Von Dominique Haensell

Mit dem Begriff „woke“ ist es wie mit einem coolen, familienvererbten Teil, das man einer Freundin ausgeliehen hat und das dann dummerweise ihrem Arschloch-Mitbewohner in die Hände gefallen ist. Wenn man es endlich wiederbekommt, ist es so verschlissen und verdreckt, dass man sich schämen würde, damit noch herumzulaufen. So ähnlich muss sich die Aneignung und Verunglimpfung von „woke“ für afroamerikanische Communitys anfühlen. Dass Schwarze Begriffe in den Mainstream wandern (von cool über funky bis lit) ist nichts Neues. Perfide ist aber vor allem die Art und Weise, wie der Begriff „woke“ nicht nur angeeignet, sondern ir- gendwann auch aggressiv-hämisch gegen die Menschen gewendet wurde, die ihn prägten.

Früher bedeutete woke zu sein oft einfach buchstäblich Wachheit oder auch das Misstrauen gegenüber einer*m vermeintlich untreuen Partner*in. Die Idee des politischen Aufwachens, die „woke“ jedoch ebenfalls zugrunde liegt, ist eng mit Ideen der Black Consciousness verknüpft und findet sich schon 1923 beim Panafrikanisten Marcus Garvey oder in frühen Blues- und Jazz-Stücken. Auch zeitgenössische Musiker*innen wie Georgia Anne Muldrow, Erykah Badu oder Childish Gambino riefen in ihren Songs schon dazu auf, wach zu bleiben.

Deutlich an Fahrt gewann die politische Anwendung des Begriffs 2014 mit der Ermordung von Michael Brown, dem Startschuss der Black-Lives-Matter-Bewegung. Von Black Twitter auf die Straßen und wieder zurück: Schwarze Aktivist*innen warnten mit „stay woke“ nun vor allem vor Polizeigewalt und juristischer Willkür – wie 1938 schon Huddie Ledbetter in seinem Protestsong über den unlauteren Prozess gegen die sogenannten „Scottsboro Boys“.

Aber „wokeness“ beschrieb auch den Prozess der Politisierung selbst. Der Mord an Michael Brown, wie auch der an Trayvon Martin 2012, war für viele junge Afroamerikaner*innen ein Schlüsselereignis. Doch auch viele liberale weiße US- Amerikaner*innen rissen diese brutalen Ereignisse aus dem verfrühten Traum einer postrassistischen Nation. „Wokeness“ traf dabei genau jenes Gefühl der Bewusstwerdung und des Anerkennens von sozialer Ungerechtigkeit.

Als „woke“ 2017 in den offiziellen englischsprachigen Wörterbüchern landete, hatte der Begriff bereits breitere Kreise erreicht. Als Chiffre für auch nur das geringste Interesse an sozialer Gerechtigkeit wird er heute größtenteils abfällig verwendet, insbesondere von rechten Medien und Politiker*innen. Ideologisch steht der Begriff auch hierzulande nun in einer Reihe rechter Kampfbegriffe, gleich neben „Political Correctness“ oder „Gutmensch“. Was von rechts gezielt agitiert wird, stößt auch in der sogenannten „Mitte“ auf fruchtbaren Boden: Politische Ernsthaftigkeit bei jungen Menschen ist vielen bürgerlichen Medien irgendwie peinlich. Innerhalb linker Kreise dagegen lautet eine gängige Kritik, dass Wokeness vor allem performativ sei.

Linguistisch betrachtet, ist „woke“ erstaunlich produktiv. Rechte deutsche Diskurse gaben dem Wort z. B. jüngst ihren typisch antimuslimischen Spin mit der unvergleichlich ätzenden Wortschöpfung „Wokistan“. Bei der US-amerikanischen Abwandlung „woketopians“ – obgleich auch von Rechten verwendet – schwingt immerhin mit, dass woke Menschen Utopist*innen sind, die hellwach von einer besseren Welt träumen. Das lenkt den Fokus zurück auf die gesellschaftlichen Ursachen, die Wachheit nötig machen. Denn egal, welcher Begriff „woke“ in Zukunft ablösen wird: Niemand sollte sich dafür schämen, dass sie*er die Welt nicht einfach so hinnimmt, wie sie ist.

Zuerst erschienen in Missy 05/21