Missy Magazine 02/22, Literaturrezis

Das Recht auf Sex
Gibt es ein Recht auf Sex? Können wir unser Begehren beeinflussen? Dürfen Profs mit ihren Studierenden schlafen? Diese und viele andere Fragen rund um Sex, Sexualität oder Konsens diskutiert die Philosophin Amia Srinivasan in ihrem Essayband. Besonders daran ist die Offenheit, mit der sie ihre Gedanken in teils widersprüchliche Richtungen auslegt und so auch feministisch informierte Leser*innen mit Wendungen überrascht und herausfordert, wenn sie z.B. die Versteifung der Konsensdebatte auf rein juristische und bestrafende Perspektiven kritisiert. Statt sich auf die Frage zu beschränken, ob Professor*innen mit ihren Studierenden schlafen dürfen, fragt sie, warum Lehrpersonen das überhaupt wollen und kein Bewusstsein im Umgang mit ihrer Machtposition erlernen. Auch sonst zeichnet sie die komplexen feministischen Debatten der letzten Dekaden rund um Porno, Sexarbeit oder Transfeindlichkeit übersichtlich nach, ohne dabei in Logiken von richtig/falsch zu verbleiben. Ihre Schlussfolgerungen sind trotzdem pointiert und zeugen von einer Auseinandersetzung mit Diskriminierung und Macht in Theorie und Praxis – was man von der deutschen Übersetzung leider nicht behaupten kann. Statt bspw. „trans“ als Adjektiv zu verwenden – wie von queeren Communitys gewünscht und auch im englischen Original der Fall –, wird hier von „Transfrauen“ oder „Transmenschen“ geschrieben und somit werden queerfeindliche Perspektiven verstärkt, gegen die Srinivasans Texte eigentlich argumentieren. Franzis Kabisch

Amia Srinivasan „Das Recht auf Sex“ ( Aus dem Englischen von Claudia Arlinghaus & Anne Emmert. Klett- Cotta, 320 S., 24 Euro )

 

Missy Magazine 02/22, Literaturrezis

Ungefähre Tage
Er steht auf der einen Seite des Machtgefälles, sie auf der anderen. Grün arbeitet als Pfleger auf der geschlossenen Station einer Psychiatrie und trifft dort auf eine Patientin, die schnell eine ungemeine Faszination auf ihn ausübt. Im Laufe von „Ungefähre Tage“ entwickelt die Dynamik zwischen den beiden Protagonist*innen einen Sog, der schnell jegliche Hegemonien infrage stellt. Insbesondere die räumliche Zuschreibung von geistiger Gesundheit auf der einen und Krankheit auf der anderen Seite erfährt in diesen sehr intimen Gedankenspielen eine Negation. Theorie, Praxis und Erfahrungen werden einander brutal offen gegenübergestellt, bis die strikte Grenze zwischen der Psychiatrie als Institution und dem freiheitlichen Außen verschwimmt. Den „Schutzkittel vor der Wirklichkeit“, den Grün bei Außenstehenden erkennt, scheinen hier alle Figuren übergestreift zu haben. In ihrem Romandebüt gelingt es Annika Domainko dabei, unmittelbare Gedankenfetzen so dicht zu vermengen, dass Leser*innen eine hohe Identifikation mit Grün und seiner Vergangenheitsbewältigung entwickeln. In der diffusen Zwischenwelt fließen Realitäten ineinander, während die Traumata der Beteiligten immer wieder durchstoßen und „Ungefähre Tage“ zu einer intensiven, bereichernden Erfahrung machen. Julia Köhler

Annika Domainko „Ungefähre Tage“ ( C. H. Beck, 222 S., 23 Euro )

 

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Leichte Sprache
Anlässlich des Gastauftritts von Spanien auf der Frankfurter Buchmesse können wir dieses Jahr frische Literatur aus dem iberischen Land entdecken. So z. B. „Leichte Sprache“ von Cristina Morales, mehrfach ausgezeichnet, von der Kritik hochgelobt und Bestseller. Morales berichtet darin von vier Schwestern und Cousinen mit kognitiven Beeinträchtigungen, die zusammen in einer betreuten Wohnung in Barcelona leben. Das Leben dieser Frauen wird in unterschiedlichen Textarten erzählt, ob als Gesprächsprotokoll von Plena der Häuserbesetzer*innenszene, Gerichtsakten, Fanzine oder in Form einer Autobiografie, die in Form von WhatsApp-Nachrichten verfasst ist. Morales stellt auch die Erwartungen der Leser*innen auf den Kopf. Die Perspektiven von Nati, Àngels, Patri und Marga sind intellektuell, wütend, feministisch, antifaschistisch und ironisch. Die eine ist sexuell sehr aktiv, die andere rebelliert gegen machistische Strukturen ihres Tanzkurses, während die Nächste in der anarchistischen Szene der Stadt aktiv ist. In diesem Sinne sind die Beeinträchtigungen auch als Metaphern lesbar: Nati z. B. hat das „Schiebetürensyndrom“, das sie innerlich von der patriarchalen Außenwelt abkoppelt – was aber auch als antikapitalistische, feministische Brille verstanden werden kann. „Leichte Sprache“ ist ein unkonventioneller, komplexer und radikaler Roman. Isabella Caldart

Cristina Morales „Leichte Sprache“( Aus dem Spanischen von Friederike von Criegern. Matthes & Seitz Berlin, 400 S., 25 Euro )

 

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Zusammenkunft
Sie hat einen ergonomischen Bürostuhl für 2000 Dollar, einen Führungsjob in einer Londoner Bank, eine Eigentumswohnung, eine private Krankenversicherung. Die namenlose Ich-Erzählerin in Natasha Browns „Zusammenkunft“ hat die Aufstiegsträume ihrer Großeltern erfüllt, die als billige Arbeitskräfte aus der Karibik nach England kamen. Wir treffen sie auf Meetings, in teuren Appartements, auf dem Landsitz der Eltern ihres Freundes, die, auch wenn sie es nie zugeben würden, lieber keine Schwarze Schwiegertochter hätten. Sie plaudert mit weißen, behüteten Mittelschichtskindern, die sich mit ihrer „Diversität“ schmücken, aber ihr Streben nach finanzieller Sicherheit peinlich finden. Und sie registriert noch den letzten hässlichen Spuckefaden im Mund von Kollegen, die mit übergriffigen Blicken, Worten und Berührungen ihre Macht demonstrieren. Nach einer Krebsdiagnose beginnt sie zu fragen, warum sie sich all das antut. Mit scharfem Blick seziert dieser Roman, was struktureller Rassismus, Sexismus und Klassenunterschiede in jeder einzelnen Begegnung anrichten. Und er zeigt, wie wenig diejenigen, die in den Hierarchien oben stehen, davon bemerken wollen. „Du kannst ihre Wahrnehmung nicht durchbrechen“, denkt die Hauptfigur. Brown versucht es mit diesem Buch. Es wurde in England als erfolgreichstes literarisches Debüt des Jahres 2021 gefeiert. Sabine Rohlf

Natasha Brown „Zusammenkunft“( Aus dem Englischen von Jackie Thomae. Suhrkamp, 113 S., 20 Euro )

 

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Super(hairy)woman*
Na, heute schon epiliert, rasiert, gewachst oder gelasert? Das Enthaaren von Beinen, Armen, Oberlippe und Intimzone gehört für viele Frauen ganz selbstverständlich zur täglichen Beauty-Routine. Doch warum sind Haare auf dem Kopf erwünscht und gelten als Gradmesser der Schönheit – sollen am Rest des Körpers oder gar im Gesicht aber nichts zu suchen haben, jedenfalls nicht, wenn es sich um einen als weiblich gelesenen Körper handelt? Bloggerin und Aktivistin Anna C. Paul hat zu diesem Thema einen Reader zusammengestellt, in dem junge und ältere Frauen ihre buchstäblich haarigen Geschichten erzählen. Die Bandbreite reicht dabei von lustvollen Anekdoten über unrasierte Vulven bis zu schambesetzten Erinnerungen, wenn man bspw. von fremden Menschen auf die ungehörige Beinbehaarung angesprochen wurde. Denn dieser Punkt tritt aus jedem Bericht hervor: Körperbehaarung (vorhanden oder nicht) wird wegen des Blicks von außen problematisiert, man fürchtet das Urteil der anderen. Doch wer bestimmt, wo Haare sichtbar wachsen dürfen und warum? Wie groß ist die Wirkmacht von Werbung, Influencer*innen oder den eigenen Freund*innen? „Super(hairy) woman*“ ist ein lebendiges, vielstimmiges Plädoyer für Freiheit und Selbstbestimmung – und die fängt beim eigenen Körper und den daran befindlichen Haaren an.

Christina MohrAnna C. Paul (Hg.) „Super(hairy)woman*. Erfahrungsberichte im Zeitalter der Haarlosigkeit“ ( Ventil Verlag, 224 S., 20Euro )

 

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Kim Hye-jin, Die Tochter

Die Tochter
Irgendwann hat sie „aufgehört zu glauben“, sie „könne etwas verändern“. Dass das Leben etwas Außergewöhnliches sei. Greens Mutter ist über sechzig, Misanthropin und Pflegerin in einem Senior*innenheim. Während sie sich wünscht, dass ihre Tochter Kinder bekommt und einer sicheren Arbeit nachgeht, lässt Green ein finanzieller Engpass wieder bei der Mutter einziehen, mitsamt ihrer Partnerin. Kim Hye-jins Roman setzt sich mit den Themen Altersdiskriminierung, Homofeindlichkeit und dem familiären Konflikt radikal verschiedener Lebensentwürfe auseinander. Die Ich-Perspektive der Mutter liefert Inneneinsichten in eine Seele, deren Herz abhandengekommen zu sein scheint, aber in Wahrheit auf einer großen emotionalen Einsamkeit fußt. Mit der schroffen Erzählperspektive legt Kim ein schwer aushaltbares, aber aufgehendes Entwicklungspotenzial der Figur an. Durch ein plötzliches Ereignis wächst in der Mutter das Verlangen nach Verständnis für das Leben ihrer Tochter. Im Kontext einer sich – hinsichtlich der Arbeitsverhältnisse – grundlegend wandelnden Welt erzählt „Die Tochter“ eine nicht weichgespülte, berührende Geschichte von Mutter und Tochter, die schon lange aufgehört haben, miteinander zu reden. Und wie vermeintliche zwischenmenschliche Gräben verlassen werden können. Damit etwas Neues entsteht. Wenke Bruchmüller

Kim Hye-jin „Die Tochter“ ( Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee. Hanser Berlin, 176 S., 20 Euro )

 

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Die Unschuldigen in Nürnberg
1946 sagt Seweryna Szmaglewska als eine von zwei Zeug*innen aus Polen bei den Nürnberger Prozessen aus. Dreißig Monate war sie als politische Gefangene im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und will mit der Aussage ihre Pflicht gegenüber den Millionen Toten, die nicht mehr selbst sprechen können, erfüllen, aber auch gegenüber den nachkommenden Generationen – als Warnung vor einer Wiederholung. Untergebracht ist sie mit vielen anderen Prozessteilnehmer*innen im Grand Hotel. Dort erlebt sie tagtäglich den krassesten Kontrast: Tagsüber geht es um die unmenschlichsten Gräueltaten der Nazis, abends sucht man Vergessen und Ablenkung in Kabarett, Tanz und Alkohol. Halb Erlebnisbericht, halb Roman entführt Szmaglewska ihre Leser*innen in eine merkwürdige Zwischenwelt: Der Krieg ist vorbei, seine Auswirkungen sind omnipräsent, in den Personen, aber auch im noch völlig zerstörten Nürnberg. Sie bemüht sich, hinter die berichteten Fakten und Erinnerungen zurückzutreten, gibt aber auch ihren Reflexionen als KZ-Überlebende Raum. Es ist eine Lektüre, die man zum Teil kaum aushält, aber eine äußerst wichtige. Eine, bei der die Frage aufkommt, warum man sich so lange Zeit gelassen hat und dieses Buch, 1972 im Original erschienen, erst jetzt ins Deutsche übersetzt wurde. Nicole Hoffmann

Seweryna Szmaglewska „Die Unschuldigen in Nürnberg“ ( Aus dem Polnischen von Marta Kijowska. Schöffling & Co., 536 S., 28 Euro )

 

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Sexuelle Revolution
Laurie Penny ist eine der berühmtesten und lautesten Journalist*innen und Feminist*innen der Jetztzeit. In ihren Artikeln und Büchern setzt sie sich für eine Zukunft, eine Utopie ein, die frei ist von Kapitalismus, Rassismus, Sexismus und jeglicher weiterer Ausbeutung. Dies ist auch für ihr neuestes Werk „Sexuelle Revolution“ der Startpunkt. Auf fast 400 Seiten analysiert sie, wie wir es als Gesellschaft schaffen könnten, von einer „Rape Culture“ zu einer „Consent Culture“ zu gelangen. Dabei zeigt sie auf, wie wir in unserer Gesellschaft durch binäre Erziehung und Sozialisierung feststecken und wo die unterschiedlichen Schnittmengen von Unterdrückung liegen, die aufgebrochen werden müssen. In ihrer bekannten Mischung aus Essay und Analyse nimmt sie zum einen glücklicherweise kein Blatt vor den Mund, was dadurch zum anderen wohlgemerkt teilweise extrem triggernd sein kann. Das Buch ist kein wirkliches Manifest, eher ein Aufruf, unsere grundlegende Haltung zu Sex, Arbeit und Kapital zu überdenken. Denn eine wirkliche sexuelle Revolution kann nur gelingen, wenn wir uns davon verabschieden, Sex als etwas zu sehen, das FLINT passiv zu ertragen (und zu leisten) haben, und erkennen, dass wir die Art der Erzählung komplett auf den Kopf stellen müssen. Ava Weis

Laurie Penny „Sexuelle Revolution“( Aus dem Englischen von Anne Emmert. Edition Nautilus, 384 S., 24 Euro )

 

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Selma, Küsse, Kuddelmuddel
„Selma, Küsse, Kuddelmuddel“ ist der erste Roman, den die Sozialpädagogin und Bloggerin Laura Melina Berling (littlefeminist.blog) geschrieben hat. Das Buch richtet sich an junge Heranwachsende. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen die zwölfjährige Selma und ihre Freund*innen. Als in der Schule eines Tages eine Liste auftaucht, in der Mädchen aus der Klasse auf einer Skala aufgrund ihres Äußeren bewertet werden, eines der Mädchen daraufhin nicht aufhören kann zu weinen und jemand heimlich Bikinifotos von einer Mitschülerin verschickt, nimmt sich die Girl Gang vor, die Übeltäter zu stoppen. Weil die zuständigen Erwachsenen sich der Sache nicht annehmen wollen, handeln sie selbst – und das erfolgreich. Es geht allerdings nicht nur um Freund*innenschaft, Solidarität und Selbstermächtigung, sondern auch um körperliche Veränderungen und weitere Themen, die in der Pubertät Fragen aufwerfen. Zusätzlich gibt es immer wieder (großartig von Hannah Rödel) illustrierte Infoboxen, z. B. zu Brustwachstum, Periode und Hygiene, aber auch zu Küssen und Konsens. Sämtliche in die Geschichte eingebettete Fakten, Hinweise und Anregungen kommen nie belehrend, sondern immer mit Gefühl, Leichtigkeit und auf Augenhöhe daher. Mein elfjähriges Kind beschreibt das Buch in drei Worten folgendermaßen: lustig, interessant und spannend. Ich füge noch fein und intersektional hinzu. Carla Heher

Laura Melina Berling „Selma, Küsse, Kuddelmuddel“ ( Illustriert von Hannah Rödel. Leykam Verlag, 160 S., 18 Euro, ab 10 Jahren )

 

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Die Wut, die bleibt
März 2021, Österreich nach dem Lockdown. In einer Siedlung am Salzburger Stadtrand springt Helene, Ende dreißig, vom Balkon. Zurück bleiben ihre drei Kinder, die 16-jährige Lola und zwei Buben im Kleinkindalter, ein hilfloser bis unfähiger Ehemann und Helenes beste Freundin Sarah. Sarah, eigentlich kinderlose Krimi-Bestsellerautorin, rutscht nach und nach in Helenes Rolle und beginnt zu verstehen, wie belastend und einsam Mutterschaft und Care- Arbeit für Helene waren. Lola radikalisiert sich hingegen in ihrer Trauer via Instagram feministisch: Von der Lektüre des Missy Magazine leider wenig empowert, geht sie zum Kampfsport und erfährt die befreiende Kraft der Rache – und der Freundinnenschaft. Wie
auch Mareike Fallwickls frühere Romane ist „Die Wut,
die bleibt“ ein Pageturner,
in einer fast schon zu schönen Sprache geschrieben.
Die Versuchsanordnung des
„Rollentauschs“ könnte ein
wenig plakativ wirken, doch ist sie vor allem mitreißend. Herzzerreißend beschreibt Fallwickl das Leben mit Kleinkindern, ein bisschen blass bleibt hingegen Sarahs Kinderwunsch und Singleleben. Feministische Generationenkonflikte, sexualisierte Gewalt, sexistische Zumutungen des Alltags, die Einsamkeit der Mutterschaft, all das verarbeitet Fallwickl ungeheuer gegenwärtig vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie. Ein im besten Sinne lautes Buch. Anna Mayrhauser

Mareike Fallwickl „Die Wut, die bleibt“ ( Rowohlt, 384 S., 22 Euro )

 

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Die Eistaucher
Sie finden sich an einer katholischen Privatschule: Iga, Jess und Ras – „die Eistaucher“. Während ihre Mitschüler Rainer und Sebastian heißen, Barbour-Jacken tragen und Rilke rezitieren, sind die Eistaucher queer, migrantisch und so vieles mehr, was man an diesem Ort zunächst nicht erwarten würde. Über Iga schwebt die Drohung, zu ihrem Vater nach Polen ziehen zu müssen, sollte sie sich einen weiteren Schulverweis einhandeln. Ras’ Familie kommt aus
Russland und hat es dennoch geschafft, „aus dem
Nichts heraus“. Jess ist
queer, selbstbewusst und
immer gut gekleidet, das
Geld kam allerdings erst mit
dem Stiefvater Ernst. Viele
Jahre später betreibt Kaśka
Brylas Ich-Erzähler Saša einen Campingplatz in der Natur. Er blickt zurück, auf seine Geschichte, die der Eistaucher und wie sie schließlich zusammenliefen. Saša ist ein Täter, ein Vergewaltiger. Teilweise ist es schwer zu ertragen, dass dennoch er es ist, der die Geschichte erzählt. Was genau passierte, lässt Bryla die Lesenden lange nicht wissen, außer, dass es entgleiste, dass zwei Polizisten im Spiel waren, dass Mollies flogen und dass es brannte. Wie in ihrem ersten Roman „Roter Affe“ verwebt Bryla gekonnt Fragen von Schuld und Verantwortung in einen bis zur letzten Seite spannenden Plot. Mit ihren ambivalenten Figuren – gewaltvoll wie feinfühlig – fragt sie, was Gerechtigkeit bedeutet und was Menschen bereit sind zu riskieren. Juri Wasenmüller

Kaśka Bryla „Die Eistaucher“ (Residenz Verlag, 320 S., 24 Euro )

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 02/22.