Erzählen buddhistische Legenden, Werbeslogans, Mangas, Märchen und Rap. Der Transfer aus dem Japanischen ist eine Glanzleistung der Übersetzerin, die ein Ausrufezeichen verdient! Daniela Chmelik
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Hiromi Itō „Dornauszieher“ ( Aus dem Japanischen von Irmela Hijiya-Kirschnereit. Matthes & Seitz, 336 S., 22 Euro )
Die Würde des Menschen ist abschiebbar
Nach Bänden wie „Unentbehrlich“ (2021) und „Alltäglicher Ausnahmezustand“ (2016) veröffentlicht edition assemblage mit „Die Würde des Menschen ist abschiebbar“ ein neues Buch, in dem das Widerstandswissen von Betroffenen institutionalisierter rassistischer Gewalt und ihren Unterstützer*innen zusammengeführt und im Hinblick auf Empowerment und eine solidarische antirassistische Praxis aufgearbeitet wird. Der Band legt dabei den Blick auf das, was hinter den Mauern des Abschiebegewahrsams vor sich geht. Er verbindet Zeug*innenschaften geflüchteter Menschen über den alltäglichen Ausnahmezustand der Abschiebehaft mit historischen, juristischen und soziologischen Analysen der Institution Abschiebung im deutschen Kontext. Auf der Basis eines reichen Materials – u. a. Porträts und Interviews mit Gefangenen, Alltagsforschung in Abschiebegefängnissen, Protestarchive, Presse- und Mediendiskurse, behördliche und juristische Dokumente (Haftanträge, Haftbeschlüsse, Gerichts- und Beschwerdeverfahren) – vermitteln die Autor*innen auf besonders konkrete Weise die Abläufe, durch die eine ganz legale, „reine Verwaltungsvorschrift“ zu einem nekropolitischen Kriminalisierungs- und Repressionsmechanismus wird, der die kolonial-rassistische Seite der modernen Demokratie offenbart. Ein Must-Read für alle, die Einblick in die koloniale „Black Box“ Abschiebehaft erhalten und ihr entgegenwirken wollen. Céline Barry
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Lina Droste & Sebastian Nitschke (Hg.) „Die Würde des Menschen ist abschiebbar“ ( edition assemblage, 288 S., 16 Euro )
Wo die Hunde in drei Sprachen bellen
Die Häuser mit ihren Gesichtern – Fenster als Augen und Türen als Münder – sind voller Ge- fühle und Geschichten, da ist sich Ana sicher. Ihre eigene Geschichte erzählt sie einer*m unbenannten Zuhörer*in – und wir dürfen mit auf diese Reise. Ihre kindliche Welt ist voll von Magie, von merkwürdigen Tanten und Onkeln, von Hörensagen und Spielen mit den Kindern aus ihrer Straße. Sie alle –Kinder und Häuser – leben im Rumänien, irgendwann
nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Ort Braşov, ehemals deutsch unter dem Namen Kronstadt, machen Rumän*innen, Deutsche und Magyar*innen die Bevölkerung aus. So spricht jede*r Bewohner*in auch mindestens drei Sprachen. Neben Rumänisch, Deutsch und Ungarisch ge- sellen sich noch Englisch, Französisch sowie Romani und Sintitikes dazu. Sogar die Hunde bellen in verschiedenen Sprachen. Die Erwachsenen erzählen Ana, man sei so viele Male Mensch, wie man Sprachen spreche. Und wie ein unzähliger Kanon aus Personen, Anekdoten, Erlebnissen verwebt sich die Erzählung zu einem immer dichter werdenden Teppich. Pârvulescu schafft einen kindlichen Kosmos, der abtauchen lässt in mal sorglose, mal traurige Szenerien, die über dreihundert Seiten vergehen wie im Flug. Ein Buch über Kindheit, Herkunft, Identität – und immer wieder die simplen Glücks- momente im Leben. Poetisch und zauberhaft! Michaela Drenovaković
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Ioana Pârvulescu „Wo die Hunde in drei Sprachen bellen“ ( Aus dem Rumänischen von Georg Aescht. Zsolnay, 368 S., 25 Euro )
Erfahrungen eines schönen Mädchens
Was kann ein fünfzig Jahre alter Roman Neues erzählen, wo oft schon vor zwanzig Jahren veröffentlichte Bücher oder Filme schlecht gealtert sind? Alix Kates Shulmans feministischer Klassiker „Erfahrungen eines schönen Mädchens“, in den USA 1972 als „Memoirs Of An Ex-Prom Queen“ erschienen, erzählt vom Leben der jungen Sasha, einer Frau, die sich, aufgewachsen in einem weißen Vorort in Ohio, in den 1940er und 1950er Jahren gegen eine Gesellschaft behaupten muss, deren patriarchale Normen sie zugleich vollkommen internalisiert hat. Sasha hält ihr Aussehen für ihren großen Trumpf, fragt sich bei jeder Bewegung, wie sie wahrgenommen wird – und reflektiert dennoch, was der Ursprung ihrer Vorstellungen ist, den sie bis ins Kindergartenalter zurückverfolgt. Der fünfte Roman von Shulman, Feministin zweiter Welle (und ihren Überzeugungen treu geblieben), ist ein teils wütender, aber auch sehr ironischer und pointierter Roman über gesellschaftliche Zwänge, sexuelle Doppelmoral und das Sich-Behaupten in einer Welt, die den Begriff „sexualisierte Gewalt“ noch nicht kennt. Mit dem Blick von heute ist interessant zu sehen, was sich seitdem verändert hat – und was nicht. Das Buch liest sich flüssig und ist thematisch noch immer aktuell, vor fünfzig Jahren war es revolutionär. Eine tolle Entdeckung! Isabella Caldart
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Alix Kates Shulman „Erfahrungen eines schönen Mädchens“ ( Aus dem Englischen von Sabine Kray. Arche Verlag, 352 S., 22 Euro )
Gib mir mal die Hautfarbe
2018 haben Olaolu Fajembola und Tebogo Nimindé-Dundadengar ihren Onlineshop Tebalou eröffnet, Buchhandlung und Spielwarenladen in einem, mit dem sie seither Vielfalt in unzählige Spielzimmer bringen. „Gib mir mal die Hautfarbe“ ist ihr erstes gemeinsames Buch und eine wichtige (und im deutschsprachigen Raum einzigartige) Ressource für alle, die mit Kindern zu tun haben. Denn: Rassismus ist ein System und kein natürlicher Zustand. Wie aktver Antirassismus im Kontext der Erziehung in der Praxis aussehen kann, lässt viele Menschen allerdings ratlos zurück. Die beiden machen klar, dass eine Auseinandersetzung mit dem Thema unerlässlich ist, laden ein, die eigene Sozialisierung zu reflektieren, und plädieren klar für einen offenen Umgang – dafür ist es nie zu früh. Wer Patentlösungen für den Umgang mit Alltagssituationen, in denen Rassismus oder Diskriminierung passieren, sucht, wird in in diesem Buch nicht fündig – die gibt es schlicht nicht. Doch die Autor*innen ermutigen Leser*innen: Sicherheit, Sensibilität und ein stärkender Umgang für entsprechende Situationen können erlernt werden. Dieses empowernde Buch kann dabei definitiv helfen. Geschrieben haben sie es nicht nur für weiße Eltern und Bezugspersonen weißer Kinder, sondern explizit auch für Schwarze Eltern und Eltern of Color – ein Spagat, ein Anspruch. Ich kann es nur aus meiner weißen Perspektive beurteilen: Wenn man einen Erziehungsrat- geber unbedingt lesen sollte, dann diesen. Carla Heher
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Olaolu Fajembola & Tebogo Nimindé- Dundadengar „Gib mir mal die Hautfarbe. Mit Kindern über Rassismus sprechen“ ( Beltz, 247 S., 17 Euro )
Diese Texte erschienen zuerst in Missy 05/21.