Missy Magazine 02/22, Comic

Das Gutachten
Jennifer Daniels Graphic Novel spielt in Bonn 1977. Der behäbige Karl Martin arbeitet als Fotograf am Rechtsmedizinischen Institut der Universität und betäubt mit Alkohol sein Kriegstrauma aus dem Schützengraben. Die alleinerziehende Studentin Miriam sucht Betreuung für ihren kleinen Sohn, um mit ihren Freund*innen beim bevorstehenden Kanzlerfest ein Transparent zur Befreiung der RAF auszurollen. Ein Unfall verknüpft die Schicksale der beiden Figuren miteinander. Jennifer Daniel erzählt über den Plot hinaus von den emotionalen Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs und Kumpanei unter Männern in hohen Positionen, wo gar ein Mord unter den Tisch fallen gelassen werden soll. Ihre Zeichentechnik – digital, doch malerisch anmutend wie ein Mix aus Aquarell und Gouache – und der reduzierte Stil versetzen ins Rheinische der späten Siebziger. Die besonderen Stimmungen entstehen durch die distinguierte Farbpalette und zeitgetreue Details – ob die schweigende Oma mit Zuckerwattehaar in der heimischen Stube, die Einrichtung der verrauchten Kneipe, wo Kölsch serviert und Karten gespielt wird, die ganz in Rot getauchte Dunkelkammer Herr Martins oder die Autos. „Das Gutachten“ ist ein ästhetischer Genuss, inspiriert von Fotos aus der Zeit, wie das Nachwort verrät. Amelie Persson

Jennifer Daniel „Das Gutachten“ ( Carlsen, 208 S., 25 Euro )

 

Missy Magazine 02/22, Comic

Quiet Girl
Während andere Leute ihre sozialen Batterien auf Partys aufladen, sinkt der Akkustand von Debbie Tung in Gesellschaft rapide. Bis er auf null Prozent ist und sie sich erschöpft davonschleicht. Debbie ist ein „Quiet Girl“ und liebt nichts mehr, als Zeit alleine zu verbringen. Mit Büchern oder Zeichnungen, ohne andere Menschen. Nur ist unsere hypervernetzte Welt nicht darauf ausgelegt, dass wir uns konstant zurückziehen. So quält sich Debbie durch ein Studium, bei dem nicht die komplizierten Lerninhalte, sondern die Interaktionen mit den Profs das Anstrengende sind, und durch einen regulären Job, in dem der Small Talk zur Hölle wird. Bis sie mit ihrer introvertierten Persönlichkeit Frieden schließt und als freiberufliche Comic-Künstlerin selbstbestimmter leben und arbeiten kann. Tung erzählt ihre autobiografische Story in schlicht gezeichneten Schwarz-Weiß-Bildern als komische oder manchmal auch traurige Episoden auf dem Weg zur Selbsterkenntnis. Konventionelle Lebensentwürfe wie die Hetero-Traumhochzeit in Weiß oder umstrittene psychologische Konzepte wie der Myers-Briggs-Typenindikator werden von der Autorin nicht hinterfragt. Stattdessen wirbt sie mit ihren launigen, niedrigschwellig erzählten Alltagsvignetten um mehr Verständnis für quiet girls wie sie. Sonja Eismann

Debbie Tung „Quiet Girl. Geschichten einer Introvertierten“( Aus dem Englischen von Katharina Hartwell. Graphix Loewe, 184 S., 15 Euro )

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 02/22.