Von Marie Minkov

Wenn ich in meinem Bekanntenkreis das Wort „Ableismus“ benutze, stoße ich immer noch oft auf Unverständnis. „Davon habe ich noch nie gehört“, heißt es, und das ist schade, aber auch nicht sonderlich überraschend.
„Ableismus“ ist die deutsche Version des englischen Begriffs ableism, zusammengesetzt aus „able“ (dt.: fähig sein) und dem Suffix „-ism“, das häufig ein Glaubenssystem kennzeichnet. Ableismus beschreibt also ein Wertesystem anhand eines Fähigseins: Bist du (nicht) fähig, bestimmte Dinge zu tun, wirst du bewertet. Was dieses Fähigsein umfasst, bestimmen die Normen einer Gesellschaft. Sie legen fest, was ein fähiger Körper ist und wie er auszusehen hat. Die Bewertung der geistigen Verfassung eines Menschen wird mit dem Begriff „Saneismus“ beschrieben („sane“ auf Dt. etwa „geistig gesund“). Wer aus den Normen dieser Wertesysteme fällt, etwa behindert, chronisch krank oder neurodivers ist, erfährt Ungleichbehandlung und ableistische Zuschreibungen. Entstanden sind die Begriffe während der Behindertenrechtsbewegung der 1970er-Jahre in den USA, inspiriert durch die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung und die zweite Welle der feministischen Bewegung.

Warum also ist Ableismus, obwohl er alle Lebensbereiche, den eigenen Körper, die eigene Psyche betrifft, immer noch kein gängiger Begriff? Weil sein Wertesystem so tief in unseren Köpfen und Körpern verankert ist, dass wir es als Normalität betrachten. Wir wissen, wie ein „normaler Mensch“ aussieht, und reproduzieren diese Vorstellungen. Wir wissen außerdem, dass die Welt, mit ihren Barrieren und Regeln, für „normale Menschen“ designt ist, und das stellen wir nicht infrage. Aus der Medizin haben wir gelernt, dass es abweichende Körper zu heilen gilt. Auch ist es schwierig, Ableismus zu erkennen, weil er sich seltener als Anfeindung oder Beschimpfung äußert, sondern eher darin, dass behinderte Menschen nicht ernst genommen werden. Uns wird mit Mitleid oder Irritation begegnet, wir werden unterschätzt, übergangen, uns werden unsere Rechte abgesprochen. Ausdrücke wie „Menschen mit besonderen Bedürfnissen“ machen das deutlich: Bei den „besonderen Bedürfnissen“ handelt es sich um Grundbedürfnisse, etwa den Zugang zu einem Gebäude, zu Arbeit, Bildung, Privatsphäre, Hygiene, Versorgung, Sex, den Zugang dazu, Entscheidungen selbst zu treffen, unabhängig zu sein. All das wird systematisch enorm erschwert – etwa durch oftmals exkludieren- de Institutionen wie die Förderschule oder Behindertenwerkstätten, durch Barrieren oder einen gigantischen behördlichen Aufwand. Invasive Fragen wie „Warum gehst du so?“, „Warum sitzt du im Rollstuhl?“, „Kannst du überhaupt arbeiten?“ oder „Kannst du Sex haben?“ sind als Sorge oder Neugierde getarnt, beinhalten aber die Vorstellung einer Körpernorm, die alle Körper, die von ihr abweichen, infrage stellt.

Diese Normvorstellung wird durch mangelnde oder oft schlechte Repräsentation behinderter Menschen in den Medien aufrechterhalten. Immer wieder werden wir als schwache, traurige Figuren gezeichnet, „die Schwächsten der Gesellschaft“. Bei nicht-behinderten Menschen stellt sich beim Zuschauen das Gefühl ein: „Gut, dass mein Leben nicht so schlimm ist.“ Was diesen Geschichten fehlt, ist die Systemkritik. Der Fehler ist und bleibt bei der behinderten Figur und wird nicht in ihrem Umfeld gesucht.

Ich wünsche mir, den Begriff Ableismus häufiger zu hören, denn: Wenn wir den Begriff kennen, wird es uns auch leichter fallen, das System dahinter zu verstehen und sichtbar zu machen.

Dieser Text erschien zuerst in Missy 02/22.