TEXT: Marie Minkov
ILLUSTRATION: El Boum
Ja, die Winterdepression kickt und die Angst vor den steigenden Infektionszahlen auch, aber ich habe keine Lust, darüber zu schreiben. Ich höre zu dieser Zeit wieder viel Emo, das hilft mir, meine negative Stimmung zu romantisieren. Zu Hause bleiben kann ja auch irgendwie cozy sein, und als Mensch, der mit Behinderung aufgewachsen ist, bin ich die Isolation gewöhnt. Ich sollte mittlerweile gut darin sein, die Tage nur mit mir selbst zu verbringen.

Früher hatte ich immer das Gefühl, am Rand zu stehen und mit müden Augen dem Alltag der anderen zuzusehen. Die Dinge vermeiden, weil mein behinderter Körper für sie nicht vorgesehen ist. Früh schlafen gehen, während andere feiern. Zocken, während andere in den Urlaub fahren. Die fünfte Staffel „Buffy“ anfangen, während andere ihren ersten Kuss erleben. Ich war immer dort, wo sich die Dinge nicht abspielen.

Jetzt frage ich mich, wer mir das beigebracht hat. Dass das Leben, das meine nicht behinderten Klassenkamerad*innen leben, für mich nicht vorgesehen ist. Es stand nicht einmal zur Debatte. Klar war: Ich werde mich nicht nach der Schule zum Hausaufgabenmachen treffen. Ich werde auf keine Party gehen. Ich werde niemanden küssen, keine Träume verfolgen, nicht arbeiten, keinen eigenen Haushalt führen, nicht heiraten, keine Kinder kriegen.


Von außen betrachtet steht mir meine Behinderung bei keinem dieser Dinge im Weg. Sie hindert mich nicht daran, mich zu verlieben, ein Auslandssemester zu machen, Drogen zu nehmen oder sonst irgendetwas von den Dingen zu tun, die die Leute in den Filmen machen. (Außer vielleicht wandern, aber ich schaue selten Filme, in denen Menschen wandern.) Mir fallen nicht viele Sachen ein, die ich gerne machen würde, aber körperlich nicht machen kann, und das ist ein großes Privileg. Und auch wenn der für die meisten weiblich sozialisierten Menschen vorgesehene Weg (Kinder kriegen, Heirat etc.) mich mittlerweile sowieso nicht mehr reizt, hätte mich rein körperlich betrachtet nichts davon abgehalten. Nie hat mich jemand zur Seite genommen und gesagt: Das kannst du nicht. Aber das brauchte auch niemand.

Wir lernen unsere Rollen in der Gesellschaft, ohne dass man sie uns erklären muss. Ich lernte sie mit jedem Coming-of-Age-Film, den ich schaute. Ich lernte, wie Leute aussehen, die im Mittelpunkt der Gesellschaft stehen, und wie Leute aussehen, die das nicht tun. Ich wies mich selbst in die Schranken, niemand musste das für mich übernehmen.

Und sollte ich es mal vergessen, gab es genug Gelegenheiten, die mich daran erinnerten. Manchmal reicht es schon, wenn ein Gebäude nicht barrierefrei ist. Wenn der Lehrer einen auf der Klassenfahrt auf die Schultern nehmen muss. Wenn die fünfte Person am Tag fragt, was ich mit meinen Beinen gemacht habe. Oder der Typ im Club meint, „voll mutig, dass du trotzdem hier tanzt“, sei ein guter Anmachspruch.

An guten Tagen bin ich wütend und lästere mit meinen Freund*innen über solche Begegnungen. An schlechten Tagen sind diese kleinen Momente eine Bestätigung, die mich zurück in meine Schranken weist und mich erinnert: Du solltest hier nicht so unbeschwert herumlaufen, weil diese Welt für dich nicht gemacht ist.

Heutzutage tausche ich mich so oft wie möglich mit anderen behinderten Menschen aus und es zeigt sich dabei immer wieder ein Muster. Wir lernen von unserer Umgebung, dass wir Dinge nicht können, selbst wenn wir sie können oder sie noch nie ausprobiert haben. Wir lernen es von unseren Eltern oder von dem Mann, der uns unaufgefordert an der Haltestelle unter den Arm greift, weil er denkt, wir könnten nicht allein aufstehen.
Was uns von vornherein nicht zugetraut wird, probieren wir oft gar nicht erst aus. Viele von uns haben Eltern, die sich um uns mehr sorgen als um unsere Geschwister, weil wir die Zerbrechlichen der Familie sind, überbehütet, um jeden Preis zu schützen. Die Angst, die sie uns beibringen und die wir übernehmen. Meine Mutter, die mich im Sommer auf dem Campingplatz anruft, um mich an all die Dinge zu erinnern, um die ich mir Sorgen machen könnte: dass ich im See ertrinke, dass ich die Fahrt nicht schaffe, dass ich einen Sonnenstich bekomme.

Neben der Angst, die uns antrainiert wird, löst das alles auch einen Wahnsinnstrotz in mir aus. Ständig habe ich das Gefühl, allen Leuten beweisen zu müssen, was ich kann. Und damit falle ich selbst in ableistische Denkstrukturen, weil ich mich anhand meiner Fähigkeiten aufwerte und andere abwerte. Behindert sein, okay, aber bloß nicht zu
sehr. Immer eigene Grenzen überschreiten, um mithalten zu können. Ständig das Gefühl haben, auf Bäume klettern oder in Seen springen zu müssen, um sich wie die Protagonistin zu fühlen. Ich romantisiere jede Kleinigkeit in meinem Leben, die mir auch nur ansatzweise dieses Gefühl gibt. Wenn Freund*innen mich um 22 Uhr fragen, ob ich spontan rumhängen will, könnte ich vor Glück heulen, weil mir Spontanität grundsätzlich immer abgeschrieben wird.

In zwei Monaten werde ich 27 und ich habe immer noch das Gefühl, ständig allen Leuten beweisen zu müssen, dass mein Leben genauso gut ist wie ihres. Dabei will ich mir erlauben, zu ruhen. Nicht immer überall dabei sein zu müssen. Wenn die Winterdepression will, dass ich zehn Stunden am Tag in „Minecraft“ Häuser baue, dann darf ich das auch. Wenn der Sommer jeden September meint, vorbei sein zu müssen, und die Partys wieder abgesagt werden, romantisiere ich eben das Zuhausebleiben, zünde mir mit fettigen Haaren eine Kerze an und lasse die Dinge woanders stattfinden.