Interview: Hengameh Yaghoobifarah

In deiner Einleitung benennst du die Macht über kollektive Geschichtsschreibung durch Archive. Das Wort ,,Archiv“ komm vom altgriechischen ρχεῖον („arkheion“), wie du mit Verweis auf Jacques Derrida ausführst, übersetzt heißt es „das Haus des Herrschenden“. Im Original hast du den Titel „In The Dream House“ gewählt, auf Deutsch ist es „Das Archiv der Träume“. Durch die Wortverwandtschaft funktioniert beides. Warum hast du dich für das Haus entschieden?
Anfangs hieß das Memoir einfach „House In Indiana“, ein großer Teil der Geschichte spielt in dem US-Bundesstaat. Ich mochte diesen Arbeitstitel nicht, „House In Indiana“ hatte nichts Universelles an sich, es war zu spezifisch …
Es klingt nach True Crime.
Genau. Ich hatte Angst, dass am Ende alle mit mir über Indiana reden wollen. (lacht) Das interessiert mich doch gar nicht! Häuser und Zuhause als Metaphern haben mich hingegenviel mehr beschäftigt, in ihnen verbirgt sich das Häusliche. Dann dachte ich an das Traumhaus und seine Mehrdeutigkeit. Es ist so abstrakt wie präzise und an keinen Ort gebunden, es kann ein Haus der Träume sein oder ein Haus, das mich in den Träumen heimsucht.

„Das Archiv der Träume“ passt gut für ein experimentelles Memoir, der Titel transportiert eine Multidimensionalität. Er birgt etwas Episches und zugleich Kryptisches; es lässt sich unterschiedlich auslegen. Ähnlich steht es um das Thema häusliche Gewalt. Besonders psychologische Gewalt wird oft verharmlost oder zu einem Akt der Liebe verklärt. Das hält die Betroffenen in Vagheit und Einsamkeit gefangen. Wie viel Gesprächsbedarf es um Gewalt in queeren Beziehungen gibt, hat dein Buch verdeutlicht. Es ist sowohl inhaltlich als auch handwerklich stark. Bei queeren oder rassifizierten Autor*innen fällt Letzteres – also die literarische Analyse des Werks – häufig unter den Tisch. Hast du das Gefühl, in der Rezeption wurde beides gleichermaßen berücksichtigt?
Leider ist es auch in den USA so, dass die literarische Auseinandersetzung mit sozialen Themen dazu führt, dass ein Buch eher thematisch besprochen wird. Wenn du über Rassismus, Sexismus oder Queerfeindlichkeit schreibst, sollst du auf einmal das strukturelle Problem lösen. Mich interessiert es mehr, über die literarischen Aspekte meines Buches zu sprechen. Ich möchte nicht die ganze Zeit dasitzen und über das Schlimmste, was mir je passiert ist, reden müssen. Leider habe ich mich durch das Schreiben eines Memoirs aber in diese Situation gebracht. Es ist schwierig und schmerzhaft. Sobald die internationalen Pressegespräche durch sind, will ich nie wieder über dieses Buch sprechen müssen. An das erste Interview zum Buch ging ich sehr naiv heran, sodass es mich kalt erwischte, als ich gebeten wurde, ein bisschen über meine Gewaltbeziehung zu plaudern, und ich in Tränen ausgebrochen bin. Ich finde es viel spannender, über die Form, das Schreiben über Trauma oder das Genre zu sprechen.

Ich auch. Als ich das Memoir las, war ich überwältigt. Klar, das Thema ist intensiv und ich kann mich mit der Erzählerin gut identifizieren, aber noch beeindruckender als deinen Mut, über Gewalt in lesbischen Beziehungen zu sprechen, fand ich die Art, wie du es getan hast. Du experimentierst mit unterschiedlichen populären Genres. Jedes der fragmentarischen Kapitel hat eine eigene Stimmung, was die Wechselhaftigkeit solcher Beziehungsdynamiken deutlich transportiert. Ich meine damit nicht nur die „guten“ und „schlechten“ Tage zwischen Täter*innen und Überlebenden, sondern auch, dass jeder Akt der Gewalt einzigartig in seiner Dimension betrachtet werden kann. Gleichzeitig bilden die einzelnen Taten ein größeres Mosaik, sie machen ein ganzes, miteinander zusammenhängendes System auf. Deine Erzählform ist sehr offen, fast essayistisch. Kannst du den Prozess zur Strukturfindung und Konzeptualisierung nachzeichnen?
Ich habe mehrere Jahre lang versucht, über diese Beziehung zu schreiben, es fiel mir schwer und ich scheiterte immer wieder, weil ich einerseits emotional noch nicht bereit dafür war, andererseits noch nicht die richtige Form gefunden hatte. Es war zunächst eine Ansammlung von Szenen und Erinnerungen, ich fand das Material selbst langweilig. Mit Fiktion geht es mir häufig so, dass ich ein wenig Zeit brauche, bis das Erzählkonzept sitzt. Mir fehlt lange die Vorstellungskraft, bis die passende Idee kommt und es klickt. In dem Moment entfaltet sich alles – bzw. beginnt die Schreibarbeit dann erst richtig.

Eine Person mit Brille und kurzen dunklen Haaren sitzt in Schwarz gekleidet an einem Tisch und lehnt den rechten Arm über eine Armlehne - Missy Magazine - Machado Carmen Machado
© Art Streiber / AUGUST

Du schreibst darüber, wie wenig Material über das Thema existiert. In vieler Hinsicht leistest du mit dem Buch Pionierinnenarbeit, es gibt nichts Vergleichbares in der Literatur dazu. Das Gute daran: Du läufst nicht Gefahr, irgendwo abzuschreiben. Das Schlechte: Du hast keine Vergleiche und musst selbst den Kompass setzen. Hattest du trotzdem Vorbilder?
Teil der Herausforderung im Schreibprozess war die Tatsache, dass ich nichts Ähnliches kannte, an dem ich mich orientieren konnte. Die wenigen Essays und Gedichte, die ich finden konnte, kommen auch als Referenzpunkte im Buch vor. Ansonsten war ich auf mich allein gestellt, was gleichermaßen beängstigend und befreiend war. Maggie Nelsons „Die Argonauten“ war aber ein gutes Beispiel für die Verflechtung von politischer Theorie und Autobiografie. „Things We Didn’t Talk About When I Was A Girl“ von Jeannie Vanasco erschien fast zeitgleich zu meinem Buch und ist ebenfalls ein experimentelles Memoir. Vanasco interviewt darin ihren Vergewaltiger.

Ist es für schwerwiegende Themen wie Traumata notwendig, von konventionellen Erzählweisen abzuweichen, um einem voyeuristischen Blick zu entkommen?
Ja und nein. Die Gefahr, Voyeurismus zu bedienen, ist eine der großen Hürden, die sich beim Erschaffen von Kunst über Trauma stellt. Als ich meine erste Kurzgeschichte über sexualisierte Gewalt geschrieben habe, stellte ich mir die Frage, wie ich eine neue Erzählweise entwickeln kann, und probierte mich mit Genre-Weirdness aus. Der Bruch mit Lesegewohnheiten ist ein mögliches Mittel für mich. Nicht jedes Buch über Gewalt muss experimentell sein, aber es braucht neue Arten, diese Geschichten zu erzählen.

Wie war es für dich, das Memoir in dem Wissen zu schreiben, dass deine Geschichte ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung ein Referenzpunkt zum Thema häusliche Gewalt unter Queers werden wird? Schrecklich! Es hat mich gestresst, ich war besorgt und es kamen ständig Selbstzweifel auf. Es war so schlimm, dass ich mir unsicher bin, ob ich das Projekt durchziehen würde, wenn ich noch mal zurückgehen müsste. Der Druck war immens. Ich kann schließlich nur meine eigene Geschichte erzählen und nicht für alle sprechen.

Wie war dein Umgang mit der Frage um Persönlichkeitsrechte?
Die Rechtslage ist sehr länderspezifisch, da mussten wir uns auf jeden Fall absichern, viel interessanter finde ich die Frage nach Ethik. Ich muss an ein Zitat der Autorin Anne Lamott denken: Wenn Leute gewollt hätten, dass du netter über sie schreibst, hätten sie sich besser verhalten sollen. (lacht) Wenn mir etwas Schlimmes passiert, lasse ich mir nicht vorschreiben, ich dürfte nicht darüber sprechen. Ich finde es beunruhigend, zum Schweigen aufgefordert zu werden.

Dein Memoir entspricht in vieler Hinsicht meiner Definition von queerer Literatur: Du findest eine Sprache für etwas, worüber kaum gesprochen wird, du sprengst Genres, du leistest Archivarbeit und bringst die nötige Weirdness ein, um das Buch unlabelbar zu machen. Was bedeutet queere Literatur für dich?
Ich sehe es ähnlich. Es braucht eine Subversion von Form oder Genre, die man nicht erwartet. Es ist die Suche nach einer Wahrheit außerhalb konventioneller Räume und Methoden. Das Zusammenbringen von kleinen Teilen, die ein Ganzes ergeben. Das Queere darf nicht im Betreff hängen bleiben, es sollte sich auf die gesamte Narration übertragen.

Carmen Maria Machado„Das Archiv der Träume“Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll, Tropen Verlag, 336 S., 22 Euro

Dieser Text erschien zuerst in Missy 06/21.