Von Mina Khan und Yasmin Fahbod
Illustration: Karina Tungari

Die Kampagne #LetUsTalk fing mit einem Tweet von der umstrittenen iranischen, in den USA lebenden Frauenaktivistin Masih Alinejad an. Sie hatte ein Bild aus ihrer Kindheit mit Zwangsverschleierung neben einem anderen Bild von heute ohne Verschleierung auf Twitter geteilt und dazu geschrieben: „Mir wurde gesagt, wenn ich keinen Hijab trage, fliege ich von der Schule, werde ins Gefängnis geworfen, ausgepeitscht, verprügelt und aus meinem Land vertrieben. Im Westen sagt man mir, dass das Erzählen meiner Geschichte Islamophobie auslösen würde. Ich bin eine Frau aus dem Nahen Osten und ich habe Angst vor der islamistischen Ideologie. Lasst uns reden (LetUsTalk).“ Ihre klare Forderung: „Lasst uns im Westen über den Hijab und die damit verbundene Unterdrückung sprechen, ohne uns direkt ‚Islamophobie‘ vorzuwerfen.“

Die Debatte um sogenannte Islamophobie in „westlichen Gesellschaften“ entwickelt sich langsam in eine absurde Richtung. Der umstrittene Begriff „Islamophobie“, der ursprünglich die unerklärte pauschalisierte „Angst“ vor allen als Muslim*innen gelesenen Menschen erklären sollte, wird jetzt inflationär benutzt. Mahya Ostovar, Professorin an der Paris School of Business, die auf Twitter unter dem Namen Aghdas Khanoom schreibt, sagte in einem Gespräch für diesen Artikel darüber, wie schwer es ist, zwischen valider Kritik am Islam und „Islamophobie“ zu differenzieren: „Die Kritik am Islam wird in einer Stimmung der progressiven Aktivist*innen im westlichen Kontext, in der sich der Respekt vor Minderheiten zum kulturellen Relativismus verwandelt, noch schwieriger. Dabei leben viele von uns mit großem Trauma, etwa, weil wir jahrelang gezwungen wurden, Hijab zu tragen, und ein Recht haben, über dieses Trauma zu sprechen. #LetUsTalk bietet diesen Stimmen eine Plattform.“

Eine weitere Organisatorin der Kampagne: die in den USA lebende iranische Künstlerin Shahrzad Changalvaee, die auf Twitter unter dem Namen SharObalaa schreibt. Wir haben mit ihr darüber gesprochen, an wen sich #Let- UsTalk richtet und warum. „#LetUsTalk spricht die Vertreter*innen vermeintlich fortschrittlicher, eher konsumorientierter Sichtweisen im Westen an, die unsere Kritik am Hijab und anderen diskriminierenden Scharia-Regeln als verinnerlichte Frauen- und Islamfeindlichkeit bezeichnen. Unsere persönlichen Erfahrungen werden oft auf ‚die Erfahrung mit Scharia im Iran‘ beschränkt. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem der Hijab im Westen als Ikone der Vielfalt und Symbol der Fortschrittlichkeit der Institutionen zelebriert wird.“ Problematisch dabei findet sie, dass „der Hijab nicht nur heuchlerisch von seiner patriarchalen Unterdrückungskomponente losgelöst wird“, sondern dass nur selten erwähnt wird, „dass der Hijab als ‚Wahl‘ nur in säkularen Gesellschaften möglich ist“. Sie setzt fort: „Daher wird unsere Kritik am Hijab und an Scharia-Gesetzen ignoriert oder gar angegriffen, indem geborenen Muslimen, die islamische Werte kritisieren, ‚Islamophobie‘ oder sogar Hass gegen Muslim*innen vorgeworfen wird. Dabei praktizieren wir lediglich Selbstkritik, die jede Gesellschaft braucht, um voranzukommen.“

Missy Magazine 03/22, Real Talk, #LetUsTalk
© Karina Tungari

Mahya Ostovar, Shahrzad Changalvaee und viele andere iranische Frauen, die durch #LetUsTalk zu Wort kommen, empfinden die Reaktion des „Westens“ auf ihre Kritik häufig als Whitesplaining privilegierter, meist weißer Menschen, die ihnen raten, sich nicht weiter selbst zu diskriminieren. Eine paternalistische Idee, die wenig mit progressiven Visionen im Kontext der Geschlechtergerechtigkeit zu tun hat. Wie absurd und paternalistisch das tatsächlich ist, hat sich etwa am Beispiel von Tim Mynetts Reaktion auf Masih Alinejads Artikel in der „Washington Post“ gezeigt: Alinejad hatte einen kritischen Kommentar zum Gesetzentwurf der US-Politikerin Ilhan Omar, Islamophobie zu kriminalisieren, verfasst. Darin stellt sie konkrete Fragen: Was heißt überhaupt Islamophobie und wie unterscheidet sich diese von einer Kritik, die von innen kommt? Dürfen wir die Islamische Republik im Iran oder die Taliban nicht kritisieren, ohne als islamophob zu gelten? Mynett, Ilhan Omars Ehemann, kommentierte Masih Alinejads Artikel auf Twitter mit den Worten: „Diese Frau möchte Islamophobie also nicht bekämpfen, weil sie keine Muslime mag.“Es zeugt geradezu von einer Unfähigkeit zu differenzieren, wenn ein weißer Mann solchen Fragen mit dem Vorwurf der „Islamophobie“ begegnet. Noch absurder wird es, wenn man in Betracht zieht, dass Masih Alinejad aus einer islamisch geprägten Familie kommt und in ihrem Artikel mehrfach äußert, dass sie ihrer Familie trotz der Differenzen sehr nah ist.

Die Kampagne #LetUsTalk hat eine sehr entscheidende elementare Gemeinsamkeit mit der #MeToo-Bewegung in der ganzen Welt, nämlich ihren erzählerischen Aspekt. Frauen teilen unter diesem Hashtag ihre Leidens- und Kampfgeschichten unter der strukturellen patriarchalen Gewalt im Islam und in der Scharia. Das Erzählen ihrer gelebten Erfahrungen legt Konflikte offen, die nicht ignoriert werden können, ob es uns gefällt oder nicht.
Weil den Organisatorinnen dieser Kampagne sehr oft vorgeworfen wird, die Belange der Hijab tragenden Frauen im Westen zu ignorieren, haben wir Shahrzad Changalvaee gefragt, was sie davon hält. „Ich kann mir vorstellen, dass Hijabis in der EU und den USA auf unterschiedlichen Ebenen mit Herausforderungen konfrontiert sind. Einerseits üben viele muslimische Familien und Gemeinschaften, die den Hijab als religiöses Muss und als wichtigstes Identitätssymbol betonen, großen Druck auf Frauen ihrer Communitys aus, die Präsenz ihrer Gemeinschaft in der Gesellschaft zu demonstrieren. Gleichzeitig haben politische Ereignisse wie die Islamische Revolution von 1979 im Iran und die Geiselnahme der US-amerikanischen Botschaft, der 11. September, das Erscheinen von ISIS und Dschihadismus oder die Eroberung Afghanistans durch die Taliban eine neue Art der Feindlichkeit gegenüber Muslimen hervorgerufen. Diese fremdenfeindliche Angst und Wut trifft Frauen in Hijab oft als eine der Ersten, da sie visuell identifiziert werden“, so Shahrzad Changalvaee.

Eine weitere Protagonistin, mit der wir gesprochen haben, ist die iranische Schauspielerin Shaghayegh Norouzi. Vor einigen Jahren sprach sie erstmals öffentlich über die sexuelle Belästigung in der iranischen Filmbranche, heute gehört Norouzi zu den Organisatorinnen der iranischen #MeToo-Bewegung und hat sich auch der #LetUsTalk-Kampagne angeschlossen: „Die Unterdrückung der Frauen ist die Achillessehne des politischen Islams. Was mir an der Kampagne #LetUsTalk wichtig ist, ist die Tatsache, dass wir uns damit an die internationale Gemeinschaft wenden und sagen: Wenn Sie das Ausmaß der Gewalt und der Rückschritte des politischen Islams verstehen wollen, müssen Sie uns Frauen aus den betroffenen Gesellschaften zu Wort kommen lassen.“

Ausschlaggebend ist die Anerkennung der Tatsache, dass unterschiedliche Formen des Patriarchats gleichzeitig bekämpft werden müssen. Als Chris Allen, der britische Soziologieprofessor an der Universität von Leicester, den Begriff „Islamophobie“ prägte, meinte er sehr wahrscheinlich damit keine lange Debatte über den „guten oder schlechten“ Islam. Vielmehr bezeichnete er damit eine Ideologie, die die Menschheit pauschal in „Muslime und Nicht-Muslime“ teilt und die als muslimisch gelesenen Menschen per se als „schlecht“ darstellt. Rassistisch daran ist die Unterteilung in muslimisch und nicht-muslimisch anhand von Elementen wie etwa dem Namen oder der Sprache, die man spricht. Wer sich mit Chris Allens Texten zu „Islamophobie“ beschäftigt, weiß auch, dass es bei dieser sozialpolitischen Kritik tatsächlich eher um eine Art „Angst“ geht, die natürlich beeinflusst von rassistisch geprägten Gesellschaftsstrukturen ist, jedoch vorrangig aus einem Wissensmangel herrührt. Im Allgemeinen wird der Begriff „Phobie“ im sozialpolitischen Kontext, wenn überhaupt, immer erst dann verwendet, wenn der Mangel an Wissen sich zur Feindlichkeit entwickelt. So auch im Kontext der Homophobie, Biphobie, Trans- und Interphobie, Xenophobie etc. – wobei der Begriff selbst mittlerweile sehr kritisch diskutiert wird, weil er eher pathologisiert. Die Assoziation des sozialpolitischen Begriffs „Phobie“ mit dem gleichen Begriff in der Psychologie führt auch in politischen Debatten oft zu Verwirrung. Das heißt konkret, dass viele denken, die politisch soziale „Phobie“ müsse therapeutisch behandelt werden.

Die Debatte um den Begriff der „Islamophobie“ darf die Kritik an patriarchalen Unterdrückungsmechanismen im Islam jedoch nicht einschränken, denn dort, wo Frauen und LGBTQI-Personen aus islamisch geprägten Ländern „Islamophobie“ vorgeworfen wird, fängt die Absurdität der Debatte an. Genau darum geht es bei #LetUsTalk: Viele Frauen und LGBTQI-Personen aus islamisch geprägten Gesellschaften mit unterschiedlichen politischen Einstellungen erzählen im Rahmen der Aktion über ihre Erfahrungen mit dem Hijab und den islamischen Normen und Gesetzen, mit denen sie tagtäglich konfrontiert sind. Westliche progressive Kräfte sollten ihre eigenen rassistischen Einstellungen nicht auf Gesellschaften projizieren, mit denen sie sich nicht genügend befasst haben. Denn was in einem westlichen Kontext „Phobie“ heißt, kann im Kontext des Irans oder von Afghanistan nicht nur eine berechtigte Angst sein, sondern sogar ein Trauma.

Wir, zwei linke iranische Feministinnen, hoffen, dass wir die Debatte um die Islamfeindlichkeit im Westen und Islam-Traumata in den islamisch geprägten Gesellschaften zusammenbringen können: Als Musliminnen geboren haben wir sowohl den Rassismus, der damit verbunden ist, als auch die Unterdrückung durch Scharia-Gesetze in einer islamisch geprägten Gesellschaft erlebt. Lasst uns sprechen.

Dieser Text erschien zuerst in Missy 03/22.