Das Teigtaschen-Dilemma
Kolumnist*in:
Text: Arpana Berndt
Illustration: EL BOUM
Es gibt eine Kindergarten-Erinnerung, die sich mir eingebrannt hat: Ich bin an der Reihe, meine Lieblingsspeise fürs gemeinsame Mittagessen vorzuschlagen. Ich wähle Teigtaschen gefüllt mit Käse. Weil meine Mutter uns Kindern schon früh Kochen beigebracht hat, muss sie das Rezept nicht an die Erzieherin weitergeben. Ich weiß genau, was zu tun ist und leite stolz das gemeinsame Zubereiten an. Dann werden alle Tische im großen Raum zusammengeschoben, Servietten in der Tischmitte drapiert, Teller aufgereiht und eine Kerze angezündet. Das Essen duftet, wie es duften musste. Wir Kinder setzen uns an den Tisch, halten uns an den Händen und singen „Piep, piep, piep“. Und dann gibt es eine Lücke in meiner Erinnerung. Kurze Zeit später hebt mich die Erzieherin vom Stuhl und setzt mich in die Ecke. Sie sagt nichts, ich darf nicht mitessen. Als meine Mutter mich abholt, wird uns eine Papiertüte mit einer Teigtasche in die Hand gedrückt. Wir schweigen, als wir nach Hause laufen. Auch sie kann mir nicht sagen, was ich falsch gemacht habe. Ich schäme mich und fühle mich noch Jahre später schuldig.
Nach dem Teigtaschen-Vorfall wurde ich schüchtern, wich Autoritätspersonen aus, der Erzieherin sowieso. Ich wurde zurückhaltend – vor allem, weil ich Angst hatte, falsch Deutsch zu sprechen, weil die Sprache von Zuhause nicht dieselbe war, die alle anderen sprachen. Sagte man das so, oder sagten das nur wir so? Verhielt man sich so, oder verhielten nur wir uns so? Ich lernte, dass wir Zuhause anders lebten als die Außenwelt es tat.
Erst in der Oberstufe, dann in der Universität politisierte ich mich gemeinsam mit anderen nicht-weißen Menschen. Wir beschäftigten uns mit Ungleichbehandlung, Machtverhältnissen und Gewaltdynamiken. Wir entwickelten ein (vielleicht zunächst zu starres) Verständnis von richtig oder falsch, gerecht und ungerecht. Schnell verurteilten wir diejenigen, die existierende Diskriminierungen ignorierten, weil wir es ja besser wussten, aber auch, um uns zu schützen. Wir erkannten, welche diskriminierenden Dinge wir selbst mal gedacht, gesagt und getan hatten, nicht selten gegen uns selbst gerichtet. Wir schämten uns, fühlten uns schuldig. Wir schafften uns die Räume, um dazu zu lernen, wurden nachsichtiger mit uns und anderen.
Wir lernen als Kinder, dass bestimmtes Verhalten bestraft wird – und oft lässt die Bestrafung keinen Raum für Veränderung, sondern nur für Scham und Schuld – so wie es am Teigtaschen-Tag der Fall war. Natürlich ist es wichtig zu verstehen, dass Handlungen Konsequenzen haben, aber Bestrafung nicht unbedingt zu einer besseren, gerechten Gesellschaft führt. Mir stellen sich Fragen zu dem Umgang mit Bestrafung in unserer Gesellschaft, wenn ich sehe wie die Journalistin Nemi El-Hassan und die Bundesprecherin der Grünen Jugend, Sarah Lee-Heinrich, durch rechte Hetzkampagnen gefährdet werden. Wenn ich sehe, dass Journalist*innen, Künstler*innen und Politiker*innen auf diese Kampagnen aufspringen, und dass sich auch Menschen an den beiden nicht-weißen Einzelpersonen abarbeiten, die sich eher links positionieren würden (Anstatt z.B. den Schulstoff in unserem Bildungssystem mit in Verantwortung zu nehmen, der Antisemitismus und Rassismus als Themen aus ausschließlich der Vergangenheit verhandeln). Machen deshalb da so viele mit, weil sie glauben, dass die beiden Bestrafungen verdient hätten? Ein System aber, das Bestrafung als Mittel gegen Diskriminierung versteht, ist ein System, das Diskriminierung verstärkt. Denn marginalisierte Menschen werden von Bestrafungen härter getroffen, insbesondere Schwarze Menschen und Personen of Color, an die bereits als Kinder Maßstäbe von Erwachsenen gesetzt werden. Wem wird Raum geboten aus Fehlern zu lernen und sich zu entwickeln? Und wer wird Scham, Schuld und Bestrafung ausgesetzt ohne Ausweg? Und wo wollen wir damit eigentlich hin?