Von Silvia Silko
Fotos: Lena Giovanazzi

Missy Magazine 01/22, Reportage, Vorschaubild
© Lena Giovanazzi

Ich habe eine Verabredung mit meiner toten Großmutter. Jedes Mal, wenn ich Pierogi mache, schaut sie mir zu. Ihre buschigen Augenbrauen sind skeptisch gerunzelt, ich mische gerade vermutlich irgendetwas zusammen, womit sie nicht einverstanden wäre. Wie das richtige Rezept geht, hat sie mir aber auch nie erklären können: „No, machst du Mehl nach Gefühl!“, dazu eine energische Handbewegung. Mehr Präzision bei der Zubereitung ihrer Gerichte konnte man von Oma Nellie nicht erwarten. Gefühl – beim Kochen polnischer Gerichte generell eine entscheidende Zutat. Gefühle können trügen, weiß jede*r. Selbst meiner Oma passierte das. Etwa, als sie sich danach fühlte, das gebackene Bauchfleisch vom Vortag auf der Tiefkühlpizza zu verteilen. Es schmeckte nach grausamer Fusionküche – konsequent wäre es gewesen, dazu Rotwein mit einem Schluck Wodka zu reichen. Seit

meine Oma vor Jahren starb, gibt es ihre Pierogi, den Hefekuchen und ihre Pizzaeskapaden nicht mehr. Meine Oma ist der Grund, warum ich hier in Deutschland geboren und aufgewachsen bin. In einem Land, das nie die ursprüngliche Heimat meiner Eltern war und in dem meine Familie und ich immer fremd blieben. Entwurzelt. Aber wohlgenährt.

Meine Oma war Deutsche, so hat sie sich zumindest selbst immer gesehen. Auch wenn andere das nicht taten, weil sie faktisch den Großteil ihres Lebens nicht in Deutschland verbrachte. Ihre Vorfahr*innen gehörten zu jenen Siedler*innen, die aus der Pfalz dem Ruf Katharinas der Großen folgten und über Generationen blieben. Im Zweiten Weltkrieg kehrten viele davon als sogenannte „Volksdeutsche“ nach Deutschland zurück, darunter viele überzeugte Nazis. Bis heute finden sich in der Gruppe der (Spät-)Aussiedler*innen viele rechtskonservative Tendenzen und auffällig viele AfD-Wähler*innen. Teile diesen Artikel