Text: Marie Minkov

Als ich als Jugendliche einmal bei einer Wanderung während einer Klassenfahrt nicht mehr konnte und eine Pause brauchte, rief einer meiner Klassenkameraden durch den Wald: „Im Krieg mussten sie auch Leute zurücklassen!“ und versuchte, die Gruppe dazu anzuspornen, ohne mich weiterzugehen.

Auch wenn das zu diesem Zeitpunkt ein schlechter Witz auf meine Kosten sein sollte, der mehr über die Persönlichkeit meines Klassenkameraden als über mich aussagt, hatte er nicht unrecht: Menschen werden zurückgelassen. Wenn in Deutschland Krieg wäre, hätte ich als Mensch mit Behinderung andere Fluchtchancen als viele meiner Freund*innen. Flucht ist nicht barrierefrei, das lernen wir, wenn auf Aufzügen der Hinweis „Im Brandfall nicht benutzen“ steht und man sich fragen muss, wie ein Mensch im Rollstuhl aus dem fünften Stock eines brennenden Gebäudes fliehen soll. Und wir lernen es, wenn es darum geht, auf unsicheren, ungewissen Routen Landesgrenzen zu überqueren.

© Xueh Margrini Troll

Karsten Dietze von Handicap International sagte in der neuen Podcast-Folge von „Die neue Norm“, dass viel mehr Geflüchtete mit Behinderung aus der Ukraine in Deutschland ankommen als 2015 aus Syrien, weil der Fluchtweg kürzer und unkomplizierter ist. Sie haben zumindest teilweise eine Möglichkeit zur Flucht, die viele Menschen mit Behinderung aus nicht-europäischen Ländern nicht haben.

Marie Minkov

Marie Minkov arbeitet als freie Autorin und Illustratorin und studiert Literarisches Schreiben in Hildesheim. In ihren Texten befasst sie sich mit Behinderung, Norm und Scham und untersucht das Inklusionspotential autobiografischer Texte.

Flucht ist ein Prozess, der niemandem leicht gemacht wird und von dem Menschen unterschiedlich betroffen sind. Männer, trans Frauen und nicht-binäre Menschen zwischen 18 und 60 Jahren, auf deren Ausweis das Kennzeichen „Mann“ steht, sind wehrpflichtig und dürfen die Ukraine nicht verlassen. An den Grenzen und bei Aufnahmeverfahren haben oft rassistische Strukturen einen Einfluss darauf, wer durchgelassen wird und wer nicht. Während ich das in den Medien verfolge, schaltet YouTube ständig einen Werbespot der Bundeswehr mit dem Slogan „Schütze unsere Heimat“. Und irgendwelche Journalisten meinen, über die Rückkehr alter Männlichkeit schreiben zu müssen, die durch Krieg und Aufrüstung ausgelöst wird. Dann scheint es, als würde der Feminismus in diesen Zeiten in den Hintergrund rücken, dabei müsste es genau andersrum sein. Krieg marginalisiert.

Die Aussage meines Klassenkameraden, dass im Krieg behinderte Menschen zurückgelassen werden, ist also nicht falsch. Auch wenn die Formulierung „zurücklassen“ immer sehr passiv klingt, als würden die behinderten Menschen nur so dasitzen und darauf warten, dass sie jemand auf ihre Schultern hievt und mitnimmt. Vielmehr sollte die Frage lauten: Wer hat die Möglichkeit, aus eigener Initiative zu fliehen? Wem wird diese Möglichkeit verwehrt und wer braucht Unterstützung? Wie könnte diese Unterstützung aussehen?

Während die Zerstörung von Straßen und Infrastruktur Barrierefreiheit zunichte und viele Wege unmöglich mit Hilfsmitteln wie einem Rollstuhl beschreitbar macht, sind auch die Routen der Flucht ungewiss. Es gibt keine Informationen darüber, welche Barrieren auf den Strecken passiert werden müssen, wie lang sie sind, wie viel Wartezeit einberechnet werden muss, ob es Möglichkeiten gibt, sich auszuruhen oder versorgt zu werden. Nachrichten über Angriffe ohne Untertitel oder Dolmetschung enthalten vielen behinderten Menschen lebensnotwendige Informationen vor.

Das Problem herrscht nicht nur in Kriegsgebieten, sondern auch an den Orten, an denen die Flüchtenden ankommen. Im deutschen Asyl-Aufnahmesystem ist Behinderung keine Kategorie, auf die Rücksicht genommen wird. Im Aufnahmeprozess werden Bedarfe nicht abgefragt. Schließlich werden viele Flüchtende mit Behinderung in barrierevolle Unterkünfte gesteckt, aus denen sie nicht selbstständig rein- und rauskommen. In Deutschland haben geflüchtete Menschen keinen Rechtsanspruch auf Teilhabeleistungen – das deutsche Recht, selbstbestimmt zu leben, gilt hier nicht.

Wie kommen also behinderte Menschen auf der Flucht und in Deutschland an Versorgung, Informationen, Medizin und Hilfsmittel, an Pflegeunterstützung? Da die Regierungen kaum Hilfe anbieten, geht es, wie in vielen Krisensituationen, darum, sich gegenseitig zu unterstützen, Wissen zu teilen, Hilfe zu organisieren. Es braucht Fahrdienste, die Menschen mit Behinderung bei der Flucht helfen, aber auch in Deutschland bei der Mobilität unterstützen. Es braucht Wissen über Barrierefreiheit von Arztpraxen oder andere wichtigen Anlaufstellen, es braucht Übersetzungsmöglichkeiten, auch in Gebärdensprachen, die sich von Land zu Land unterscheiden, es braucht Hilfsmittel und Versorgungsmöglichkeiten. Unterm Strich braucht es die Verbesserung von Strukturen, die letztendlich nicht nur flüchtenden Menschen zugutekommen, sondern allen.

Wenn ihr unterstützen wollt und könnt, bspw. von barrierefreien Wohnräumen wisst, Übersetzung der Gebärdensprachen anbieten könnt, spenden oder Ressourcen teilen wollt, das Team von Die Neue Norm hat hier viele Infos zur Hilfe von behinderten Geflüchteten und anderen marginalisierten Gruppen zusammengestellt: https://dieneuenorm.de/podcast/krieg-in-der-ukraine/