Text: Marie Minkov

Es ist jetzt bald ein Jahr her, dass ich in meine erste eigene Wohnung gezogen bin. Seitdem habe ich fünfmal meine Möbel verschoben, zehn Bilder aufgehängt, neun Pflanzen gekauft und sechsmal in der Nacht vor dem Spiegel meine Haare geschnitten. In dieser Wohnung bin ich 27 geworden und an Weihnachten bin ich immer noch die Einzige, die keinen Freund mitbringt.

Eines der ersten Dinge, die ich zu Beginn des Alleinwohnens gemacht habe, war, mich auf Dating-Apps anzumelden. In den WGs kam das für mich schon deshalb nicht infrage, weil meine Introvert-Batterie konstant rot geblinkt hat (Akku leer) und ich gar nicht auf die Idee kam, noch mehr Menschen in mein Leben zu lassen. Dazu kommt, dass ich keinen Sex Drive hatte (habe) und auch sonst kaum einen Wunsch nach emotionaler oder körperlicher Nähe, die ich nicht schon von meinen Freund*innen oder meiner Familie bekomme. Etwas, das mein Umfeld immer gerne auf meine Behinderung schiebt. Die Diagnose: Du hast Angst, Menschen deinen Körper zu zeigen, und redest dir deshalb ein, diese Dinge nicht zu wollen.

Missy Online Magazine, Kolumne, Deconstruct Dating
© Xueh Margrini Troll

Das Alleinwohnen hat meine Einstellung zum Dating verändert. Meine Introvert-Batterie war plötzlich voll aufgeladen und ich hatte Lust auf soziale Kontakte. Die Sehnsucht nach neuen Gesichtern ist in einer kleinen Stadt, aus der die meisten meiner Freund*innen weggezogen sind und die auch vor der Pandemie schon wie leergefegt war, groß. Ich fand mich mit der Freiheit konfrontiert, selbst entscheiden zu können: Wen möchte ich in mein Leben lassen? Mit wem möchte ich meine Zeit verbringen? Und wo kann man besser Leute kennenlernen als auf Dating-Apps?

Marie Minkov

Marie Minkov arbeitet als freie Autorin und Illustratorin und studiert Literarisches Schreiben in Hildesheim. In ihren Texten befasst sie sich mit Behinderung, Norm und Scham und untersucht das Inklusionspotential autobiografischer Texte.

„Hä, ich dachte du willst keine Beziehung“ oder „Du bist doch asexuell, warum datest du?“, waren Reaktionen meines Umfelds, aber auch meine eigene, mir selbst gegenüber: Wir haben gelernt, dass Dating bedeutet, etwas ganz Bestimmtes zu wollen, und wenn ich das nicht will, was mache ich dann hier? Und was ist es überhaupt, das ich will? Keine Ahnung, aber mit Fremden aus dem Internet, die ich attraktiv finde, und die mich attraktiv finden, ein Bier trinken zu gehen, klingt wie keine schlechte Idee.

Die Dates, auf denen ich war, hatten nicht viel mit dem zu tun, was ich über Dating wusste – was vielleicht nicht zuletzt daran liegt, dass ich als queere Person date. Nichts hat in einer Beziehung geendet, es gab keinen Sex, ich habe mich auch nicht so richtig verknallt (nur ein bisschen). Von außen betrachtet würde man vielleicht sagen, ich mache irgendwas falsch, oder meine Dates waren nicht „erfolgreich“, aber so fühlt es sich nicht an. Die Treffen waren immer schön, immer respektvoll, der Umgang miteinander vorsichtig und feinfühlig und immer das Gegenteil von dem, was mir meine Freund*innen über ihre Dates mit cis Männern erzählt haben. Etwa Geschichten darüber, wie sie ihre Periode vortäuschen müssen, um keinen Sex haben zu „müssen“, oder dass es die große Frage gibt nach dem „wo treffen?“, denn: Zu Hause könnte ihm ja fälschlicherweise suggerieren, dass es ein Sextreffen ist.

Ich will nicht behaupten, dass queeres Dating nie toxisch ist oder dass es komplett frei von patriarchalen Strukturen ist, dass niemand Grenzen überschreitet und niemand verletzt wird. Vielleicht wäre ich selbst enttäuscht gewesen, wenn ich bestimmte Erwartungen gehabt hätte, mir z. B. eine Beziehung daraus erhofft hätte. Aber das habe ich nicht und in dem Moment, in dem ich aufgehört habe, Erwartungen an die Person mir gegenüber zu stellen, konnte ich sie so sehen, wie sie ist, keine geheimen Wünsche auf sie projizieren, die Dinge einfach auf mich zukommen lassen.

Ich habe selten so respektvolle Menschen getroffen wie auf Dates. Ich habe keine Angst, dass jemand etwas gegen meinen Willen macht. Statt Grenzen zu überschreiten, werden sie besprochen. Wochenlang kommt es nicht zum Kuss, weil niemanden übergriffig sein möchte. Die Talks darüber, was man voneinander erwartet, sind nicht ernst und anstrengend, sondern ganz normal und ganz leicht. Und wenn es auf romantischer Ebene nicht passt, dann treffen wir uns trotzdem wieder und wieder und wieder, weil wir uns mögen und respektieren und es eben nicht nur diese eine Sache gibt, die wir voneinander wollen.

Jetzt habe ich das Gefühl, dass Queer Dating beinahe wie ein Community-Space für mich ist, ein soziales Netzwerk, in dem man andere Queers kennenlernt, und dabei muss Sex oder die Erwartung einer Beziehung erst mal keine große oder auch gar keine Rolle spielen. Mein Fazit: Niemand sollte dir vorschreiben, warum du daten willst. Du kannst daten, auch wenn du keine Beziehung willst, wenn du keinen Sex willst, wenn du dich nicht verlieben willst. Deine Gründe sind okay, solange du sie kommunizierst. Und am Ende muss nicht das dabei herauskommen, was uns überall vermittelt wird.