Lieblingsstreberin: Gerri Kellman
Von
Von Sonja Eismann
Illustration: Eva Feuchter
“Ich glaube, sie hat eine Seele“, sinniert die Schauspielerin J. Smith-Cameron in einem Interview über die Figur, die sie in der HBO- Serie „Succession“ darstellt: Gerri Kellman, die mächtigste weibliche Führungskraft im Reich des Bösen. So ganz sicher scheint sie sich nicht zu sein, und auch die Fans, die seit drei Staffeln besessen sind vom fiktiven New Yorker Medienimperium rund um einen nicht nur zufällig an Rupert Murdoch erinnernden Megamogul, haben so ihre Zweifel. Schließlich agiert die sechzig jährige Rechtsanwältin und spätere CEO von Waystar Royco schon seit Jahrzehnten an der Spitze eines obszön reichen Familienunternehmens aka Schlangennest aus Intrigen und Menschenfeindlichkeit, das nur ein Ziel kennt: grenzenlose Profitmaximierung. Klar ist, dass die Familienmitglieder – Powerpatriarch Logan und seine vier missratenen Kinder, die sich in der Rangelei um seine Aufmerksamkeit und Nachfolge regelmäßig Messer in den Rücken rammen – keine Seele haben.

Doch Gerri ist gerade wegen ihrer Undurchschaubarkeit so spannend: Ist sie wirklich bereit, jedwede Moral über Bord zu werfen, um in diesem zutiefst misogynen Laden immer weiter aufzusteigen, oder versucht sie mit kleinen, aber entscheidenden Eingriffen so etwas wie Integrität zu bewahren? Inmitten eines Meeres von Abscheulichkeiten, das die Zuschauer*innen mit wohligem Grusel beobachten, ist die strebsame, stets sachlich professionelle Gerri ein Lichtblick. Sie schafft es nicht nur als Einzige, die Arbeit vom Privaten zu trennen (wir erfahren nur, dass sie Witwe ist und Kinder hat, sehen aber nichts), sie versprüht im Kontakt mit dem besonders verkorksten jüngsten Dynastiesohn auch so etwas wie Menschlichkeit. Denn obwohl der dreißig Jahre jüngere Roman eine sexuelle Obsession für Gerri entwickelt, ist sie die Einzige, die ihm jemals zuzuhören scheint – und dabei seine Zudringlichkeiten souverän in Schach hält. Hinter der nüchternen Businessfassade glänzt Gerri mit schillernder Ambivalenz – und demonstriert damit ganz lässig, dass es für FLINT jenseits der sechzig nicht nur stereotype Rollen gibt.
Dieser Text erschien zuerst in Missy 02/22.