Missy Magazine 03/22, Literaturrezis

Auf der Straße heißen wir anders
Die bekannteste Person aus Bremen-Nord ist Jan Böhmermann. Gähn. In ihrem Debütroman macht Laura Cwiertnia Bremen-Nord vielschichtiger als Böhmermann es je könnte. Sie hat ein Buch über die Geschichte einer armenischen Familie geschrieben, dessen Protagonistin Karla in Bremen-Nord aufwächst. Längst weggezogen, kehrt sie zurück, als ihre Großmutter stirbt. Es folgt eine Auseinandersetzung mit dem Stadtteil, der synonym für Armut, Tristesse und Peripherie steht. Auch ich wuchs dort auf, als Teenager bewegten Cwiertnia und ich uns an ähnlichen Orten, hatten Überschneidungen im Freund*innenkreis. Viele ihrer Referenzen sind mir vertraut und es ist wichtig, sie zu erzählen. Das Buch zieht geografisch weitere Kreise. Die Großmutter hinterlässt ein Erbstück für eine Person, die Karla nicht kennt. Also reist sie mit ihrem Vater nach Armenien, um diese zu finden. Karlas Geschichte hat Parallelen zu Cwiertnias Biografie, auch sie ist Tochter eines armenischen Vaters und einer deutschen Mutter. Hauptberuflich Journalistin bei „Die Zeit“ reiste sie gemeinsam mit ihrem Vater für einen Artikel nach Armenien. Das Buch changiert zwischen drei Familiengenerationen und thematisiert unter anderem Klasse, Rassismus, Misogynie und Migration. Cwiertnia schreibt sehr einfühlsam, ohne pathetisch zu werden. Insbesondere die Lebensgeschichte der Großmutter Maryam hat mich sehr berührt, so viel Schmerz und Resilienz steckt in ihr. Sprachlich ist es charmant, Bremer Slang wie „Feudel“ (Wischmopp) in einem Hochkulturprodukt zu lesen. Dieses Buch ist wichtig, weil es diejenigen würdigt, die selbst kein Buch schreiben konnten. Caren Miesenberger

Laura Cwiertnia „Auf der Straße heißen wir anders“ ( Klett-Cotta, 240 S.,22 Euro )

 

Missy Magazine 03/22, Literaturrezis

 Ein simpler Eingriff
Meret ist die rechte Hand ihres Chefarzts in einer nicht näher datierten Nachkriegszeit. Mit einem simplen Eingriff behandeln sie Menschen, deren Verhalten nicht der sogenannten Norm entspricht
– Stimmungsschwankungen, Wutanfälle, psychische
Erkrankungen. „Einschläfern, wie ein krankes Tier“,
heißt es an einer Stelle über
die Behandlung. Medizin bedeutet für sie Fortschritt, die Eingriffe Besserung. An ihren freien Tagen fährt sie ihre Eltern besuchen. Für diesen Anlass hat Meret eine andere Uniform, ein Kleid, das sie in die Rolle der Tochter schlüpfen lässt. Sie braucht diese klaren Zuordnungen – Strukturen und Menschen, denen sie sich unterordnen kann. Mit einer neuen Patientin fängt sie an zu zweifeln: Die junge Marianne glaubt, durch den Eingriff nicht mehr sie selbst zu sein. Und dann tritt auch noch ihre neue Zimmernachbarin Sarah in ihr Leben. Die beiden verlieben sich ineinander, werden ein Paar. Auch sie steht den Eingriffen kritisch gegenüber. Es sind kurze, klare Sätze von poetischer Tiefe und Schönheit, in denen Yael Inokai von struktureller Unterdrückung erzählt und der Kraft des Individuums, das sich mit anderen verbündet und sich emanzipiert – auch wenn das gesellschaftliche Abstriche und viel Mut bedeutet. Damit knüpft „Ein simpler Eingriff“ an hochaktuelle Debatten um Machtstrukturen, Emanzipation und Deutungshoheit an. Lara Sielmann

Yael Inokai „Ein simpler Eingriff“ ( Hanser Berlin, 192 S., 22 Euro )

 

Missy Magazine 03/22, Literaturrezis

Klassenfahrt
Fünfzig Personen erzählen im Sammelband „Klassenfahrt“ von Wut, Scham und Würde sowie der sich immer wieder anschleichenden Angst davor, „aufzufliegen“ und „nicht dazuzugehören“. Arbeit, Gast- und Vertragsarbeit, Rassismus und Ausbeutung als ineinandergreifende Systeme – in ihrer Gesamtheit geben die Texte Einblicke in die tägliche Gewalt in der Klassengesellschaft. In Tagebucheinträgen, Gedichten, Briefen, als Zeichnung oder Comic spüren die Autor*innen nach, was Klassismus – die Diskriminierung aufgrund der sozialen Position und/oder sozialen Herkunft – alles bedeuten kann. Es geht um verwehrte Zugänge, im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt, im Gesundheitswesen, aber auch in linken Strukturen. Die meisten Autor*innen reflektieren dabei ihre eigene Klassenreise und fragen, wer sich Selbstverwirklichung überhaupt leisten kann. Aufstiegsgeschichten werden nicht romantisiert, stattdessen machen die Beitragenden Selbstzweifel und Spätfolgen der sozialen Herkunft sichtbar. Mitunter werden Gespräche zwischen Eltern und Kindern nachgezeichnet, genauso gibt es aber auch Raum für Geschichten, in denen Menschen
sich entschieden haben, Herkunftsfamilien und
heteronormativen Beziehungskonstellationen den
Rücken zu kehren. Der
Band zeigt: Essen, Sprache, Geruch, Geschmack,
Namen, Wissen, Wohnorte, Körper, Sexualität, Gesundheit, ob wir eine Therapie machen und ob wir erben oder nicht – Class matters. Juri Wasenmüller

Julian Knop & Frede Macioszek( Hg. ) „Klassenfahrt – 63 persönliche Geschichten zu Klassismus und feinen Unterschieden“ ( edition assemblage, 240 S., 14,80 Euro )

 

Missy Magazine 03/22, Literaturrezis

Freiheit
Egal, ob Maggie Nelson über ihre Liebe zu einer trans Person oder Schwangerschaft („Die Argonauten“), über Begehren und Schmerz („Bluets“) oder Gewaltverbrechen („Die roten Stellen“) schreibt, ihre Texte bringen keine einfachen Antworten hervor. Sie sind immer abwägend, genau und offen, balancieren zwischen Poesie und theoriegesättigter Argumentation. Nelsons Schreiben zeigt immer, und das ließe sich „queer“ nennen, wie eine Person ihre Haltung vertritt, ohne in eine Rhetorik der Unanfechtbarkeit zu verfallen. Wenn sich so eine Autorin dem Thema Freiheit zuwendet, um das mit harten Bandagen geführte Debatten toben, ist das natürlich interessant. Nelson erkundet mit Blick auf Kunst, Sex, Drogen und Klima, was passiert, wenn Freiheit (bzw. das, was üblicherweise so genannt wird) Forderungen gegenübersteht, ebenjene aus guten Gründen zu beschränken. Es geht um antirassistische Kunstkritik und an sie gerichtete Zensurvorwürfe, um Schutz vor sexualisierter Gewalt und Nelsons Unbehagen gegenüber manchen Effekten der #MeToo-Debatte. Nelson erkundet weiterhin, wie sie selbst sich mit ihrem Drogenkonsum freiwillig in Gefahr brachte oder wie traditionelle Freiheitsversprechen am Klimaschutz versagen. Ein großer Bogen, vielschichtig, scharfsinnig, nuanciert und immer wieder auch provozierend. Sabine Rohlf

Maggie Nelson „Freiheit. Vier Variationen über Zuwendung und Zwang“ ( Aus dem Englischen von Cornelius Reiber. Hanser Berlin, 400 S., 26 Euro )

 

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New York und der Rest der Welt
Lebowitz’ messerscharfe Beobachtungsgabe ist unvergleichbar. In „New York und der Rest der Welt“ verhöhnt sie alles und jede*n, sich selbst eingeschlossen. Kein Thema bleibt verschont: Kunst, Sport, Wissenschaft, Bankwesen, Hundehaltung und Kindererziehung werden aus der Perspektive der New Yorkerin gründlichst auf die Schippe genommen. Die Originalfassung „The Fran Lebowitz Reader“ erschien bereits 1994, trifft aber auch heute noch mit sarkastisch verpackter Kritik an Selbstoptimierung, Mietenwahnsinn und der US-amerikanischen Medienindustrie ins Schwarze. Eine trendsetzende Gesellschaft voller Zwangsneurosen – auch die deutsche Kultur ist damit längst infiziert – hinterfragt sie gnadenlos. Tabellen zu „Nebenwirkungen von Freiheit und/oder Freizügigkeit“, Fragebögen zur Berufsberatung à la „Sie wollen also Papst werden?“ und Anekdoten aus ihrem New Yorker Alltag geben Einblicke in die Absurdität modernen Großstadtlebens. Ihr Kultstatus hat spätestens mit Martin Scorseses Serie „Pretend It’s A City“ international Wellen geschlagen. Beim Lesen dieses Buches wird man sich Lachtränen aus den Augenwinkeln wischen. Carina Scherer

Fran Lebowitz „New York und derRest der Welt“ ( Aus dem Amerikanischen von Sabine Hedinger & Willi Winkler. Rowohlt, 352 S., 22 Euro )

 

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Seltene Erde
Wonach sucht man wirklich, wenn es eine*n so rigoros in die Ferne zieht? Therese, jung, beruflich unentschlossen und rastlos, und Lenka, etwas älter, Astrophysikerin und desillusioniert, sind weit weg von ihrem Alltag, irgendwo in Argentinien. Die beiden Protagonistinnen in Eva Raisigs Debütroman „Seltene Erde“ suchen Aliens oder zumindest Hinweise auf außerterrestrisches Leben. Dass sie sich getroffen haben, ist Zufall, aber trotz ihrer gegensätzlichen Charaktere hängen sie aneinander, reiben sich aneinander – im übertragenen und tatsächlichen Sinne. Raisig hat ihre Figuren und deren Abgründe detailliert ausgezeichnet. Sie gibt ihnen Tiefe und so viele Konflikte, dass ihre Gedankenströme und schleifen eine*n manchmal benebelt zurücklassen. Familiengeschichten und -traumata drücken auf die Seelen der zwei Frauen und die Leser*innen: Lenka kommt mit ihrer Familie und deren Nachkriegsverlorenheit nicht klar, Therese verarbeitet den Tod der Großmutter und die sacht angedeutete innere Leere. Zwischendurch gibt es Drogentrips. Da wirken die Beschreibungen der Voyager 1, die ihre Bahnen im All zieht und ihrerseits wiederum auf der Suche nach Aliens ist, fast wie kurze Lichtungen im großen Schwarz. Die Suche und die Ferne sind, man ahnt es früh, Vorwände, um die eigene Geschichte zu verarbeiten. Suchend sein bedeutet nämlich, dass eine*m etwas abhandengekommen oder fremd geworden ist – nur, wie bekommt man es zurück? Eva Raisigs feingliedriger Science- Fiction-Roman ist ein Plädoyer fürs Erinnern, fürs Festhalten und fürs Diesseits, egal, wie schmerzhaft es sein mag. Silvia Silko

Eva Raisig „Seltene Erde“ ( Matthes & Seitz Berlin, 368 S., 24 Euro )

 

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Aufsässige Leben, schöne Experimente
„Aufsässige Leben, schöne Experimente“ ist Saidiya Hartman, wie sie im Buche steht. Wortwörtlich. Die afroamerikanische Autorin und Professorin ist bekannt für ihr Verständnis von Archiv- und Geschichtsschreibung. Sie beschäftigt sich in ihrer Arbeit immer mit den
vergessenen Geschichten,
Ausgelöschtem und Verdrängtem und wie sich
dieses auf die Gegenwart
und Zukunft auswirkt. So
auch in diesem Werk. Hartman schreibt Geschichte,
nimmt uns mit in die Welt
von aufsässigen Schwarzen Frauen und Queers im 20. Jahrhundert, den Pionier*innen alternativer Lebens- und Liebeskonzepte – fernab heterosexueller Normen und geltender Gesetze. Sie arbeitet mit Spuren – aber immer im Wissen, dass das Archiv machtvoll und autoritär ist. Institutionelle Akten erzählen eine sehr einseitige Geschichte. Hartman nähert sich den Leerstellen mit Spekulation, Imagination und Fürsorge. Sie empfindet die Stimmen der jungen Frauen und Queers nach. So lernen wir bspw. die Insassinnen eines Gefängnisses kennen, die mit ihren Stimmen gegen Gewalt und Misshandlungen ansingen. Oder A’Lelia Walker, die für ihre abendlichen Sexpartys für Frauen bekannt war. Lisa Tracy Michalik

Saidiya Hartman „Aufsässige Leben, schöne Experimente. Von rebellischen schwarzen Mädchen, schwierigen Frauen und radikalen Queers“ ( Aus dem Englischen von Anna Jäger. Claassen, 528 S., 28 Euro )

 

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Aus dem schlafenden Vulkan ausbrechen
Man lebt nie unabhängig von seiner Herkunft, sondern immer nur in Relation zu selbiger. So wie Kopja, den es nicht ohne den verschwundenen
Zwillingsbruder Jakop gibt.
Nicht nur die Namen sind
Anagramme voneinander,
auch die Charaktere sind
gegeneinander verstellt und
ineinander verkeilt – auch in
der gemeinsamen Familientragödie. Wir lernen Erzähler Kopja kennen, der in „Aus dem schlafenden Vulkan ausbrechen“ eine Welt zeichnet, in der unter toxischer Männlichkeit und überhöhtem Katholizismus kompromisslos gelitten und erstickt wird. Für Kopja, sanft, still, als Kind schon weit weniger männlichen Stereotypen entsprechend als zumindest der Bruder, ein schrecklicher Ort. Im Laufe des Debüts Jchj V. Dussels sucht Kopja den Bruder, die Schwester, die eigene Identität, Sex, vielleicht auch die Absolution – und man mutmaßt vermutlich richtig, dass V. Dussel hier autofiktional verklärt. Kein Wunder, dass der Roman so intensiv zu lesen ist. Auch wegen der Sprache V. Dussels, die jede Szene lyrisch auf- und manchmal überlädt – wodurch Erzählung und Schreibe an Stellen in Konkurrenz stehen. Die Spannung liegt dann nicht mehr innerfiktional im Buch, sondern daran, dass man sich als Leser*in an den Worten abarbeiten muss. Je näher Kopja dem eigenen Frieden kommt, desto entspannter wird auch die Wortwahl – allerdings muss man dafür erst mal über das erste Drittel hinausgelangen. Der Kampf lohnt sich – oder eben der Ausbruch aus dem Vulkan – aber durchaus: für die Lesenden, den*die Schreibenden und Figuren. Silvia Silko

Jchj V. Dussel „Aus dem schlafenden Vulkan ausbrechen“ ( Luftschacht, 360 S., 26 Euro )

 

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Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron
Yade Yasemin Önders Debütroman fordert die Lesenden. Wie bereits in dem Prosatext, mit dem sie den Open Mike Literaturwettbewerb gewann, nimmt sie sich das Thema Essstörung vor und spart dabei nicht an drastischen Beschreibungen. Es wird gefressen, gekotzt und gehungert: Nicht nur die Ich-Erzählerin leidet an ihrem Körper und ihrem Verhältnis zur Nahrung, auch der türkische Vater ist adipös und die deutsche Großmutter kocht zwar reichlich, sie selbst isst davon jedoch nicht. Auf mehreren Zeitebenen begegnet man der unzuverlässigen
Ich-Erzählerin und wird
von ihr durch drei Lebensjahrzehnte geführt, aus der
Kindheit in der Bundesrepublik der Neunzigerjahre in
die Jetztzeit. Während sich
Frau und Mädchen abwechseln, gleitet der Text stellenweise ins Fantastische oder erzählt besonders traumatische Erinnerungen aus verschiedenen Blickwinkeln immer wieder neu. Dabei entsteht ein erzählerischer Sog, auch ohne klassischen Handlungsbogen. Es kristallisiert sich heraus, dass vor dem Sex und dem Essen – beides zur Betäubung missbraucht – familiäre Verstrickungen und Gewalt den Anfang der Verstörung ausmachten. Wer sich auf die stellenweise schmerzhafte Lektüre einlässt, wird belohnt mit Witz und poetischer, ungebärdiger Sprache. Holle Barbara Zoz

Yade Yasemin Önder „Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron“( Kiepenheuer & Witsch, 256 S.,20 Euro )

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 03/22.