Von Rayén Garance Feil

Manche kennen es: Man ist unter weißen Menschen, jemand sagt etwas Abfälliges über „Ausländer“ oder macht einen rassistischen Witz – und erwartet ein zustimmendes Nicken oder Lachen. Besonders absurd ist das, wenn man von den Anwesenden für weiß gehalten wird, obwohl man es nicht ist. Dieses Phänomen nennt sich white passing.

Der Begriff geht auf das Konzept des racial passing zurück, abgeleitet vom Englischen „to pass for“ („als … durchgehen“) oder „to pass as“ („sich als … ausgeben“). Zwischen dem 18. und der Mitte des 20. Jahrhunderts war passing for / as white ein Phänomen unter (insbesondere mixed-race) Afroamerikaner*innen, deren Hautfarbe hell genug war, um sich als weiß auszugeben und so unter Weißen zu leben. In der von rassistischen Institutionen wie Versklavung und Segregation geprägten US-amerikanischen Gesellschaft bedeutete dies Freiheit und Privilegien. Der Preis dafür war die Abkehr von Familie, Freund*innen und Community. Vielfach in der Literatur aufgegriffen bildet das Thema sogar ein eigenes Genre, die sogenannte „Passing Novel“. Explizit als passing geprägt wurde das Konzept u. a. 1929 durch den gleichnamigen Roman von Nella Larsen.

Heute wird der Begriff, auch in Deutschland, in antirassistischen und identitätspolitischen Diskursen verwendet, um die bloße Möglichkeit des Weiß-gelesen-Werdens nicht-weißer Menschen zu beschreiben. Diese Erfahrung machen nicht nur Menschen, die mixed-race sind, sondern auch Personen, deren beide Elternteile nicht-weiß sind, solange sie durch bestimmte Merkmale, insbesondere Hautfarbe, der weißen Norm nah genug kommen. In einer rassistischen Welt ist das ein klarer Vorteil und wird entsprechend white passing privilege genannt. Anders als das weiße Privileg ist es jedoch situations- und kontextabhängig und somit instabil. So kann eine BIPoC mit relativ heller Haut oder mit der europäischen Norm entsprechenden Gesichtszügen in einem Moment als weiß wahrgenommen werden, aber im nächsten aufgrund ihres ausländischen Namens, ihres Akzents oder ihrer Haarstruktur rassistisch diskriminiert werden. White-Passing-Privilegien sind also eine Nuance zwischen dem konstanten Besitz weißer Privilegien, welche weiße Menschen genießen, und dem gänzlichen Fehlen weißer Privilegien, welches konstant rassifizierte BIPoC erleben.

Alternative Begriffe wie white assumed (weiß vermutet/angenommen) und white appearing (weiß erscheinend) wollen die historisch geprägte Bedeutung von „passing“ als bewusste Entscheidung, sich als weiß „auszugeben“, vermeiden und den heutzutage gängigeren Fall der – von Betroffenen selbst unbeabsichtigten – falschen Außenwahrnehmung betonen. White passing im Sinne von als weiß „gerade so durchgehen“ wiederum hebt stärker hervor, dass es sich um eine Grenzerfahrung handelt, die von Unvorhersehbarkeit geprägt ist.

White-Passing-Erfahrungen zeigen, dass Race sozial konstruiert ist, und machen es für Betroffene nicht immer leicht, sich Identitätskategorien zuzuordnen. Die Selbstbezeichnung „white passing BIPoC“ kann als nuancierte und identitätsstabilisierende Positionierung verstanden werden, die White-Passing-Privilegien anerkennt, aber auch koexistierende Rassifizierungserfahrungen sichtbar macht. Sie ermöglicht, der von Rassismus beeinflussten Familiengeschichte und soziokulturellen Herkunft Rechnung zu tragen, sich mit anderen BIPoC zu solidarisieren und Privilegien für anti- rassistische Kämpfe zu nutzen. Und sie erlaubt es, weiße Räume widerständig zu besetzen und aufzubrechen.

Dieser Text erschien zuerst in Missy 01/22.