Missy Magazine 03/22, Musikrezis

Leyla McCalla
„Breaking The Thermometer“
( Anti Records )
Auch auf ihrem vierten Soloalbum setzt sich Sängerin, Cellistin und Gitarristin Leyla McCalla intensiv und komplex mit einem leitenden Thema auseinander. Diesmal mit dem Wirken des Radio Haiti, des ersten unabhängigen Senders Haitis, der von 1957 bis 2003 in haitianischem Kreyòl ausgestrahlt wurde und maßgeblich zum Selbstverständnis der Bevölkerung beitrug. McCalla, Tochter haitianischer Eltern, die in die USA einwanderten, wurde von der Duke University (North Carolina) beauftragt, für ein Theaterprojekt mit dem Radioarchivmaterial zu arbeiten. Daraus entstanden die 15 Titel für „Breaking The Thermometer“. Sie ließ sich von den alten Aufnahmen inspirieren, mixte sie mit eigenen Erfahrungen als Migrantin zweiter Generation und von Besuchen in Haiti oder orientierte sich an großen Hits des Senders, z. B. Songs von Manno Charlemagne. Found Footage nutzte sie als Basis für Collagen in kurzen Audiotheaterstücken, Sounds wie Wasser oder Stimmgewirr verwebt sie mit Percussion und Saitenklängen, mal staccato, mal in eleganten Arpeggio-Wellen, und lässt ihre klare Stimme in Französisch, Englisch oder Kreyòl einfließen. Die Lovestory des Radio- Host-Paares Jean Dominique und Michèle Montas inspirierte sie zum Ohrwurm „Vini We“. Imke Staats

 

Missy Magazine 03/22, Musikrezis

Ibeyi
„Spell 31“
( XL Recordings )
Zwei Stimmen, zwei Frauen, zwei Seelen – Ibeyi sind zurück, um uns mit ihren Harmonien wieder einmal Gänsehaut zu bescheren. Dass die afro-kubanisch-französischen Zwillinge Lisa- Kaindé und Naomi Díaz mehr als nur musikalische Verzückung auf ihrer Agenda haben, machen sie seit Sekunde eins deutlich: Gestärkt durch die jeweils andere handeln Ibeyi in ihrer Musik Themen wie Herkunft, Weiblichkeit, Rassismus und Tod aus und verbinden die Lyrics mit Musik, die Genres und regionale Einflüsse sprengt. Mit „Spell 31“ schlagen die Schwestern nun einen weniger aktivistischen Ton an und begeben sich auf einen Weg der (Selbst-)Heilung zurück zu ihren Anfängen. Bei diesem Album steht die Harmonie im Mittelpunkt und es tritt nach den eher düsteren Worten der Vergangenheit eine neue Kraft in den Vordergrund. Die starken Beats ergänzen das Wechselspiel der beiden Stimmen, die mal im Call-and-Response fast gospelartige Strukturen anschlagen, mal unisono und mal in komplexen Harmonien in einem ewigen Fluss aufeinander reagieren. Umso beeindruckender also, wie spielerisch Ibeyi mehrere Features in ihre einzigartige Dynamik einbeziehen. Besonders die Single „Lavender & Red Roses“ mit Jorja Smith beweist, dass Ibeyis Visionen von Heilung und Harmonie eine emotionale, sogar spirituelle Erfahrung für uns alle sein können. Rosalie Ernst

 

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Florence + The Machine
„Dance Fever“
( Universal )
Der letzte Song des neuen Albums von Florence + The Machine endet mit dem tosenden Applaus der Fans. Doch was bleibt, wenn Künstler*innen wegen der Pandemie nicht vor Publikum spielen können und stattdessen beim Wäschefalten verzweifelt nach Inspiration für neue Songs suchen? Weil Florence Welsh die Aufnahmen des Albums mit Jack Antonoff in New York wegen des ersten Lockdowns abbrechen musste, blieb ihr jede Menge Zeit für Selbstreflexion in den eigenen vier Wänden. Welsh verarbeitet in den Songs die Gedanken über ihre Rolle als Frau im Musikbusiness und die ewige Suche nach der eigenen Identität. Zwischen Verhandlungen mit dem Teufel und Drohungen an Gott, zwischen Nostalgie und Verbitterung über die Gegenwart entstand das neue Album, in dem vor allem eins im Vordergrund stand: der Wunsch, sich wieder bis in die Ekstase zu tanzen und die neuen Songs vor Publikum herauszuschreien. So wechseln sich leise Töne mit anschwellenden Frauenchören und Percussion mit der Akustikgitarre ab und verschiedenste Genres wie Folk und Dance Pop werden zu einem gewohnt opulenten Album verwoben. „Dance Fever“ ist
eine Kampfansage an
die Tristesse der Pandemie. Die Sehnsucht
und der Schrei nach
Hoffnung, der sich wie
ein roter Faden durch
das Album spinnt, rühren zu Tränen und lassen gleichzeitig keine andere Chance, als ekstatisch mitzutanzen. Nadine Al-Bayaa

 

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Let’s Eat Grandma
„Two Ribbons“
( Transgressive )
Die Mär des durchweg unbekümmerten Bandlebens gehört zum romantischen Narrativ der Musikwelt dazu. Let’s Eat Grandma thematisieren ihre Abkehr vom Status quo hingegen sehr offen. Rosa Walton und Jenny Hollingworth machen seit 2013 gemeinsam Musik, beste Freundinnen sind sie sogar noch länger. Auf der einen Seite gab es dabei zwei Alben und viele neue Fans, auf der anderen Seite bröckelte es hinter den Kulissen auf persönlicher Ebene. Statt eines radikalen Cuts soll nun alles repariert werden – natürlich mit Musik als Sprachrohr. Das Ergebnis dieser Annäherung erscheint nun unter dem Titel „Two Ribbons“ und ist gleichermaßen liebevoll versöhnlich wie auch tieftraurig. Denn gerade die Distanz zur engsten Bezugsperson schwingt in den Stücken mit. Musikalisch geht es dafür umso geradliniger gen Tanzfläche. „Happy New Year“ etwa vermengt nüchternen Gesang mit dicken Synthesizern, „Hall Of Mirrors“ gerät etwas psychedelischer und bei „Levitation“ kommen gar Chvrches- Referenzen in den Kopf. Dazu singen Walton und Hollingworth in Letzterem ganz offen: „Shooting stars
in your direction / As
I’m losing grip on my
reflection“ – einer von
vielen sehr liebevollen
Texten. Man kann nur
hoffen, dass dieses Album ein ausreichender Freundinnenschaftsbeweis ist, um die Wogen wieder zu glätten. Julia Köhler

 

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Nichtseattle
„Kommunistenlibido“
( Staatsakt )
Nichtseattle alias Katharina Kollmann seziert auf ihrem zweiten Album die Traumata in Nachwendebiografien: Die Lieder erzählen vom Leben im Berliner Osten, von den Hochhäusern, aus denen „wir schwer wieder raus“ kommen, und von Menschen, die „wirklich nicht gut in Mathe“ sind, aber „null mal nichts“, das kennen sie gut. Es geht um „gute Ideen“, die eigentlich zu utopisch sind, und um kollektives Schicksal, das am Ende doch wieder individuell aufgearbeitet werden muss. „Lady Grau“ erzählt von Psychoanalyse und dem Versuch, sich eine Pause von den Depressionen zu nehmen, obwohl es doch immer genug Gründe gibt, sich „mit der Welt zu streiten“. In „Nachvater“ zerbricht ein Vater am neuen System, ist alkoholabhängig, schlägt sich am „neuen Westasphalt“ alles auf und hinterlässt nach seinem Suizid eine Tochter, die in alten Ordnern nach seiner Liebe sucht. Die poetischen Texte singt Kollmann manchmal leise, oft mit Nachdruck. Es gibt Harmonien, die inbrünstig vorgetragen werden.
Auch die E-Gitarre, fast
das einzige Instrument,
klingt dringlich und unmittelbar. Vielleicht ist
es traurig, diese Lieder
zu hören, vielleicht kathartisch. Auf jeden Fall ist es ein Hörbarwerden von Geschichten, die in deutscher Popmusik sonst kaum eine Rolle spielen. Maria Preuß

 

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Suki Waterhouse
„I Can’t Let Go“
(SubPop)

„I can’t forget that night“ – so eröffnet Suki Waterhouse ihr erstes Full-Length-Album „I Can’t Let Go“. Die Allroundkünstlerin, die neben ihrer musikalischen Karriere auch als Schauspielerin und Model tätig ist, hat eine nostalgische Platte geschrieben und diese mit dem Bon-Iver-Produzenten Brad Cook aufgenommen. Die zehn Songs des Albums liefern einen Beweis dafür, wie powervoll Zartheit klingen kann. Mal besingt Suki Waterhouse Verflossene, mal schreibt sie von Ängsten und nähert sich ihrem eigenen Leben als Beobachterin. Dabei klingt Waterhouse ein wenig nach Lana Del Rey, ein bisschen nach Lykke Li, vor allem aber nach der bisher stimmigsten Version ihrer selbst. Wo das 2016er-Singledebüt „Brutally“ noch akustischer anmutete, wurden die folgenden Releases der britischen Sängerin zunehmend voller instrumentiert. Brad Cook hat „I Can’t Let Go“ in ein noch größeres, weiteres Klangbild gehüllt. Dabei verliert Waterhouse nie ihren Stil: Sie selbst beschreibt ihre Platte als Loslass-Ritual vergangener Zeiten. Cooks Produktion unterstreicht ihre Vision. Gemeinsam übersetzen sie diese für uns Hörer*innen in träumerische Momentaufnahmen, in die man sich hineinlegen möchte, um seine eigenen Geschichten zu Ende zu fühlen. Vanessa Sonnenfroh

 

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The Linda Lindas
„Growing Up“
( Epitaph )
Ihr Song „Racist, Sexist Boy“ machte The Linda Lindas 2021 weltberühmt und bescherte unzähligen Fans feministischer Rockmusik einen Lichtblick in schweren Zeiten. Nun zeigen die vier Musikerinnen zwischen 12 und 15 Jahren, dass sie auch auf Albumlänge überzeugen können. Ihr Debüt „Growing Up“ wurde produziert von Grammy-Gewinner Martin Wong, Vater der Bassistin Eloise Wong, dessen familiäre Präsenz im Studio es der Band leichter gemacht habe, sie selbst zu sein. Und The Linda Lindas klingen auch auf Platte so krachig, selbstbewusst und enthusiastisch, wie man es sich
nur wünschen kann.
Ihre Einflüsse reichen
von den Riot-Grrrl-
Größen der Neunziger
bis zum Pop-Punk der Zweitausender, und sie bringen diesen ungestümen Sound so authentisch rüber, wie man es wohl nur als Teenager schafft. Die Texte drehen sich um Themen ihres Alltags: das Großwerden in einer ungerechten Welt und den Wunsch, sie ein bisschen besser zu machen, Freund*innenschaft und den geliebten Kater Nino, Killer von Ratten und Mäusen. Das alles ist im besten Sinne pubertär und auch für „Ausgewachsene“ wahnsinnig ansteckend. Wir sind gespannt, wohin für The Linda Lindas die Reise geht – mit „Growing Up“ haben sie einen fulminanten Start hingelegt. Eva Szulkowski

 

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Kat Frankie
„Shiny Things“
( Grönland )
Wahlberlinerin Kat Frankie liebt es, in ihrer Musik Klänge aufeinanderzuschichten. Spektakuläre Erinnerungen bleiben ihre Live-Auftritte mit einer Loop-Maschine, die ihre Stimme variantenreich ins Unendliche multiplizierte. Aus dieser Echokammer hat sich Kat Frankie jedoch längst herausgewagt. So stellte sie 2019 mit sieben anderen Frauen das Acapella-Projekt „Bodies“ auf die Beine. Die Live-Auftritte sollen – so wird berichtet – grandios gewesen sein. Anschließend widmete sich Kat Frankie den „Shiny Things“: Immer noch sind Stimme und Körper ihre zentralen Werkzeuge, doch bettet sie auf ihrem fünften Studioalbum beides in ein orchestrales Klangbad. Mit „Shiny Things“ baut Frankie ein barockes Soundgebäude, das Ausblick auf die Welt gewährt. Denn auch textlich geht sie über die eigenen Befindlichkeiten hinaus und thematisiert menschenverachtende Demagogie („The Sea“), den ressourcenausbeutenden Kapitalismus („Natural Resources“) und die Sehnsucht nach Demokratie („Be Like Water“), die sie mit den Stimmen der Protestierenden in Hongkong aus den Jahren 2019/20 unterlegt. Für die Kategorie des politischen Liedes ist „Shiny Things“ dennoch musikalisch zu subtil. Es gibt keine Refrains, keine Parolen, die skandierend mitgesungen werden können. Es ist die vielschichtige und vielstimmige Geste des Fragens, die im Kopf hängen bleibt. Lene Zade

 

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Warpaint
„Radiate Like This“
( Virgin )
Was passiert, wenn vier Musikerinnen ihr neues Album gemeinsam im Studio anfangen und dann durch eine Pandemie voneinander getrennt jeweils zu Hause weiter an der Musik arbeiten? Eine mögliche Antwort liefert das neue Album „Radiate Like This“ von Warpaint. Mit einer eigentlich fertigen Platte in der Tasche setzten sich Theresa Wayman, Emily Kokal, Jenny Lee Lindberg und Stella Mozgawa ein weiteres Mal mit den Songs auseinander und fingen an, sich unabhängig und experimentell an ihre gemeinsame Musik zu wagen. Um es direkt vorwegzunehmen: Mit ihrem vierten Album schaffen sie es tatsächlich, eine der besten Arbeiten ihrer 17-jährigen Karriere zu kreieren. So ist „Radiate Like This“ ein ätherischer, fast luzider Traum, verspielt, dicht, anmutig. Dabei merkt man direkt ab dem ersten Song „Champion“ sowohl die Harmonie und Innigkeit als auch die Sehnsucht nach einer neuen gemeinsamen musikalischen Richtung. Der dritte Song „Hard To Tell You“ zerreißt eine*n fast beim Hören, in „Stevie“ tanzen Bass und Stimme einen zärtlichen Liebesreigen und spätestens bei „Altar“ setzt eine alles entspannende Trance ein. Die einzelnen Schichten jedes Songs lassen sich erst nach und nach freilegen und erfordern definitiv mehrmaliges Abspielen. Ava Weis

 

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Horsegirl
„Versions Of Modern Performance“
( Matador, VÖ: 03.06. )
Drei Teenager aus Chicago beleben Indie aus den Achtzigern und Neunzigern wieder: Penelope Lowenstein, Nora Cheng und Gigi Reece haben sich 2019 in der Highschool kennenge- lernt und schafften es, sich innerhalb weniger Jahre zu einer der vielversprechendsten US- Newcomerbands zu etablieren. Sie gewannen den Grulke-Preis beim diesjährigen SXSW Festival für „Developing U.S. Act“, wo sie bereits ein paar Nummern ihres Debütalbums „Versions Of Modern Performance“ zum Besten gaben. Mit Einflüssen aus Post-Punk, Shoegaze, No Wave, College Rock, von Sonic Youth über My Bloody Valentine, Swirlies bis Belle and Sebastian ist dieses Album schwer in eine Schublade zu stecken. Fest steht, dass sie den Blick auf die Chicagoer Indieszene gelenkt haben, wo sich neben Horsegirl noch einige andere interessante Teenagebands wie Dwaal Troupe und Friko tummeln, deren gegenseitiger künstlerischer Einfluss unverkennbar ist. Der bereits veröffentlichte erste Albumtrack „Anti-Glory“ vereint impressionistische Songtexte, verzerrte Gitarren, stete und kraftvolle Schlagzeugbeats sowie zweistimmigen Gesang, der eher gesprochen als gesungen ist, ganz im Stil ihrer großen Vorbilder Kim Gordon und Konsort*innen. Ein absolutes Muss für alle Indierock-Nostalgiker*innen. Carina Scherer

 

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Porridge Radio
„Waterslide, Diving Board, Ladder To The Sky“
( Secretly Canadian, VÖ: 20.05. )
Alles ist da und alles muss raus – gemeint ist kein Winterschlussverkauf, sondern die Irrungen und Wirrungen des emotionalen Innenlebens. Denn Porridge Radio melden sich nach ihrem von der Kritik sehr gewürdigten Zweitling „Every Bad“ mit neuer Platte zurück und Bandleaderin Dana Margolin versteht es immer noch wie keine andere, die Zuhörer*innen mit einer erstaunlichen Dringlichkeit von Gesang und Text förmlich zu überrollen. Das mal synthetisch, mal orgelähnlich anmutende Keyboard stellt die Hintergrundkulisse, und Bass- und Gitarrenläufe ebnen den Weg für
die Melodie und den
Kern des Sounds: Margolins Stimme. Manchmal zaghaft, aber stets
kraftvoll bricht diese im
Laufe der Songs auf und
weg. Wenn Margolin wie in „The Rip“ beginnt herauszuschreien: „And now my heart aches“, werden die eigenen Wunden und Narben spürbar und irgendwo zwischen Verletzlichkeit und Größenwahn fühlt man sich in diesen Wiederholungsschleifen zurückgeworfen auf sich selbst. „Waterslide, Diving Board, Ladder To The Sky“ scheint dabei insgesamt etwas weniger getrieben als der Vorgänger, ohne jedoch nur eine Spur ruhiger zu wirken. Dem großen Hype standzuhalten ist eine ganz schöne Herausforderung – aber eine, der Porridge Radio gut begegnen können. Nicole Dannheisig

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 03/22.