Missy Magazine 03/22, Filmrezensionen, als Susan Sontag im Publikum saß
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Als Susan Sontag im Publikum saß
Am 30. April 1971 fand in der New Yorker Town Hall die Podiumsdiskussion „A Dialog on Women’s Liberation“ statt. Germaine Greer, Jill Johnston, Jacqueline Ceballos und Diana Trilling hielten Kurzvorträge, Norman Mailer moderierte, im Publikum saßen u. a. Betty Friedan und Susan Sontag. Fünfzig Jahre später wurde die Veranstaltung im Berliner Ballhaus Ost als Reenactment aufgeführt, in den Rollen der Feministinnen die Schauspielerinnen Saralisa Volm, die auch am Drehbuch mitschrieb, Luise Helm, Heike-Melba Fendel und Céline Yildirim; RP Kahl, der Regie führte, gab Norman Mailer. Der Dokumentarfilm zeigt das Reenactment, unterbrochen von Szenen, in denen die Schauspieler*innen selbst über die Texte, die sie sprechen, diskutieren, sie auf die Gegenwart beziehen und ihre eigenen Rollen reflektieren. Diese Überlegungen sind an manchen Stellen interessant – wenn sie dahin gehen, wo es weh tut, etwa, wenn RP Kahl darüber nachdenkt, was er mit dem gockel- und machohaft agierenden Norman Mailer, der seine Kolleginnen konsequent „Ladies Writers“ nennt, gemeinsam haben könnte – und was eher nicht. An anderen aber redundant, weil Schauspieler*innen nun mal nicht automatisch Expert*innen für die Historie der zweiten Welle des Feminismus sind. Weniger Kommentare und mehr Wirken der Ursprungstexte hätten dem Film gutgetan, ein spannendes Plädoyer für Streitkultur ist er trotzdem geworden.

Anna Mayrhauser„Als Susan Sontag im Publikum saß“ DE 2021 ( Regie: RP Kahl. Mit: Saralisa Volm, Luise Helm, Heike-Melba Fendel, Céline Yildirim u. a., 86 Min., Start: 05.05. )

 

Missy Magazine 03/22, Filmrezensionen,Mein Name ist Violeta
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Mein Name ist Violeta
„Protect trans kids.“ Dieser Satz ist mittlerweile wichtiger denn je, wenn man sich anschaut, wie viele Anti-trans-Gesetze weltweit nicht nur laufend, sondern vermehrt beschlossen werden und wie lange es mittlerweile bereits dauert, bis hierzulande das „TSG“ endlich abgeschafft wird. Die Dokumentation „Mein Name ist Violeta“ zeigt passenderweise einen sehr persönlichen Einblick in das Leben von Violeta, einem zehnjährigen trans Mädchen, und ihren Eltern Franceska und Nacho sowie einigen anderen trans Aktivist*innen in Spanien. Dabei geht es sowohl um Violetas Weg, ihre Identität anerkannt zu bekommen, als auch um den wachsenden unermüdlichen Support ihrer Familie und den langjährigen, teils jahrzehntelangen, Kampf von Carla, Iván, Leyre und Silvia um Transrechte. Die Regisseure David Fernández de Castro und Marc Parramon setzen weitestgehend auf ruhige, zurückhaltende Kamerafahrten, lassen dabei allen Perspektiven und Erfahrungen den nötigen Raum und haben so einen sehr intimen Film mit eindeutiger Botschaft erschaffen. An manch einer Stelle hätte ein Kommentar geholfen (Testosteron ist z. B. nicht das „männliche“ Hormon) und auch ein Blick jenseits der binären Geschlechtereinordnungen wäre lohnenswert gewesen. Oder, um es mit Violetas Worten zu sagen: „I am free, I am free.“ Ava Weis

„Mein Name ist Violeta“ ES 2019 ( Regie: David Fernández de Castro & Marc Parramon. 75 Min., Start: 30.06. )

 

Missy Magazine 03/22, Filmrezensionen,Maxiabel
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Maixabel
Nicht erst seit der endgültigen Auflösung der Terrororganisation ETA im Mai 2018 stellt sich im Baskenland die Frage, wie man mit der Gewalt, die über Jahrzehnte hinweg den Alltag in der nordspanischen Region beherrschte und rund 850 Todesopfer forderte, umgehen soll. Was machen, wenn Täter und Opfer auf engstem Raum zusammenwohnen, sich vielleicht sogar kennen? Wie blickt man in die Zukunft? Ist es gar möglich, sich die Hand zu reichen und zu verzeihen? Wie viel Reue braucht es dafür? Icíar Bollaíns Film „Maixabel“, der auf wahren Begebenheiten beruht, dreht sich um diese Fragen. Er erzählt die Geschichte von Maixabel Lasa, deren Ehemann, ein Politiker, im Jahr 2000 von der ETA erschossen wurde. Jahre später sind die Täter hinter Gittern. Jene, die sich öffentlich vom Terrorismus lossagen, bekommen nun die Gelegenheit, mit Angehörigen der Ermordeten Kontakt aufzunehmen. Und Maixabel (Blanca Portillo) ist eine von ihnen. „Maixabel“ ist ein ruhig erzählter, eindringlicher Film über persönliche wie kollektive Vergangenheitsbewältigung, der auf Effekthascherei verzichtet und vom Spiel der Schauspieler*innen lebt. Und auch für jene, die sich mit der Geschichte des Baskenlands nicht auskennen, sehenswert, weil er universelle Fragen stellt, ohne dabei einfache Antworten zu liefern. Isabella Caldart

„Maixabel“ ES 2021 ( Regie: Icíar Bollaín. Mit: Blanca Portillo, Luis Tosar, María Cerezuela u. a., 115 Min., Start: 26.05. )

 

Missy Magazine 03/22, Filmrezensionen, Alles in bester Ordnung
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Alles in bester Ordnung
Flüsternd zählt er seine Gegenstände, mehr als hundert dürfen es nicht sein. Fynn (Daniel Sträßer), Anfang dreißig, ist erklärter Minimalist. Seine Wohnung ist so gut wie leer, bis auf einen Laptop, an dem er Software entwickelt. Wegen eines geplatzten Heizungsrohrs kontaktiert er die Nachbarin unter ihm, die Mittfünfzigerin Marlen (Corinna Harfouch). Das durch die Decke tropfende Wasser ist für sie eine Katastrophe, denn ihre Wohnung ist so voller Bücher, Erinnerungsgegenstände und Krimskrams, dass sie kaum einen Fuß vor den anderen setzen kann. Panisch fängt sie an, Bücher auf Wäscheleinen zu trocknen, doch der Schaden kann nicht mehr abgewendet werden. Im Zuge der Sanierung seiner unter Wasser stehenden Wohnung gewährt Marlen Fynn Obdach. Zwei Einzelgänger*innen und zwei Extreme treffen hier aufeinander – die krankhafte Sammlerin und der zwanghafte Asket. Natja Brunck- horsts Komödie stellt die Frage in den Mittelpunkt, ob viele oder wenige Dinge glücklicher machen. Eine Antwort darf nicht erwartet werden, auch kein AusmisErfolgserlebnis, doch Marlens Wohnung ist ohnehin eher nostalgisch vollgestellt als messiehaft. Der komische Aspekt des ungleichen Paares bleibt ungenutzt und sowohl die Gründe für ihre Lebensstile als auch für ihre gegenseitige Anziehung werden nur vage angedeutet. Wenn das Liebe sein soll, dann nur eine sehr minimalistische. Amelie Persson

„Alles in bester Ordnung“ DE 2021 ( Regie: Natja Brunckhorst. Mit: Corinna Harfouch, Daniel Sträßer, Joachim Król u. a.,96 Min., Start: 26.05. )

 

Missy Magazine 03/22, Filmrezensionen,A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe
© Komplizen Film. Fotograf: Reinhold Vorschneider

A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe
Was für eine Liebesgeschichte! Eine Schauspielerin (sechzig Jahre alt, bekommt keine Aufträge mehr) und ein kleinkrimineller Waisenjunge (17, er geht noch zur Schule) verknallen sich ineinander. Erst sehr zaghaft, weil sie selbst nicht glauben können, was da passiert, dann umso wilder. Er klaut ihr die Tasche, später soll sie ihm Sprechunterricht geben, damit ihn die anderen im Schultheater nicht auslachen. Zu verlieren haben beide nicht viel – sie müssen sich nicht um die Meinungen von anderen scheren, schließlich scheren sich die anderen auch nicht um sie. Regisseurin Nicolette Krebitz macht mit „A E I O U“ da weiter, wo sie mit ihrem letzten Film „Wild“ aufgehört hat: bei unmöglichen Beziehungen. Unrealistischerweise spielt das mit dem Altersunterschied einhergehende Machtgefälle hier kaum eine Rolle, statt einer missbräuchlichen Beziehung sieht man eine leichtfüßige Romanze. Wenn man sich als Zuschauer*in darauf einlassen kann, dann macht das Spaß. Das liegt zum einen an den tollen Schauspieler*innen. Zum anderen machen alle ständig irgendwas, womit man nicht gerechnet hat. „Ein großer Spaß in der Liebe ist ja sowieso, alles nachzustellen, was man in Filmen und Büchern über sie gelesen hat“, sagt Krebitz. „Und sich dann darüber hinwegzusetzen.“ Und so erzählt sie hier eine so unrealistische wie unerwartete Liebesgeschichte, für die es keine Vorlage gibt. Juliane Streich

„A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe“ DE 2022 ( Regie: Nicolette Krebitz. Mit: Sophie Rois, Milan Herms, Udo Kier u. a., 104 Min., Start: 16.06. )

 

Missy Magazine 03/22, Filmrezensionen, Das starke Geschlecht
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Das starke Geschlecht
Einen Stein im Magen, den spürt man beim Schauen von Jonas Rothlaenders Doku „Das starke Geschlecht“. In Aussagen von neun interviewten Männern geht es um das Konstrukt von sexuellen Normen. Durch anonyme Statements anderer Männer konfrontiert Rothlaender die Interviewten mit sexuellen Grenzerfahrungen, um sie von dort in eigene Gedanken zu leiten. Die Idee, die absurden Sexualitätsnormen aufzuzeigen, ist gut. Die Umsetzung jedoch nicht konsequent. Rothlaender gibt den Interviewten einen Raum, ohne sofort zu werten, wobei selbst der Schnitt, der Kritik zeigen könnte, kaum abfedert. Auch das wichtige Hinterfragen des Regisseurs passiert zu selten. Ohne Distanz und ohne Vorwarnung werden so sexistische Aussagen bis hin zu Vergewaltigungsfantasien gezeigt und reproduziert. Es kann extrem triggern, wenn ein Mann auf Nachfrage über allgemeine Erwartungen an Frauen im Bett fast nur von Äußerlichkeiten spricht. Bei Aussagen wie „Ich will keine Frau, die wabbelig aussieht“ – und es gibt noch schlimmere – klappt einem*einer eher die Kinnlade runter, als dass eine Erkenntnis aufkeimt. Schwierig ist zudem, dass sich ein paar der Männer eitel als Frauenversteher inszenieren und Frauen dabei gefährlich pauschalisieren. Verletzliche Momente von Männern jenseits ihrer Rollenerwartungen enthält „Das starke Geschlecht“ viel zu wenige. Momente, die die Doku doch eigentlich zeigen will. Wenke Bruchmüller

„Das starke Geschlecht“ DE 2021 ( Regie: Jonas Rothlaender. 102 Min., Start: 26.05. )

 

Missy Magazine 03/22, Filmrezensionen,Der schlimmste Mensch der Welt
© Oslo Pictures

Der schlimmste Mensch der Welt
Da liegt es vor dir, das Leben. Voller Möglichkeiten, voller Herausforderungen. Was willst du daraus machen? Als Einserschülerin steht dir alles offen: Medizin studieren, obwohl dich Psychologie mehr interessiert? Fotografieren, leben, schreiben, lieben, ausprobieren. Genauso geht es Julie. Sie ist Ende zwanzig, hat vieles angefangen und wieder verworfen. Sie lebt in Oslo, hat Träume, Wünsche und einen zehn Jahre älteren, erfolgreichen Freund. Bald läuft alles auf die eine Frage hinaus, wie die Zukunft aussehen soll. Kinder. Ja. Nein. Noch nicht. Julie müsste das Jetzt, in dem sie jederzeit alles über den Haufen werfen kann, verlassen. Erwachsen werden sozusagen. Es wundert nicht, dass ihr das widerstrebt. Sie bricht aus, fängt mit einem anderen Mann ein neues Leben an. Doch das alte bleibt irgendwie immer im Hintergrund und kreuzt wieder ihren Weg. „Der schlimmste Mensch der Welt“ ist eine moderne Tragikomödie von Joachim Trier. Er begleitet in zwölf Kapiteln plus Prolog und Epilog eine junge Frau, wie sie vielerorts zu finden sein mag. Sie ist hin- und hergerissen zwischen den Möglichkeiten (die Trier gleichermaßen mit unterschiedlichsten filmischen Mitteln und Genres auslotet), den eigenen Ansprüchen und denen der anderen, verschiedenen Lebensentwürfen, zwischen Vernunft und Abenteuer. Sie liebt und verletzt und weiß oft gar nicht, was in ihr steckt, nämlich ein toller Mensch. Trier hätte kaum ein besseres Porträt einer Generation abliefern können. Indra Runge

„Der schlimmste Mensch der Welt“ NOR 2021 ( Regie: Joachim Trier. Mit: Renate Reinsve, Anders Danielsen Lie, Herbert Nordrum u. a., 121 Min., Start: 02.06. )

 

Missy Magazine 03/22, Filmrezensionen, Memoria
©Kick the Machine Films, Burning, Anna Sanders Films, Match Factory Productions, ZDF-Arte and Piano, 2021

Memoria
Das Beeindruckende an diesem Film ist die Story und wie sie erzählt wird. Jessica (Tilda Swinton) ist in Bogotá, Kolumbien, auf der Suche nach einem Geräusch, das sie immer wieder hört. Doch niemand anderes hört es und sie denkt, sie wird verrückt. Mithilfe des Tontechnikers Hernán (Juan Pablo Urrego) und der Archäologin Agnès (Jeanne Balibar), die sie zu Ausgrabungen menschlicher Überreste begleitet, versucht sie, das Geräusch nachzuempfinden. Doch Jessicas Erinnerungen täuschen sie, sie vermischen sich mit den Erinnerungen und Traumata anderer, mit der Idee des Geräuschs und letztlich mit der Idee von Leben. Sie verliert Hernán bei ihrer Suche, findet ihn gealtert wieder (Elkin Díaz) und will von ihm lernen zu schlafen, ohne zu träumen. Kann er das, weil er ein Außerirdischer ist? Der Regisseur Apichatpong Weerasethakul sagt, er fände es nicht schlimm, wenn man bei seinen Filmen einschlafe, im Gegenteil: Es sei faszinierend, wenn Filme sich mit eigenen Träumen überblenden. Er zählt zu den Regisseur*innen, die unsere hollywoodisierten Sehgewohnheiten durchbrechen. Wer kann bei langen Shots und regnerischen Szenerien schon ausschließen, nicht einzuschlafen? Aber dann könnte man nicht noch Tage später über „Memoria“ nachdenken. Dabei ist es doch das, was Filme sehenswert macht. Amina Aziz

„Memoria“ COL/THA/GB/MEX/FR/DE/QAT 2021( Regie: Apichatpong Weerasethakul. Mit: Tilda Swinton u. a., 136 Min., Start: 05.05. )

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 03/22.