Missy Magazine 01/22, Literaturrezis

Wut und Böse
„Wut ist nicht gleich Wut. Es gibt unterschiedliche Definitionen von Wut, je nachdem, aus welcher Perspektive sie betrachtet wird.“ So beginnt das erste Kapitel des Buches „Wut und Böse“ der Journalistin Ciani-Sophia Hoeder. Sie ist Gründerin des „RosaMag“, des ersten Online-Lifestylemagazins für Schwarze FLINT in Deutschland, und analysiert in ihrem Debüt einerseits, was Wut genau ist, und andererseits, wie die Wut von FLINT historisch und soziologisch verhandelt wurde und immer noch wird. Wie sie direkt nach dem Vorwort erklärt, behandelt das Buch zwar „die Wut von Frauen aus einer gesellschaftskritischen sowie feministischen Perspektive“, doch ist „Wut nicht binär weiblich oder männlich“, sondern wird patriarchal gewertet und eingeordnet. Und auch wenn die Daten, die der Autorin zur Verfügung standen, binär aufgeschlüsselt sind, schafft sie es immer wieder, trans Personen und andere marginalisierte Gruppen nicht nur zu berücksichtigen, sondern selbst zu Wort kommen zu lassen. So erklärt Ciani- Sophia Hoeder in insgesamt 15 Kapiteln, wie Wut im Körper entsteht und sich wandelt, wie sie (v)erlernt, systematisch unterdrückt und anschließend unterschiedlich rezipiert wird und diese Unterdrückung schlussendlich hoffentlich überwunden werden kann. Dabei ist es eine wahre Wonne, Ciani-Sopia Hoeders Worten zu folgen und dank ihrer Wut die eigene endlich zu verstehen und rauszulassen. Ava Weis

Ciani-Sophia Hoeder „Wut und Böse“ (hanserblau, 208 S., 18 Euro )

 

Missy Magazine 01/22, Literaturrezis 

Schwarzes Herz
„Ich möchte eine Geschichte erzählen, die meiner ähnelt, die meine sein könnte.“ Jasmina Kuhnke erzählt in ihrem Debütroman vom Aufwachsen ihrer Protagonistin im Ruhrgebiet der 1990er-Jahre. Von klein auf muss sich die Schwarze Ich-Erzählerin in einer rassistischen, misogynen, gewalttätigen Gesellschaft zurechtfinden. Ihr Leben ist gezeichnet von Männern, die sie körperlich und seelisch misshandeln. Als sie mit ihrem gewalttätigen Ehemann Kinder bekommt, verschlechtert sich der ohnehin bedrohliche gesundheitliche Zustand der Protagonistin und ihr Leben ist fortan ein schierer Überlebenskampf um der Kinder willen. Bis ihr eine Freundin ein Notizbuch schenkt, mit dem ihre Worte langsam zu ihr zurückfinden. Worte, die ihr dabei helfen, einen Ausweg aus ihrer Abhängigkeit zu finden. Der Roman zeichnet ein beschämendes Bild der diskriminierenden Gesellschaft, in der wir leben. Er zeigt den Weg einer Frau, die allen Widerständen zum Trotz zu ihrer eigenen Stimme findet und sich dabei ihre Unabhängigkeit hart erkämpft. Es ist ein aufrüttelndes Buch, das die Lesenden nicht so schnell wieder loslassen wird. Umso erschreckender erscheint die Debatte um die Romanvorstellung von „Schwarzes Herz“ auf der Frankfurter Buchmesse, die einmal mehr verdeutlicht, wie wichtig der Roman ist. Manon Adelsberger

Jasmina Kuhnke „Schwarzes Herz“ ( Rowohlt, 208 S., 20 Euro )

 

Missy Magazine 01/22, Literaturrezis

Versuch, dich abzuschreiben
Traurig, sexy, sehnsüchtig liest sich das Lyrikdebüt der Wiener Autorin und Hebamme Laura Holder. Es geht natürlich um die Liebe, die schönen und die weniger schönen Facetten. Lust, Begehren, Schmetterlinge im Bauch, aber auch um Liebeskummer und unerfüllte Erwartungen. Gefühle, die viele Personen nachfühlen können. Holder schreibt aus Schwarzer weiblicher Perspektive und thematisiert auch Erfahrungen aus Beziehungen mit weißen Personen. So handelt das Gedicht „Milchschnitte“ davon, wie sie den weißen Partner zusammenhält. Der Titel „Versuch, dich abzuschreiben“ passt bestens, die Gedichte sind der Versuch, abzuschließen mit einer Person, mit einer Beziehung, mit den eigenen Gefühlen und der Vergangenheit, die unwiderruflich an diese Person geknüpft ist. Die Erinnerungen, gut und schlecht. Aber eben auch eine Schrift zu einer Person, über eine Person. Die drei Kapitel stehen für die jeweiligen Versuche und sind auch als solche betitelt. Die Gedichte sind komplett in Großbuchstaben geschrieben und gewinnen so an Nachdruck, Schärfe und besonderer Visualität. Holder spielt mit den Worten und damit, wie sie inhaltlich, aber auch visuell aufeinander folgen. Es fällt leicht, in die Welten einzutauchen, die die Gedichte als einzelne und als ganzes Werk aufmachen. Lisa Tracy Michalik

Laura Holder „Versuch, dich abzuschreiben“ ( mikrotext, 84 S., 14,99 Euro )

 

Missy Magazine 01/22, Literaturrezis 

Feminismus für alle
„Feminismus ist eine Bewegung, die Sexismus, sexistische Ausbeutung und Unterdrückung beenden will“ – anhand dieser Definition beschrieb bell hooks, Literaturwissenschaftlerin, Aktivistin und Autorin, bereits vor mehr als zwanzig Jahren ihre Vorstellung von Feminismus. Die afroamerikanische Autorin erfüllte sich vor ihrem viel zu frühen Tod am 15.12.2021 mit dem vor Kurzem im Unrast Verlag erschienenen Werk einen Wunsch und schafft ein Handbuch des Feminismus. In verständlicher Sprache wird ein Einblick in die Entstehung der nordamerikanischen feministischen Bewegung und ihre Grundsätze gegeben. hooks
selbst ist Jugendliche, als sie zum Feminismus findet, vor diesem Hintergrund führt sie
erzählend in die komplexe Thematik ein. Ihren studentischen Blick erinnernd, beschreibt sie oft auch kritisch Anfänge der Bewegung und ihrer Gruppen sowie ihren Wandel bis hin zur Bedeutung des Begriffs für die heutige Zeit, die Gesellschaft und gesellschaftlich relevante Themen. Zudem will sie mit der verbreiteten Vorstellung vom „männerfeindlichen“ Feminismus brechen und erläutert, weshalb Feminismus ebenfalls bedeutet, Rassismus, Klassismus und Imperialismus zu bekämpfen. bell hooks’ einzigartige Perspektive wird fehlen. Savannah Sipho

bell hooks „Feminismus für alle“ ( Aus dem Englischen von Margarita Ruppel. Unrast, 148 S., 14 Euro )

 

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Das Pferd ist ein Hund
Es ist Winter und so kalt, dass Kinder und ältere Personen nicht das Haus verlassen sollen. Die Schulen kommen mit dem Heizen nicht mehr hinterher und sind geschlossen, der Unterricht findet über Video statt. Was zuerst aufregend und spannend wirkt, wird auf Dauer ganz schön nervig und anstrengend. Tamara Bach hat mit „Das Pferd ist ein Hund“ einen vielschichtigen Lockdownkinderroman, der ganz ohne Corona auskommt, geschrieben. Sie erzählt gewitzt und authentisch aus der Perspektive von Clara, ungefähr elf Jahre, die gemeinsam mit ihrer Mama, ihrer kleinen Schwester Luze und deren Papa Gregor in einer Wohnung lebt. Obwohl sich das Leben drinnen abspielt, passiert rundherum ganz schön viel. Clara vermisst ihre beste Freundin, mit der sie sich kurz zuvor gestritten hat, die Eltern sind sich uneinig ob Homeoffice, Kinderbetreuung und Zuständigkeiten, und ihre Schwester Luze hat Fantasie als Strategie für den Umgang mit der neuen Situation gewählt und sich einen unsichtbaren und hellseherischen Hund namens Pferd ausgedacht. Auch die Mietshausgemeinschaft wird einbezogen. Gemeinsam mit dem Nachbarsjungen Vincent starten die beiden Schwestern einen Dokumentarfilm über ihre Mitbewohner*innen und somit auch über deren unterschiedliche Lebenssituationen. Beachtenswert ist nicht nur die einnehmende Geschichte, sondern sind auch die von Ulrike Mölten gestalteten Kapitelvignetten. Carla Heher

Tamara Bach „Das Pferd ist ein Hund“( Carlsen, 240 S., 12 Euro, ab 10 Jahren )

 

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Süß
Auf T-Shirts von Billigmodeketten, in der Popmusik, in der Werbung: Der Feminismus ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Und natürlich verwässert er dort – das ist okay, keine*r wollte, dass eine Bewegung für Emanzipation auf ewig im Schatten der Subkultur herumgeistert. Gleichzeitig regt sich in einem*einer das Bedürfnis nach Definition und Status quo des Feminismus. Gut, dass Ann-Kristin Tlusty uns genau das mit ihrem Buch vorlegt. Die Autorin arbeitet sich an drei Attributen ab, die unsere Gesellschaft nach wie vor für Frauen bereithält: Sanft, süß und zart. Tlusty stellt diese Frauenbilder in den Kontext unserer kapitalistisch geprägten Welt, forscht in unserer Geschichte nach Ursachen, warum wir gewisse Selbst- und Fremdbilder akzeptieren und damit unsere eigene Unterwerfung hinnehmen, und schafft einen reflektierten Blick auf Phänomene wie den Potenzfeminismus. Die „Zeit“- Redakteurin erklärt in ihrem ersten Buch aktuelle Debatten und greift auch immer zurück auf wichtige Gesellschaftstheoretiker*innen und Autor*innen wie Brontë, Butler oder Bourdieu. Tlusty hat mit ihrem Buch einen reichen Fundus geschaffen, der informiert, sich gut liest und vor allem gedankliche Impulse setzt. Am Ende sinniert sie darüber, wie eine bessere Welt aussehen könnte, und wünscht sich „Dolce Vita für alle“ – eine Vision, die zwar nett klingt, aber dann doch nicht tief genug greift. Muss aber auch nicht sein: Nach der Lektüre von „Süß“ sind wir alle gewappnet, gemeinsam an einer besseren Welt zu arbeiten. Silvia Silko

Ann-Kristin Tlusty „Süß. Eine feministische Kritik“ ( Hanser, 197 S., 18 Euro )

 

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Die kleine Schule der großen Hoffnung
Eine junge Frau kehrt zurück in ihren Heimatort, um dort als Lehrerin zu arbeiten. Acht Autostunden und ganze Welten liegen zwischen Québec-Stadt und Uashat, Heimat der First Nation Innu, der auch Yammie angehört. In Uashat sieht sich Yammie konfrontiert mit ihrer eigenen Einsamkeit, die überstrahlt wird von den Problemen ihrer Schüler*innen, zu denen Teenageschwangerschaften und sterbende Angehörige gehören. Trotz des teilweise rauen Alltags hat Yammie Hoffnung, mit ihrem Idealismus etwas im Leben der Kids bewegen zu können. Naomi Fontaines zweiter Roman mit dem kitschigen deutschen Titel „Die kleine Schule der großen Hoffnung“ (Original: „Manikanetish“) wurde anlässlich des Gastlandauftritts von Kanada auf der Frankfurter Buchmesse hierzulande entdeckt; in ihrer Heimat ist sie bereits seit ihrem Debüt „Kuessipan“, das 2019 verfilmt wurde, sehr bekannt. „Die kleine Schule“ hat einige interessante Ansätze. Allerdings: Wer hofft, mehr über das Leben der Innu zu erfahren, ist hier falsch. Auf den gut 140 großzügig gesetzten Seiten werden viele Themen nur angerissen, auch die Schüler*innen bleiben blass, die Lösungen für Probleme werden ohne Hürden bewältigt. Bezeichnend ist, dass das Nachwort von Übersetzerin Sonja Finck mehr Einblicke liefert als der Roman selbst. Aber man kann es auch anders ausdrücken: Es gibt Erfahrungen, die sind so universell, dass sie sowohl im Reservat in Québec als auch in einer Stadt wie Magdeburg gemacht werden. Isabella Caldart 

Naomi Fontaine „Die kleine Schule der großen Hoffnung“ ( Aus dem Französischen von Sonja Finck. C. Bertelsmann, 144 S., 16 Euro )

 

Missy Magazine 01/22, Literaturrezis

Körper-Kintsugi
Es gibt viele Berichte vom Erleiden einer Brustkrebserkrankung, aber nur wenige aktuelle literarische Auseinandersetzungen damit. Der bosnischen Autorin Senka Marić ist eine solche in ihrem autobiografisch grundierten Roman gelungen. Für die erschütternde Wucht dieser existenziellen Erfahrung findet sie eine Form: Über das „Du“ tritt sie in eine Art intimes Zwiegespräch mit sich selbst, in dem sie doch einen Blick wie von außerhalb auf sich werfen kann; eine vielleicht notwendige Distanz, die das Sprechen/ Schreiben über das Erlebte erst möglich macht. In atmosphärisch dichten Szenen fügt sie Rückblenden zu Kindheit und Jugend ein, eine Suche nach Zusammenhängen, wo die Erkrankung und ihre Folgen das Selbst, den Körper, die Wirklichkeit in Fragmente zerlegen. Manchmal schreibt Marić stakkatohaft sachlich, die Zumutung der bloßen Fakten verschlingt jedes zusätzliche Wort. Dann wieder findet sie poetische Bilder, entwickelt der Text nicht zuletzt dadurch seinen eigentümlichen Sog. Das Buch ist Protokoll der Krankheit, ihres Verlaufs, der Stufen und Zuspitzungen von Angst und Schmerz – und des Sich-Dagegenstemmens. Es ist zugleich ein berührendes literarisches Zeugnis, das sich einer Heldinnengeschichte des individuellen Überlebens entzieht und für Solidarität und Empathie plädiert. Carola Ebeling

Senka Marić „Körper-Kintsugi“ ( Aus dem Bosnischen von Marie Alpermann. eta Verlag, 158 S., 19,90 Euro )

 

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Ein strahlendes Licht
„Wie können wir uns über unsere Unterschiedlichkeit hinweg organisieren, ohne sie zu leugnen oder überzubewerten?“, fragte die Schwarze, lesbische, feministische Kriegerin, Dichterin und Mutter Audre Lorde. Eine Frage, die in den heutigen intersektionalen Kämpfen keinen Deut an Relevanz verloren hat. „Ein strahlendes Licht“ bündelt Lordes prägnanteste Texte, die seit jeher viele begleiten und bestärken im Kampf gegen Rassismus, Sexismus und Queerfeindlichkeit. Diese Schriften sind keine Lyrik, und doch merkt man beim Lesen immer, dass Lorde Dichterin war. Besonders eindrucksvoll sind die Tagebucheinträge Lordes, in welchen sie sich mit ihrer Krebsdiagnose auseinandersetzt. Sie lehnte eine Operation ab und reiste stattdessen u. a. nach Deutschland, um
mit Schwarzen deutschen Frauen in Kontakt zu treten, und nach London, um den weißen Feministinnen der feministischen Buchmesse
eine Lektion zu erteilen. Die Intimität der Texte macht eine feinfühlige Übersetzung umso wichtiger. Glücklicherweise sind mit Eva Bonné, Marion Kraft, Mirjam Nuenning, Alexis Pauline Gumbs, Cheryl Clarke, Dagmar Schultz, JEB und Pasquale Virginie Rotter Menschen an der Erscheinung des Buches beteiligt, die im Themenfeld des Schwarzen Feminismus verortet sind und teilweise auch Weggefährtinnen Lordes waren. Lisa Tracy Michalik

Audre Lorde „Ein strahlendes Licht. Schriften, Reden und Gespräche“( Aus dem Englischen von Eva Bonné, Marion Kraft, Mirjam Nuenning und Pasquale Virginie Rotter. AKI, 224 S., 24 Euro )

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 01/22.