Park Hye Jin
„Before I Die“
( Ninja Tune )

Müde an die Decke starren oder singen und tanzen? Die südkoreanische Electronic-Produzentin Park Hye Jin akzeptiert traurige Tage und gibt ihnen mit dem fröhlich wabernden Downtempo- Song „Let’s Sing Let’s Dance“ eine Umarmung. Gleichzeitig liegt darin der Startschuss für ihr herausragendes Debüt „Before I Die“. Spätestens seit der 2020 erschienenen EP „How Can I“ wird die Sängerin und DJ für ihre kreativen Satzwiederholungen, das Wechseln zwischen koreanischer und englischer Sprache sowie die fließende Genrekulisse gefeiert. Dabei erzeugt die in Los Angeles lebende Künstlerin in jedem Song einen magischen Sog aus Anziehung und Abwehr. Textaussage und Stimmtonlage ste hen meist im Kontrast zueinander. Der Sound wiederum liefert Power oder geheimnisvolle Unaufdringlichkeit. So kommt „Watchu Doin Later“ in cooler Trap-Hülle daher, doch verstecken sich hier verletzliche Sätze, wie „just spent hours to think about what to say to you“. Mit prägenden Mantras schafft die 27-Jährige so einen berau- schenden Mix aus gesungenen Raps zwischen träumerischem Elektro, Retro-Scratch-Sounds und wummerndem House. Ganz beiläufig ste- cken in ihren Songs Ermächtigung („Sex With Me“) für sich und ihre Zuhörer*innen, die kei- ne extreme Bildsprache benötigt, um stark zu klingen. Yuki Schubert

 

 

Anika
„Change“
( Invada )

Als Erbrechen von Emotionen, Ängsten und Empowerment beschreibt Anika ihr jüngstes Album „Change“. Es ist das zweite Mal, dass die deutsch-britische Musikerin die Mauern des klassischen Pop durchbricht. Vor elf Jahren gab sie ihr Debüt mit einer selbst betitelten LP und trieb sich seitdem in der Berliner Bandszene umher. Mit „Change“ nimmt sie den Solo- faden wieder auf und etabliert ihren eindeutigen Stil: Die Beats sind stark, aber redundant. Erst nach hinten raus gibt es Momente der Steigerung, kleine Peaks oder Ausbrüche. Hier und da lockert ein verspieltes Arpeggio die minimalistische Struktur auf. Dennoch scheinen die Songs sich primär auf diese Arrangements zu fokussieren. Der Gesang ist erzählerisch zwischen rhythmischen Melodien und Spoken Word. Dabei setzt sie immer wieder ihre Akzente zwischen die Beats und sorgt für Irritation. Sie baut Spannung auf, treibt ihre Songs vorwärts und spielt mit der Auflösung – oder viel eher mit der Abwesenheit dieser. Mal kommt der große Knall, mal bleibt die harmonische Erlösung gezielt aus. „Change“ ist nicht leichtgängig und trotzdem fesselnd, denn immer wieder werden unsere Ohren – süchtig nach zuckrigem Pop, wie sie sind – von feinsten Hooks angelockt, die Anika dezidiert zwischen die wabernden Rhythmen streut. Rosalie Ernst



caro
„Heartbeats/Heartbreaks“
(PCMusic)

Caro ist das Soloprojekt der Sängerin von Planet 1999 und das frischeste Œuvre aus der Londoner Hyperpop-Wiege PC Music. Anders als der Titel vermuten lässt, geht es auf dem Debütalbum nicht um Liebe, sondern darum, dass Sensibel-Sein in Ordnung ist, heißt es im Pressetext. Immerhin: Wenn das Herz bricht, schlägt es wenigstens. Vielleicht hätte Paulo Coelho es ähnlich ausgedrückt. Inspiriert wurde Caroline Maurins Audio-Dreamworld von ihrer Kindheit an der französischen Riviera. Ver- söhnlich, aber doch melancholisch plätschern die Tracks dahin. „Over U“ besticht auch durch sein für Planet 1999 typisches, an „Born Slippy“ von Underworld erinnerndes Synthie-Riff. 2021 hört man Hyperpop mit Erwartung. Auch E-Girl-Ästhetik hat nur wenige Bezugspunkte abseits der Selbstreferenz, ähnlich verhält es sich mit dem jungen Genre – aber wenn 2021 nicht dekonstruiert und geglitcht wird, was dann? Caro geht den zahmen Weg, angeeckt wird nicht. Die Trap-Beats wirken vor allem auf den Instrumental-Tracks generisch. Deutlich spürbar sind die Einflüsse von Labelkollegin Hannah Diamond, stellenweise erinnern die Synthies an Charli XCXs „How I’m Feeling Now“. „Do you believe in forever?“, fragt Caro – ja, schon. Franziska Schwarz

 


Moor Mother
„Black Encyclopedia Of The Air“
( Anti-Records )

„I can’t breathe.“ George Floyds letzte Worte bündelten im vergangenen Jahr den Schmerz zahlloser Schwarzer Menschen und setzten gleichzeitig die notwendigen Energien frei, um mit der BLM-Bewegung den Lauf der Geschichte zu verändern. Moor Mother alias Camae Ayewa zapft auf ihrem neuen Album „Black Encyclopedia Of The Air“ genau diese Energien an und bettet sie in die lange Tradition Schwarzer Widerstandserzählungen ein. Denn in Ayewas afrofuturistischer „Black Quantum Physics“-Vision ist Zeit nicht linear, Vergangenheit und Zukunft sind nicht getrennt voneinander: Zukünftige Handlungen können die Vergangenheit verändern für ein besseres Jetzt. So verwebt die Künstlerin aus Philadelphia auf nur einer halben (!) Stunde Laufzeit in mal dringlich mahnenden, mal entschleunigt lässigen Soundcollagen zwischen Westcoast- Rap, Dubstep oder Grime sowohl Floyds Echo, das Leid der Folksängerin Vera Hall als auch das namenlose Trauma ihrer versklavten Ahn*innen miteinander. In dem Ausnahmestück „Race Function Limited“ wird die britische Perspektive der neuen, auf Rassismus gebauten Brexit-Wirklichkeit widergespiegelt. Ayewa versucht, gemeinsam mit ihren zahlreichen Features die Erinnerung des Nicht-Erzählten wachzuhalten, um zu verhindern, dass die gewalttätige „history repeats itself“. Und sie entwirft einen Ritt durch Raum und Zeit, der den Hörer*innen – diesmal im positiven Sinne – den Atem raubt. Sonja Ella Matuszczyk

 


Vaovao

„Vaovao“
( Staatsakt )

Es sind Satzfetzen, die durch die Songs von Vaovao fliegen. Kurze Gefühle, die aufkochen, kleine Situationen, die vorüberziehen. „Die Vögel flüstern Koordinaten / Bis dahin sitze ich hier und warte“ heißt es gleich im ersten Song. Rätselhaft sind diese Texte aus seltsamen Assoziationen, mit denen man im ersten Moment noch nichts anfangen kann, die sich dann aber zu einem großen Ganzen zusammenfügen. Vaovao heißt „neu“ auf Madegassisch – und ist als Band- und Albumname hör- und spürbar keine Anlehnung an die Krautrockband mit dem gleichen Namen auf Deutsch, sondern trotz vieler Retro-Anleihen an Achtziger-Synthies, Neunziger-Electro und Nuller-Pop tatsächlich etwas Neues. Hanitra Wagner, die vorher bereits bei Bands wie Die Heiterkeit oder Oracles gespielt hat, betreibt nun mit Vaovao ihr erstes musikalisches Soloprojekt. Während der Corona-Pandemie ist viel davon zu Hause entstanden, bedroom at its best. „Alle Stü- cke sind das Resultat einer Reise, zwischen Wohnzimmer und einer spärlich bewohnten Insel oszillierend“, erklärt Wagner, die auf diesem Trip von ihrem Partner und Produzenten Oliver Bersin begleitet wurde. Doch sind die sieben Songs des Debütalbums, die auch mit einem Streichorchester wunderbar funktionieren, nicht nur der passende Soundtrack für die Isolation, sondern auch zum Rausgehen. Weniger aus sich raus als vielmehr ans Meer. Juliane Streich

 


Peyton

„PSA“
( Stones Throw )

Peyton macht Ansagen ohne viele Worte: Die Songs enthalten wenig Text, dafür aber lang gezogene Noten ihrer hellen Stimme. Der Gesang kommt nicht von ungefähr: Ihre Großmutter war keine andere als Gospelsängerin Theola Booker, die etwa die junge Beyoncé ausbildete. Bereits verstorben, stellt sie eine prägende Figur für Peyton und ihre Musik dar. Zu hören ist das auf dem Track „It’s Been So Long“, in dem sie den Tod einer nahestehenden Person verarbeitet. Begleitet wird Peytons Stimme von knackenden Hintergrundgeräuschen, Rauschen und hallen- den Effekten wie auf einer alten Schallplatte. Die Songs leben von ihrer verträumten und irgendwie bekifften Stimmung: In „Haters“ singt Peyton: „I just wanna roll up / Smoke weed until I throw up“. Tragende Themen sind aber auch das Abbrechen einer engen Freund*innenschaft, der Glaube an die eigene Intuition, Liebe, Hoffnung und Kreativität. Ein buntes Potpourri also, das sich auch im Sound wiederfindet. Auf „PSA“ ist ein facettenreiches Zusammenwirken von Instrumenten und Klängen zu hören, ohne tonangebenden, plakativen roten Faden. Das mutet unbekümmert, leicht und fern von nervösen Beats an. Inspiriert ist sie von Ikonen wie Aaliyah und Erykah Badu. Das hört mensch auch: Peyton gelingt ein souliges Stück, das nach Old School R’n’B mit modernem Twist klingt. Katrin Börsch

 

 


School of Zuversicht „An allem ist zu zweifeln“

( Hanseplatte )

Wie nett: School of Zuversicht senden zum zweiten Album „An allem ist zu zweifeln“ Textbausteine für Autor*innen, die keinen Bock auf die Musik oder die 15.000 Zeichen Pressetext von Radioikone Klaus Walter haben. Doch man ist ja neugierig auf das Werk, das schlappe zehn Jahre nach dem tollen Debüt „Randnotizen From Idiot Town“ erscheint. Und siehe da: Die School-Bohème um die Hamburger Musikerin, DJ, Autorin und Pudelclub-Nomadin DJ Patex, die Künstler*innen wie u. a. Carsten „Erobique“ Meyer, Ruth May und Pantha du Prince versam- melt hat, schüttelt hier die fröhlichst-traurigste Platte zu diesen schweren Zeiten aus den Ärmeln, mit mehr schmaler Elektronik als Gitarre. Hits sind die launige Tanznummer „Im Swimmingpool der Empathie“, in der ein trauriger weißer Mann auf eine verwundete Frau trifft, und das housig-elegante „Hinter dem Hügel“ mit dem T-Shirt-Slogan „Früher war auch nicht alles anders, Erinnerung is just a trick“. Tröstliche Lakonie schenkt die Ballade „Urbanes Molekül“: „Und wenn am Ende ich verschwände als reiner Diamant zu meinem eigenen Vergnügen durch die Risse in der Wand.“ Die Coverversion vom Gassenhauer „We’re Lost In Music“ trägt zum Knarzbass ein dünnes Electro-Kleid, während Lana Del Reys „Video Games“ eher nach trun- kener Karaoke klingt, bei der man sich selbst umarmt, bis es un-Del-Rey-haft „Fuck you!“ heißt. Toll. Barbara Schulz

 


Rosaceae

„DNA“
( Pudel Produkte )

Auf dem Album „DNA“ entwirft Rosaceae eine dokumentarische Klanglandschaft, die Club und experimentelle Musik miteinander verschränkt. Der Albumtitel steht für den Aktivismus, der laut einer gesampelten Nachricht in die DNA der Britin Anna Campbell eingeschrieben war. Campbell war Teil der kurdischen Frauenverteidigungseinheit YPJ und wurde 2018 im Kampf in Rojava von türkischen Streitkräften getötet. Rosaceae verwebt in ihren Tracks Samples von Nachrichten und Interviews, die Fragen nach der Zeug*innenschaft aufwerfen: Die Zeug*innen dienen hier nicht als bloße Wissensquelle, sie sind streitbare politische Figuren. Im Song „They Are So Afraid They Begin To Shake“ ist die syrisch-kurdische YPG-Kämpferin „Diren“ im Hintergrund zu hören, die von einer BBC-Sprecherin übersetzt wird. Ihr Zeugnis wird also nur vermittelt einer Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das Sample wird mehrmals wiederholt, verzerrt sowie ein- und aus- geblendet, mit Beats unterlegt, die tanzbar und aufwühlend sind. Rosaceae schafft daneben Ambientmomente, die dem Album Raum geben, innezuhalten, um Sekunden später einen Blick auf die Kluft zwischen britischen Medien und Zeug*innenberichten zu richten. Zugleich kreiert sie eine zweite Natur: Songs fließen von brausendem künstlichen Wind in Beats, die sich in Gewehrschüsse und Helikopterrotorblättergeräusche verwandeln können. Innerhalb weniger Tracks stellen sich Fragen nach der Wahrnehmung und Bewertung von Nachrichten, Dokumentationen, Zeug*innenschaft und Sounds, die alle ineinandergreifen, aber dennoch für sich stehen. Nadine Schildhauer

 

 


Shitney Beers

„Welcome To Miami“
( Zeitstrafe )

Wo dieses Miami ist, zu dem uns Shitney Beers einlädt, ist unklar – doch es ist sicherlich nicht die allseits bekannte Sonnenscheinstadt in Florida. Und überhaupt tun die Zuhörer*innen gut daran, einen hohen Score in Ambiguitätstoleranz zu haben. Denn es gibt Kontraste zu entdecken und diese gilt es auszuhalten. Der erste Eindruck lässt wahrscheinlich extrovertiertere Musik vermuten, als Maxi Haug aka Shitney Beers abzuliefern beabsichtigt. Mit „Welcome To Miami“ bekommen wir nämlich ein ganz schön zartes Debüt zu hören, das sich dennoch traut, den Lärm des Innersten nach außen zu kehren. In den ausschließlich von Gitarre und Gesang geprägten Songs geht es um Gedanken und Erfahrungen, die die Lebensrealität von FLINT auf so offene Weise ab- bilden, dass es mitunter schwer zu nehmen ist – ja, wie das Leben selbst. Es geht um die zwischen die Finger geklemmten Schlüssel beim Nach- Hause-Laufen wie auch den ganz normalen Wahnsinn, wenn Menschen ihre Herzen an andere verschenken. „Look What Girls Taught Me“, Shitney Beers lehrt uns jedenfalls viel Mitgefühl für das kollektive und individuelle Hadern in dieser Welt. Ganz nach der Empfehlung auf dem Albumcover: Am besten zu genießen mit Taschentüchern und einem auf die eine oder andere Weise wärmenden Getränk in Griffnähe. Nicole Dannheisig

 

Missy Magazine 05/21, Musikrezensionen
Lala Lala

„I Want The Door To Open“
( Sub Pop )

Nach dem eher introvertierten Album „The Lamb“ von 2018 und Kooperationen mit u. a. Porridge Radio und Baths wünschte sich Lillie West aka Lala Lala Veränderung für ihren eigenen Sound. Dementsprechend mutig und stilistisch frei ist die neue Platte der aus Chica- go stammenden Singer-Songwriterin geraten: „I Want The Door To Open“ feiert die Trans- formation, oder konkreter, wie West selbst sagt, die Arbeit, die in scheinbar mühsamen Prozessen steckt. Das klingt schwerwiegender, als es sich anhört, denn Lala Lalas neue Songs sind schlichtweg umwerfender, mitreißender Pop. Die Bandbreite reicht dabei von kunstvollen, mehrfach gelayerten Strukturen, die an Kate Bush und Arcade Fire erinnern, über Power-Gitarren bis hin zu entspannten Surfergirl-Vibes mit R’n’B-Einflüssen wie in „Beautiful Directions“. Lala Lalas neue Version von sich selbst bricht sich im Hit „DIVER“ am eindrucksvollsten Bahn: Inhaltlich inspiriert von einem Roman der Autorin Jennifer Egan öffnet sich der Song zur euphorischen Synthiepop-Hymne, getrieben von Lalas leidenschaftlichen Vocals und Nnamdi Ogbonnayas Drumming. Apropos: Weil Lillie West jetzt so viel Spaß an der Zusammenarbeit mit anderen Leuten hat, sind auf „I Want The Door To Open“ viele befreundete Gastmusiker*innen wie Kara Jackson, OHMME, Adam Schatz und Kaina Castillo dabei, produziert hat Yoni Wolf von WHY?. Lala Lala hat die Türen weit geöffnet. Christina Mohr

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 05/21.