Von Sonja Eismann

Annie Ernaux’ erster Roman erschien bereits 1974. In Deutschland brauchte es jedoch den Umweg über die von ihr beeinflussten Starautoren Didier Eribon und Édouard Louis, bis man diese grandiose „Ethnologin ihrer Selbst“ neuerdings auch hierzulande feiert. Wieso?
Ihr Werk wurde lange marginalisiert. Ein Beschleuniger für ihre Rezeption in Deutschland war meiner Meinung nach die #MeToo-Bewegung – da gab es ein kollektives weibliches Erwachen aus einer Erstarrung und Generationen von Frauen fingen an, ihre sexuelle Sozialisation und Geschichte zu hinterfragen. Dafür war Annie Ernaux mit ihrem unglamourösen, schonungslosen Lupenblick auf die eigene Biografie eine Vorreiterin – wie sie auch für Eribon und Louis eine Lehrmeisterin war. Die Konsequenz war also richtig, nur die Reihenfolge war falsch.

Was macht die Autofiktion von Annie Ernaux für die Bühne so interessant?
Das Interessante liegt für mich in der rückblickenden Selbsterkenntnis. Diese Technik lässt sich gut auf die Annäherung einer Schauspielerin an ihre Figur übertragen. Ist sie ich? Bin ich sie? Gerade „Erinnerung eines Mädchens“ birgt mit seinen zwei Erzählebenen – der reflektierenden, schreibenden Annie Ernaux und der erlebenden Annie Duchesne – ungeheures theatrales Potenzial. Ich inszeniere den Text als Monolog für die Schauspielerin Veronika Bachfischer, der aber durch das epische Prinzip der rückblickenden Annie gleichzeitig als Dialog mit den Zuschauer*innen funktioniert.

Wie kann das Bühnenbild diese Spannung aus Vergangenheit und Heute, Rückblick und Reflexion wiedergeben?
Es war meiner Bühnenbildnerin Lena Marie Emrich und mir wichtig, auf der Bühne einen zeitlosen, relativ minimalistischen Raum zu schaffen. Denn was uns an dem Stoff interessiert, sind die transgenerationalen Aspekte. Welche Diskurse, die Annie Ernaux für die 1950er-Jahre beschreibt, sind heute noch aktuell? Gibt es immer noch dieselbe Tragweite des „ersten Mals“, das für sie so prägend war, für ihre ganze Beziehung zum männlichen Geschlecht? Wir wollen ihre Geschichte als gesamtweibliche Erfahrung wiedergeben. Um das Spiel mit Blicken zu verdeutlichen – die Zuschauer*innen sehen die Figur auf der Bühne an und spielen bzw. spiegeln damit den Male Gaze –, sind verspiegelte Elemente in unserem Bühnenbild zentral.

Missy Magazine 02/22, Rolle Vorwärts: Die Lehrmeisterin
©Gianmarco Bresadola, Schaubühne am Lehniner Platz Berlin „ERINNERUNG EINES MÄDCHENS“ von von Annie Ernaux. Regie: Sarah Kohm, Bühne und Kostüme: Lena Marie Emrich, Musik: Leonardo Mockridge, Dramaturgie: Elisa Leroy, Licht: Rudolf Heckerodt .
Szene mit Veronika Bachfischer. Uraufführung am 9. April 2022.

Warum hast du aus dem Gesamtwerk von Ernaux genau diesen Roman ausgewählt und nicht eines der Werke, die sich stärker mit Klassenfragen beschäftigen?
Veronika Bachfischer und ich arbeiten schon länger zusammen an dem Diskurs um weibliches Begehren. Ich habe ihr das Buch ohne Hintergedanken zum Geburtstag geschenkt und es hat sich bei unserer Stoffsuche schließlich durchgesetzt. Wir möchten mit dem Text patriarchale Geschlechterordnungen und Begehrensstrukturen erforschen. Der Text fordert uns als weiblich sozialisierte Wesen auf, uns zu fragen, wie wir begehren und warum wir begehren, wie wir begehren. Und wie wir begehrt werden und warum. Diese Fragen sind für mich unglaublich wichtig, über alle Generationen hinweg, weil unsere Begehrensstrukturen sich immer an gesamtgesellschaftlichen Machtstrukturen orientieren. Ernaux beschreibt ihre sexuell übergriffigen Erfahrungen ganz nüchtern, ohne Anklage. In „Erinnerung eines Mädchens“ schreibt sie noch, sie könne das Wort „Vergewaltigung“ als Bezeichnung für ihre Erfahrung nicht in den Mund nehmen. Erst kürzlich hat sie in einem Podcast gesagt, sie sieht mittlerweile das, was ihr 1958 passiert ist, als Vergewaltigung an! Ich finde das äußerst bemerkenswert, weil es zeigt, dass der Prozess, den sie durch das Schreiben beschleunigt und der auch eine Heilung anregt, nie aufhört.

Im Kulturbetrieb ist das Theater einer der hierarchischsten Räume, weiblich gelesene Körper werden nach wie vor rigide dem männlichen Blick unterworfen. Wie gehen Sie gerade bei einer solchen Inszenierung damit um?
Eben war ich mit dem gesamten Team bei einer Berlinale-Vorführung des Filmes „Brainwashed“, in dem die Regisseurin Nina Menkes anhand von Shot-Designs analysiert, wie sehr wir den männlichen Blick auf Frauenkörper internalisiert haben. Die Dramaturgin unserer Produktion, Elisa Leroy, meinte, es fühle sich an, als habe man uns jahrelang ins Gehirn geschissen. Wir sind gesellschaftlich an einem Punkt, an dem es bestimmte Darstellungsweisen einfach nicht mehr geben kann, z. B. Frauenkörper in Ausschnitten zu zeigen. Wir brauchen andere Perspektiven und müssen radikal sein. In unserem Stück möchte ich deshalb ganz offen thematisieren, dass gerade bei einem Monolog sehr viele Blicke auf einem Frauenkörper lasten. Wir kontern das mit einer Bewusstmachung, indem spielerisch auf genau diese Situation hingewiesen wird. Ich möchte aber noch nicht genau verraten wie, das sollen sich alle selbst ansehen.

Die Berlinerin Sarah Kohm absolvierte zunächst einen Bachelor in Journalismus und danach ein Diplom in Musiktheaterregie an der HfMT Hamburg. Parallel zu ihrem Studium war sie am Schauspielhaus Hamburg, am Theater Bremen sowie an der Komischen Oper Berlin tätig. „Erinnerung eines Mädchens“ ist ihre erste Regiearbeit für die Schaubühne Berlin. Das Stück feiert am 09.04. Premiere. schaubuehne.de

Dieser Text erschien zuerst in Missy 02/22.