Missy Magazine, Musikrezis 06/21,Girlwoman

Girlwoman
„Das Große Ganze“
( Staatsakt )

Am besten hört manndieses Album nachts. Wenn man in den Club geht, wenn man aus dem Club kommt, ein bisschen orientierungslos, ein bisschen glücklich, ein bisschen einsam. Denn genau diese Stimmung schafft Girlwoman auf ihrem Debütalbum „Das Große Ganze“. Melancholischen Rave hat das mal jemand genannt. Und das passt. Man möchte tanzen zu ihren Songs, aber ein bisschen traurig bleibt man doch. Girlwoman, die aus Bielefeld kommt, klingt nach Großstadt. Haut schmeckt bei ihr wie Zement und zum Einschlafen braucht man ne Pille. Aufgenommen hat sie das Ganze, nein, das große Ganze zu Hause mit Produzent Rasmus Exner, abgemischt hat es die französische Grammy- Preisträgerin Veronica Ferraro, sodass es perfekt klingt. Herausragend dabei Girlwomans Stimme, die es auf wunderbare Weise schafft, gleichzeitig emotionslos und aufgewühlt zu klingen. Dazu taumeln die Sounds, die sie aus Synthies und Drumcomputer und auch mal Streichinstrumenten oder Pianos herausholt, wie ein stranger Power Ranger irgendwo zwischen Elektronika, trippigem Pop und Soul aus der Zukunft. Entstanden sind so glitzernde Momentaufnahmen aus dem Leben, in dem morgen alles anders sein kann. Oder heute Nacht. Juliane Streich

 

Grouper
„Shade“
( Kranky )

Eines mal vorweg: Dieses Album ist ein Kopfhöreralbum. Unerträglich ist der Gedanke, dass man diese feinen und vorsichtigen Songs mit Nebengeräuschen wie der vorbeifahrenden Straßenbahn oder der kreischenden Nachbarskatze teilen muss. Liz Harris’ Musik ist immer am ruhigen Ende der Skala. Als Ambient, als Experimental, als Folk wird sie eingeordnet und das ist alles
richtig. Aber eigentlich braucht diese Frau eine eigene Schublade. Das
ist Grouper und auf Grouper gestoßen zu werden, ist ein Geschenk. Schon seit 2005 macht Harris Musik unter diesem Namen und ungefähr über diesen Zeitraum hinweg haben sich die neun Songs angesammelt, die sie nun auf „Shade“ veröffentlicht. Sie nennt die Platte trotzdem nicht Compilation, sondern Album – es ist das inzwischen zwölfte, das sie wieder in Eigenregie geschrieben, arrangiert uneingespielt hat. Die gebürtige Kalifornierin ist nun in Oregon ansässig und diese Bewegung vollzieht das Album nach. Verbindendes Element der Songs ist die pazifische Küstenlinie. Von der Bay Area hoch nach Pacific-Northwest, von Mount Tamalpais bis Astoria hat Harris aufgenommen, nicht nur Stimme und Musik, sondern in Field Recordings eben auch das Meer und, wenn man ganz genau hinhört, den für die Region durchaus typischen Regen. Sanft, sanfter, Grouper – wow! Anna Seidel

 

Missy Magazine, Musikrezis 06/21, Hands Habits Fun House
Hand Habits
„Fun House“
(SubPop)

Für Meg Duffy war die Pandemie der Katalysator, der einmal alles aufwirbelte. Persönliche Abgründe und Kindheitstraumata zeigten sich. Als queere, nicht-binäre Person musste Duffy außerdem Kategorien und Grenzen neu ausloten. Dank Therapie und Musikschreiben als Hand Habits kam Duffy sich selbst wieder näher. Trotz des aufgewühlten Ortes, an dem sich Duffy beim Schreiben der Songs befand, ist das nunmehr dritte Album der Hand Habits eines der einheitlichsten Stücke Musik, das von ihnen je veröffentlicht wurde. „Fun House“ besteht aus frischen, betörenden Songs, aus herrlich unverkennbaren Popnummern, die immer ein kleines bisschen entrückt wirken. Dafür sorgt u. a. die Tatsache, dass Duffy mit harmonisch eingängigen Beach-Boys-Sounds und leicht bekömmlichen Songstrukturen von Herzschmerz, Missbrauch, Alkoholismus und dergleichen singt – ein Bruch, der den Songs seine Besonderheit verleiht. In kleinen Fragmenten klingt Duffy wie die Musiker*innen, für die Duffy sonst im Studio oder auf der Bühne an der Gitarre wirkt – Kevin Morby, Weyes Blood und Perfume Genius lassen grüßen. Letzterer ist auf ein paar Stücken sogar selbst zu hören. Seelenreinigung für Duffy und das grandiose Hand-Habits-Album für uns: Ende gut, alles gut! Silvia Silko

 

Missy Magazine, Musikrezis 06/21,Heart Ego
Sassy 009
„Heart Ego“
( Luft Recordings )

Hochtrabender Scandi-Pop, weite, schillernde Klangräume, blecherne Drops und eine Prise Techno: Das ist „Heart Ego“ von Sassy 009. Das Mixtape soll die Gedankenstruktur der Musikerin widerspiegeln. Und tatsächlich erscheinen die acht Tracks wie eine Reise ins Innere: Mit „Forever Seventeen“ taucht man von klaren Klängen immer tiefer in die elektronischen Gebilde der norwegischen Musikerin ein. Ihr ferner, verruchter Sound besteht aus pulsierenden Ebenen, die intim und anziehend wirken. Das Mixtape klingt, als wäre man unter Wasser.  Nur vereinzelt brechen Momente aus der breiten Spurencollage heraus. Echo, Hall und Reverb hat Sassy 009 bei der Produktion auf ein Maximum gedreht und ist mit Rap, Blues- und Popmelodien immer in ihr Innerstes abgetaucht. Der Klang ist stringent und dennoch nicht eintönig. Nach mehreren Songs, die vor allem vom Beat dominiert werden, erscheint „Red Plum“ fast wie eine Radiosingle im besten Sinne. Doch in der letzten finalen Steigerung rückt der Song wieder in die Ferne und verschließt sich zaghaft. Bevor man allerdings dem catchy Refrain nachtrauern kann, beginnt schon der nächste wabernde Titel. Sassy 009 lädt mit „Heart Ego“ zu einer Führung durch ihren Kopf, ein Exponat facettenreicher als das nächste. Schweres Identifikationspotenzial ist dabei quasi garantiert. Rosalie Ernst

 


Courtney Barnett
„Things Take Time, Take Time“
( Marathon Artists )

Auf ihrer aktuellen Platte schlägt Courtney Barnett, Königin des Slacker-Indierock, ruhigere Töne an als je zuvor. Abschiednehmen, Alleinsein, von Tag zu Tag leben, das sind die Themen auf „Things Take Time, Take Time“. Dagegen war der Vorgänger „Tell Me How You Really Feel“ (2018) deutlich auf Krawall gebürstet: Mit verzerrten Gitarren kämpfte die australische Singer-Songwriterin gegen Sexismus und den Zeitgeist der Trump- Ära. Dann kam Corona; statt Menschenmengen und Alltagsstress waren für viele auf einmal Langeweile und Existenzangst an der Tagesordnung. Im Opener „Rae Street“ schaut Barnett aus dem Fenster ihren Mitmenschen zu, denkt an die, die es schlechter haben, und ersehnt sich Veränderung. Der kollektive Lockdown- Blues schwingt auf „Things“ ebenso mit wie die Scheidung Barnetts von ihrer Ehefrau und musikalischen Partnerin Jen Cloher. Es geht ums Briefeschreiben und Nicht-Abschicken, um den Wunsch nach Nähe und mehr Nachsicht mit anderen und sich selbst („Before You Gotta Go“). All das Schwere präsentiert Barnett in ihrer charakteristisch trockenen Art, mit luftigem Sound und Melodien, die nie hoffnungslos klingen, sondern nach neu entdeckter innerer Ruhe und manchmal sogar etwas Glück. Eva Szulkowski

 

Missy Magazine, Musikrezis 06/21,Circuit des yeux
Circuit des Yeux
„-io“
( Matador )

Haley Fohr setzt das Ende an den Anfang und eröffnet ihr sechstes Album „-io“ mit einer Reihe von Abschieden: „goodbye“ gewohnte Wirklichkeit, „goodbye“ irreversibel zerstörte Natur. Der Point of no Return ist erreicht. Doch statt in apokalyptischer Stimmung zu versauern, transformiert die Künstlerin aus Chicago als Circuit des Yeux ihre Depression in Klänge, die selbst einer Naturgewalt gleichkommen. Es dauert auch nur ca. eine Minute, ehe auf dem Stück „Vanishing“ der Staudamm bricht und die Kraft eines 23-köpfigen Orchesters über uns hinwegdonnert. Sandig knirschende Snares werden von epischen Streichern umflutet, bedrohliche Basslines pendeln im Hintergrund. Über allem thront Fohrs unverwechselbares Stimmeninferno. Diese Verausgabung wirkt auf Dauer ein wenig erschöpfend, somit rät Fohr persönlich nach der Hälfte zu einer Pause. „-io“ kommt nämlich mit einem „Listening Guide“: Man soll das Album allein bei Kerzenschein hören, alternativ bei einem sehr langen Spaziergang. So funktioniert das Album am besten. Wenn man spürt, wie Fohrs Selbstermächtigung sich durch das eigene Rückgrat drückt und die Füße so hart in den Beton, als könnte man ihn zermalmen. Und man an eine simple Weisheit erinnert wird: Das Ende muss akzeptiert werden, um neu beginnen zu können. Sonja Ella Matuszczyk

 

Missy Magazine, Musikrezis 06/21, Laura lee & The Jettes, Wasteland
Laura Lee and The Jettes
„Wasteland“
( Duchess Box Records ), VÖ: 26.11.

Wenn zwei sich streiten, freut sich die kreative Ader. Zumindest scheint das bei Laura Lee der Fall zu sein, die nach acht Jahren im Lieblings-Indie-Duo Gurr komplett neu anfängt. Für ihr Solodebüt „Wasteland“ stapft sie gemeinsam mit ihrer Backing-Band The Jettes in eine Landschaft gepflastert von der Leichtigkeit des Nullerjahre-Indie und dem kantigen Alternative-Rock der Neunziger. Obwohl die Platte eigentlich ein Herbstalbum sein müsste, klingen die perlenden Riffs von „Perry“ nach unbekümmerter Party auf dem Zeltplatz und die friedlichen Gesangsharmonien von „Daylight“ nach einer warmen Meeresbrise. Diese Unbeschwertheit reichern Lee und Mitstreiter*innen auf dem von Max Rieger (Die Nerven) produzierten Album mit pointierten Instrumentalwänden an. Dabei umschließen sich mal Interpol-Gitarren mit Krautrock-Gestus („Absolut“), mal werden die weiten Sphären von Wolf Alice erkundet („Adelaide“). Über all dem schwingt die unverkennbare Melange aus Energie und Melancholie, die schon Gurr so faszinierend machten. Die Emanzipation von der Band ist Lee dennoch mit jeder Faser gelungen. „Wasteland“ strahlt entgegen seinem Titel als pastellfarbenes Kaleidoskop – und hat mit „Craigslist Boy“ sogar einen echten Hit auf Lager. Julia Köhler

 

Missy Magazine, Musikrezis 06/21,Ookii Gekkou
Vanishing Twin
„Ookii Gekkou“
( Fire )

Die Musik des Londoner Quartetts Vanishing Twin trägt stets den Moment in sich, wenn man vom Wachsein in den Traum gleitet. Das Spiel zwischen Unbewusstem und Bewusstem liegt in der Genese der Band mit Sängerin und Multiinstrumentalistin Cathy Lucas, Schlagzeugerin Valentina Magaletti, Bassist Susumu Mukai und Gitarrist/Synthesizer Phil MFU. Denn Lucas’ pränatales Erlebnis, ihre Zwillingsschwester zu verlieren, hat die Sängerin immer wieder in Überlegungen gestürzt, ob und wie dieser Zwilling ihr Sein prägt. Vanishing Twin, die psychedelische Musik aus unterschiedlichen Ländern vereinen, erschufen auf ihrem Vorgänger „The Age Of Immunology“ eine bittersüße Popreise zwischen Nostalgie, Alltagsrealität und Avantgarde. „Ookii Gekkou“ (Japanisch für großes Mondlicht) greift auf neun Songs diese Nuancen wieder auf, doch galaktische Klänge überwiegen und ein Hauch von Mysterium und Bedrohung liegt über der Platte. Beides trifft im Afrobeat-geladenen Track „Phase One Million“ aufeinander: Während Lucas in ihrer warmen Stimmfarbe von „so much here to see“ zu „nothing here to see“ wechselt, ertönen Laser, groovige Synthies, chilliger Bass und Percussions. Absolut unwiderstehlich sind der Mix aus Western und Tausendundeine-Nacht-Sound von „In Cucina“ und die elektronischen Stromschläge aus „Tub Erupt“. Yuki Schubert

 

Missy Magazine, Musikrezis 06/21,Maya Jane Coles
Maya Jane Coles
„Night Creature“
( I/AM/ME / BMG )

Eigentlich müsste Maya Jane Coles’ neues Album „Night Creatures“ mit einem Mehrzahl-S heißen, so viele internationale Gäste hat die britisch-japanische DJ und Produzentin diesmal an Bord: die australische Multiinstrumentalistin
Julia Stone z. B., Lie Ning und Karin Park, besonders präsent ist die Londoner Musikerin Claudia Kane, die mit Maya an den Singles „Run To You“, „True Love To The Grave“ sowie „Come With Me“ gearbeitet hat. Zu diesen Songs wurden außerdem spektakuläre Videos gedreht. In „Run To You“ spielt Skin von Skunk Anansie mit, die wie „Kill Bill in Gothic“ (so die Presseinfo) daherkommt. Musikalisch spielt Maya Jane Coles ohnehin gern auf der düsteren Seite, die sie auch mit ihrem Nebenprojekt Nocturnal Sunshine auskostet. Auf „Night Creature“ (Einzahl!), ihrer dritten Full-Length-Platte als Maya Jane Coles fächert sie ihr ganzes Spektrum auf. Vom bouncenden Opener zum treibenden Tech-Dancefloor-Filler „Need“ über das melancholische „N31“ bis hin zum kontemplativen „Ending“ tragen alle 16 Tracks Coles’ typische Handschrift: elastische Deep-House-Beats, mit viel Hall und mysteriösen Geräuschen unterfüttert und von ihren Gastsängerinnen in immer wieder andere emotionale Sphären versetzt. Mayas Club befindet sich definitiv im Untergrund, wo es düster und ein bisschen unheimlich ist – Zutritt haben alle Nachtgeschöpfe, die sich auf ihre queere Gothic-Film-Noir-Show einlassen. Christina Mohr

 

Missy Magazine, Musikrezis 06/21,julia shapiro zorked
Julia Shapiro
„Zorked“
( Suizide Squeeze )

Bei jedem Album gibt es eine Entstehungsgeschichte, die mal mehr, mal weniger ins Gewicht fällt. Julia Shapiro, Musikerin bei Chastity Belt und Childbirth, kam durch sehr besondere Umstände zu ihrem neuen Soloalbum „Zorked“. Corona war der bestimmende Motor. Dabei ist es nicht das typische „Ich-saß-viel-zu-Hause-wegen-Lockdown-und- wurde-kreativ“-Album, nein, Shapiro erfuhr im Frühjahr 2020 nahezu absolute Isolation. Im März machte sie sich aus ihrer Heimat Seattle auf für einen Trip nach Los Angeles. Ein bisschen Sonne tanken, die endlosen Möglichkeiten des urbanen Hotspots genießen – so der Plan. Sie landete im Lock- down, konnte nicht zurück und saß fest ohne Freund*innen. Das Zimmer, das sie gemietet hatte, stellte sich als ihre kreative Zelle heraus, mit ihrer Mitbewohnerin produzierte sie ein Album, das diese traurig- trostlose Zeit der Kapitulation in Musik überträgt. „Zorked“ liefert schleppenden Shoegaze- Sound mit Gitarren-Layers und fatalistischen Texten. So singt sie in „Come With Me“ lapidar „take me to awful places“. Diese schrecklichen Orte in der Einsamkeit LAs hat sie hinter sich gelassen, zurück bleibt ein düsteres Album mit Tiefgang und Humor. Denn der Titel „Zorked“, der ihre Zeit in LA zusammenfasst, meint den Zustand nach Alkohol- oder Drogenkonsum, irgendwas zwischen Kater und völligem Neben- sich-Stehen. Michaela Drenovaković

 

Missy Magazine, Musikrezis 06/21,Mira Calix
Mira Calix
„absent origin“
( Warp Records )


Ratsch! Das klangvolle Zerreißen alter Fotos oder Magazine und das Zusammenkleben dieser Schnipsel zu etwas Neuem kann ein unglaublich befreiender Akt sein. Dadaistinnen wie Hannah Höch oder die zeitgenössische Künstlerin Wangechi Mutu sahen und sehen in der Collage deswegen ihr radikal politisches Potenzial: Der Zweck der Kunst, so Höch, liege in seiner gesellschaftsverändernden Macht. Die Produzentin Mira Calix folgt dem Ethos ihrer Heldinnen mit dem digitalen Skalpell in der Hand, zerlegt ihr eigenes, über zwanzig Jahre umspannendes, stark kollaboratives Werk in seine klanglichen Einzelteile und schichtet neu. Die Cut- up-Lust macht vor Calix’ eigenem Körper nicht halt: Die Südafrikanerin löst sich in Schnalzen, Schmatzen und Atmen auf, verschmilzt Beat um Beat mit einer Art Sample-Archiv feministischen Widerstands. Hier spuckt HipHop-Pionierin Roxanne Shanté einige Zeilen auf den Boden, über den dort wenig später das Skandieren polnischer oder chilenischer Protestmärsche rollt. Als Leinwand dienen orchestrale Kompositionen oder Chöre, wie auf dem schwerelosen „doggerland (between the acts)“. Hin und wieder opfert Calix die Zugänglichkeit ihrem konzeptuellen Überbau. In erster Linie ist „absent origin“ ein überraschend tanzbares, vor Ideen überbordendes Werk, in dessen mal wütende, mal optimistische Kollektivität man kopfüber hineinspringen möchte. Sonja Ella Matuszczyk

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 06/21.