Missy Magazine 03/22, Comic

Starkes Ding
Verdingkinder – in diesem Wort steckt blankes Entsetzen. Bis in die 1960er-Jahre hinein war es in der Schweiz üblich, dass Kinder aus armen, meist bäuerlichen Haushalten sowie Waisen oder Trennungskinder zum Arbeiten „verdingt“ wurden. Sie wurden gegen Kost und Logis in fremde Haushalte geschickt, wo sie als Quasi-Leibeigene bis zum Umfallen schufteten und häufig körperliche und sexualisierte Gewalt erfuhren. Ein Verdingbub war auch der Vater der Schweizer Comickünstlerin Lika Nüssli. Der großformatige Comicband geht vielschichtig mit den Erfahrungen des Vaters um. Nüssli spart in raumgreifenden, an alte Kinderbuch-Illustrationen erinnernden schwarz-weißen Bildern die vielen leidvollen Momente nicht aus, macht aber auch die Überlebensstrategie des Vaters sichtbar: Er versucht, sich als kräftig und arbeitsam, als „starkes Ding“ zu begreifen, um so den Horror der Situation für sich einzudämmen. Nüssli übersetzt die Erinnerungen ihres Vaters in expressive Bilder und sparsame Texte, die auch voller Humor und Lebensfreude sind. Feinfühlig trägt sie zur Aufarbeitung eines Kapitels Schweizer Geschichte bei, die noch lange nicht abgeschlossen ist. Sonja Eismann

Lika Nüssli „Starkes Ding“ ( Edition Moderne, 256 S., 29 Euro )

 

Missy Magazine 03/22, Comic

Chile ist aufgewacht!
Im Oktober 2019 begann in Chile die bisher größte Protestbewegung des Landes. Im Frühling 2022 ist die Arbeit an einer neuen chilenischen Verfassung auf Hochtouren, ein neuer Präsident im Amt. Was ist dazwischen passiert? Das erklärt Su Rivas in ihrem bunten Info-Comic. Die in Hamburg lebende Chilenin zeichnet die Entwicklung des Protests, den Kampf für eine neue Verfassung und den Ursprung der über Jahrzehnte gewachsenen Unzufriedenheit der chilenischen Bevölkerung nach: die Auswirkungen eines aggressiven Neoliberalismus, die Kontinuitäten aus Militärdiktatur und Kolonialismus. Der Comic honoriert die verschiedenen Akteur*innen der Protestbewegung und zeigt die Kraft der vereinten Kämpfe von Arbeiter*innen, Studierenden, Feminist*innen und indigener Bevölkerung wie den Mapuche für soziale Gerechtigkeit, aber auch die Repressionen durch den Staatsapparat. Mit Erscheinen des Comics sollte die erste Ausarbeitung eines neuen Verfassungstexts vorliegen. Es bleibt zu hoffen, dass rechte Kräfte es diesmal nicht schaffen, die emanzipatorischen Bestrebungen zu sabotieren. Rayén Garance Feil 

Su Rivas „Chile ist aufgewacht! Das Ende einer neoliberalen Ära“ ( Unrast Verlag, 100 S., 12,80 Euro, VÖ: Juni 2022 )

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 03/22.