Interview: Rayén Garance Feil

In einem Regie- und Produktionsstatement sagt ihr, dass ihr einen Film über Rassismus machen, aber auch Diversität in Bezug auf Herkunft, Körper und Sexualität abbilden wolltet. Warum ist euch ein intersektionaler Blick wichtig und wie habt ihr versucht, das umzusetzen?
Sara Fazilat: Viele Menschen sind in der deutschen Film- und Fernsehlandschaft nicht repräsentiert. Vor allem Frauen ab 35. Aber unsere Lebensrealität ist divers: Wir sprechen in unseren Freundeskreisen ganz selbstverständlich unterschiedliche Sprachen. Wir haben Eltern aus anderen Ländern oder sind selbst woanders geboren, aber identifizieren uns als deutsch. Oder wir haben eine „andere“ sexuelle Orientierung.
Eline Gehring: Als wir uns zu dritt zusammengeschlossen haben, haben wir gemerkt, dass

wir alle, obwohl wir als Frauen, als PoC, als Lesben sehr unterschiedliche Diskriminierungen erleben, viele Schnittmengen haben. Die Ohnmacht, die wir in vielen Lebenssituationen empfinden, wollten wir in unserem Film erzählen. Dabei war uns wichtig, von einer Frauenfigur zu erzählen, die durch ein traumatisches Erlebnis geht, ohne dabei das Klischeeopfer zu sein, und sich selbst empowert.

Wie war es für euren gemeinsamen Schreibprozess am Drehbuch, diese verschiedenen, aber auch geteilten gesellschaftlichen Positionierungen einzubringen?
Francy Fabritz: Wir mussten uns untereinander austauschen. Als weiße Personen mussten vor allem Eline und ich Sara erst mal anders zuhören. Aber Sara auch uns, als heterosexuelle Person im Gegensatz zu mir und Eline. Und gleichzeitig teilen wir in Berlin auch eine Blase. Auch das wollten wir darstellen.

Missy Magazine 03/22, Kulturstory, What the fuck, Nico
Die Deutsch-Perserin Nico (Sara Fazilat) wurde bei einem rassistisch motivierten Angriff schwer verletzt – hartes Karate-Training hilft ihr, sich wieder ihrer eigenen Stärke bewusst zu werden und ihr Trauma zu bekämpfen. © Darling Berlin / UCM.ONE

Die Queerness der Protagonist*innen ist beim genauen Hinschauen in gewissen Szenen zwar recht offensichtlich, aber sie wird nie explizit benannt. Warum deutet ihr sie nur an?
SF: Uns war ein selbstverständliches Erzählen wichtig, auch in Bezug auf die sexuelle Orientierung. Wir sagen nicht: „Nicos Eltern kommen aus einem bestimmten Land“, sondern sie spricht selbstverständlich verschiedene Sprachen. Wir haben extra eine Sportart gewählt, die sehr männerdominiert ist, und sie betreibt diesen Sport als Frau nicht, weil sie abnehmen will. So ist es auch mit der Queerness. Wir hatten es einfach satt, immer wieder diese Filme zu sehen, in denen all das problematisiert wird. Wir wollten zeigen: Das ist normal. Denn wer bestimmt denn überhaupt, wer oder was der Norm angehört? Auch beim Kaffee heißt es immer: „Möchtest du normale Milch?“ Aber eigentlich ist Kuhmilch gemeint.

Der Großteil eurer Figuren hat genderneutrale Namen, die auch nicht auf ihre Herkunft schließen lassen. Ist das auch ein Versuch, die Identifikationsmöglichkeit für das Publikum größer zu machen?
SF: Wir wollen mit Stereotypen brechen. Ich selbst heiße Sara. Wie oft ich Rollenanfragen hatte, wo ich Aische heißen sollte. Das ist ein wunderschöner Name, aber wenn ständig derselbe Name für bestimmte Menschen stehen soll, ist das sehr einseitig. Ich hatte auch mal ein Casting, wo der Name deutsch-europäisch war, und als ich die Rolle bekommen habe, sollte ich plötzlich einen türkischen Nachnamen bekommen. Es ist jetzt Zeit, dass das nicht mehr so sein muss.

Trotz all dieser Selbstverständlichkeiten, mit denen ihr Nico durch ihren Alltag gehen lasst, erfährt sie einen rassistischen Überfall, wird zusammengeschlagen. Das ist natürlich ein einschneidendes und extremes Ereignis. Warum habt ihr euch dafür entschieden und warum sieht man eher weniger Alltagsrassismus im Film?
EG: Nico lebt in Berlin und macht sich überhaupt keine Gedanken darüber, dass irgendwer denken könnte, sie gehöre nicht dazu. Um diesen Schockmoment nicht nur für das Publikum stark zu machen, sondern vor allem auch für Nico, ist die Kamera immer so nah an ihrem Gesicht, um diese Entgleisung, dieses „What the fuck?!“ herauszuarbeiten.
SF: Und es ist trotzdem noch einiges an Alltagsrassismus drin. Etwa die Autofahrerin in der Anfangsszene, die zu Nico sagt: „Verpiss dich, du Fotze!“ Oft werden Sachen nämlich auf einer anderen Ebene – hier z. B. fäkal und sexualisierend – verhandelt, sind aber eigentlich rassistisch gemeint. Es gibt so viele Momente, wo dir klar ist, dass es definitiv mit Rassismus zu tun hat. Aber so ein Anschlag kann nicht missverstanden werden.
FF: Uns war auch wichtig, dass bei dem rassistischen Übergriff die Anführerin eine Frau ist. Erstens, weil wir das Klischee „Rechtsradikale sind glatzköpfige Männer“ irreführend finden. Aber gleichzeitig auch, weil im Film selten die Aggressionen von Frauen gezeigt werden.

Auch Nicos Wut wird gezeigt. Für deine Darstellung von Nico hast du den Max Ophüls Preis bekommen, Sara. Was war die größte Herausforderung für dich in der Rolle?
SF: Nico wird im Film körperlich verletzt. Das Karatetraining hilft ihr dabei, zu ihrem Körper zurückzukommen, sich zu empowern und zu lernen, sich zu verteidigen. Um das besser zu verkörpern, habe ich mit Karate angefangen. Dreimal die Woche, immer zwei Stunden hintereinander, Prüfungen usw. Es war mir wichtig, nicht einfach zu behaupten, dass ich das kann.

„Nico“ ist auch dein Abschlussfilm im Fach Produktion an der DFFB, du hast als Produzentin dafür den NO FEAR Award bekommen und bist Gründerin der Produktionsfirma Third Culture Kids. Was hat dich dazu bewogen, selbst zu produzieren?
SF: Ich habe angefangen, Produktion zu studieren, weil ich die Inhalte mitgestalten wollte. Weil ich als Schauspielerin künstlerisch gestalten kann, aber nicht thematisch. Oft habe ich die Reproduktion von diesen ganzen Klischees gesehen und dachte, ich will Geschichten erzählen, die nicht erzählt werden.
EG: Der Erfolg von „Nico“ ist wichtig, weil dadurch die Redaktionen, die die deutsche Film- und Fernsehlandschaft leider immer noch bestimmen und meist aus weißen Männern ab fünfzig bestehen, ermutigt werden, auf Filme zu vertrauen, die nicht erklären, warum Nico überhaupt Nico heißt, woher sie kommt, welche Sprache sie da genau spricht und ob sie sich zu Frauen hingezogen fühlt. Das Publikum wird am laufenden Band unterschätzt.

Was muss sich am deutschen Film noch ändern?
FF: Mehr lesbische Sichtweisen. Mehr Butches im Film. Es kann gar nicht divers genug werden. Vor allem, wenn man sich die in aktuellen Filmen oft sehr eingeschränkte Definition von „divers“ anschaut. Wenn wir mal an den Punkt kommen würden, Gefühle zu erzählen und ganz alltägliche Probleme von Queers und BIPoC, statt immer nur Coming-out-Storys und die Rechtfertigung von Herkunft zu wiederholen. Das würde ich mir wünschen. Sowohl vor der Kamera als auch hinter der Kamera.

„Nico“ DE 2021Regie: Eline Gehring. Mit: Sara Fazilat, Javeh Asefdjah, Sara Klimoska u. a., 79 Min., Start: 12.05.

Dieser Text erschien zuerst in Missy 03/22.