Von Olga Boychenko

Wenn mich Menschen früher fragten, woher ich komme, und ich sagte, dass ich in Kyiv geboren bin, erkundigten sich etliche noch mal, ob „Kiel“ die richtige Antwort sei – oder sahen mich fragend an. Wenn ich dann, ungläubig, dass die Stadt wirklich so unbekannt zu sein schien, die Ukraine als meinen Geburtsort nannte, kam die Reaktion: „Ah ja, aus dem Ostblock irgendwo. Das sieht man auch an deinem Gesicht. 
Und so fing ich an, selbst der Einfachheit wegen vom „Ostblock“ zu sprechen, wenn ich Geschichten und Anekdoten von meiner Familie erzählte. Aber auch allgemein von jeder Person, die ich kannte, die östlicher als Dresden und südöstlicher als Österreich sozialisiert wurde.
Diese Fremdbezeichnung fühlte sich von Anfang an abwertend an, aber so bin ich Dialogen und Kommentaren aus dem Weg gegangen, die sich für mich noch schmerzhafter anfühlten. Aus diesem Grund reclaimten auch andere Menschen aus dem (süd-) osteuropäischen Raum diesen Ausdruck. Da der Begriff sowohl in der deutschen Fernsehlandschaft als auch im Alltag oftmals in einem klassistischen Kontext genutzt wurde, häufig mit Reinigungs- oder Sexarbeit verbunden, nutzten einige Künstler*innen diesen Aspekt und rupften mit Bezügen zu Sportanzügen, Wodka und russischen Schimpfworten im exzessiv überspitzten Dialekt das kapitalistische System. Andere konnten sich weder damit identifizieren noch darüber lachen, ständig als „die Russen“ wahrgenommen zu werden.

In den letzten Jahren ist deshalb eine selbstermächtigende Bewegung aus ebendiesem sogenannten Ostblock entstanden, die die Deutungshoheit der Dominanzgesellschaft abmontierte, indem sie den Terminus durch den selbst gewählten Begriff „Post- Ost“ ersetzte. Diese Selbstbezeichnung hat für jede Person aus der Post-Ost-Community unter Umständen eine individuelle Bedeutung, divers wie die Mitglieder dieser Gruppe. Denn bei Post-Ost geht es darum, die ähnlichen Erfahrungen, die nicht an Nationalitäten und Grenzen gebunden sind, zu pflegen, aber auch genau diese Vielfalt der Menschen zuzulassen. Denn die Herkunft, Sozialisierung, Religion und Kultur kann bei Post-Ost eine komplett unterschiedliche sein. So gehören z. B. sowohl Tscherkess*innen, Burjat*innen als auch Pol*innen, Bosniak*innen und Est*innen dazu. Deshalb ist Post-Ost ein Begriff, der in unterschiedlichen Kreisen genutzt wird und sich dadurch in permanenter Selbstfindungsphase befindet. Jede multiethnische Post-Ost-Person trägt zu diesem Wandel bei und prägt diese selbst gewählte Identität. Dadurch wächst auch der gemeinsame Erfahrungspool und der Fokus auf Berührungspunkte, Nuancierungen, aber auch auf die absolute Verschiedenartigkeit.

Themen, die die Post-Ost-Community verbinden, sind u. a. Rassismus und Anti-slawismus. Beide gehen ineinander über und knüpfen aneinander an, denn in der Community gibt es sowohl rassifizierte als auch white passing Menschen. Während in den Post-Ost-Regionen BIPoC Rassismus erfahren, machen auch weiß gelesene Menschen in Deutschland Erfahrungen mit antislawischer Diskriminierung. Diese Abstufungen und Differenzen anzuerkennen, ist ein wichtiger Teil der politischen Arbeit von Post-Ost.

Wenn mich heute Menschen fragen, woher ich komme, sage ich entspannt, dass ich eine Post-Ost bin. Dabei erwarte ich zwar noch immer den gleichen verwirrten Gesichtsausdruck wie früher, habe ihn aber durch die selbst gewählte Bezeichnung selbst zu verantworten.

Dieser Text erschien zuerst in Missy 03/22.