Text: Felix Jung / Team Kultur- und Kreativpilot*innen Deutschland
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Immer wieder entstehen Skandale in der deutschen Medienlandschaft, immer wieder erhalten diskriminierendes Verhalten und problematische Äußerungen wertvolle Sendezeit und Printflächen. Es sind rassistische Redebeiträge im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, antisemitische Zeitungskolumnen oder vorurteilsbehaftete Berichterstattungen über marginalisierte Gruppen, die leider keine Ausnahme, sondern die unreflektierte Regel bilden: In Talkshows diskutieren die ausschließlich weißen Gäste über Rassismus, in Zeitungskolumnen werden Schimpfwörter abgedruckt und auch unter Medienschaffenden fehlt es zu oft an Sensibilität für die Diskriminierung im Alltag.

Neu ist hingegen das hohe Maß an öffentlicher Kritik, dass solche Vorfälle nach sich ziehen. Neben Protest auf Social Media und verstärkter Sensibilität für Antidiskriminierung in vielen Organisationen werden auch Unternehmer*innen der Kultur- und Kreativwirtschaft zunehmend aktiv. Die Kultur- und Kreativpilotinnen Sham Jaff (von „what happened last week“) sowie Pia Ihedioha (von „of Color“) des Jahrgangs 2021 haben es sich zur Aufgabe gemacht, den deutschen und internationalen Pressemarkt durch diskriminierungskritische Arbeit und Beleuchtung des Weltgeschehens außerhalb traditioneller westlicher Sichtweisen nachhaltig zu verändern.

© Francois Weinert

Denn hier gibt es großen Aufholbedarf, erklärt Sham Jaff, Gründerin des Nachrichten-Newsletters „what happened last week“: „In Deutschland haben rund 40 Prozent der Jugendlichen einen Migrationshintergrund. In den Medien jedoch arbeiten schätzungsweise 5 bis 10 Prozent Journalist*innen mit Migrationsgeschichte, nach den ‚Neuen Deutschen Medienmacher*innen‘ 2022. Das ist wirklich ein Armutszeugnis.“

„of Color“-Mitgründerin Pia Ihedioha ergänzt: „Die medialen Narrative über BIPoC werden nach wie vor überwiegend von weißen Menschen geprägt und das Bild von BIPoC ist stark von Stereotypen und Vorurteilen belastet.“

Aktivismus auf Unternehmerisch

Plattformen, Redaktionen und Formate, die sich kritisch mit gegenwärtigen Formen von Diskriminierung sowie den dazugehörigen Diskursen auseinandersetzen, werden also dringend gebraucht.

Seit 2014 schreibt die Journalistin Sham Jaff aus diesem Grund den englischsprachigen Newsletter „what happened last week“.
„‚what happened last week‘ ist ein wöchentlicher Newsletter, der Nachrichten aus Afrika, Asien und Lateinamerika kuratiert, erklärt und in einen historischen, sowie globalen Kontext setzt. Der Newsletter hat zum Ziel, Leser*innen für wichtige Themen wie Postkolonialismus, Antirassismus, Heteronormativät, Ableismus, Klassismus und Klimawandel zu sensibilisieren.“

© what happened last week

Denn das beschriebene Problem deutschsprachiger Medien wirkt weitaus umfassender als lediglich durch das Reproduzieren von Diskriminierung in den Medien. Auch werden relevante Nachrichten aus vielen Ländern und ganzen Kontinenten in der deutschen Medienlandschaft ohne notwenigen Kontext präsentiert oder schlichtweg ausgeblendet.

Sham Jaffs Arbeit füllt also nicht nur die Lücken der weiß-geprägten westlichen Berichterstattung, sie trägt aktiv zu einer ganzheitlichen und reflektierteren Weltansicht bei.

Doch ebenso hinter den Kulissen der meisten Medien-Outlets, in den Redaktionen und Büros, fehlen BIPoC-Personen und ihre Sichtweisen. Das rassismuskritische Magazin „of Color“ möchte das mittels eigener Publikationen ändern.

„Mein Team und ich schaffen gemeinsam mit anderen BIPoC einen (medialen) Raum, in dem BIPoC aktiv partizipieren und bestimmen. So werden vielfältige Lebensrealitäten of Color sichtbar – sei es in Print, Social Media, Online-Blogs oder Diskussionsrunden“, sagt Pia Ihedioha.

Beide Titelträgerinnen der Kultur- und Kreativpilot*innen setzen ihre aktivistischen Ansätze erfolgreich unternehmerisch um. Jedoch stellt sie dies in einem solchen Spannungsfeld vor verschiedene Herausforderungen.

Steine im Weg, das Ziel vor Augen

Denn Qualitätsjournalismus mit einer wirtschaftlichen unternehmerischen Basis zu untermauern, ist ein Kunststück. Erst recht, wenn es darum geht, Inhalte zu platzieren, die nicht dem medialen Mainstream entsprechen. Sham Jaff berichtet:

„Medien-Start-ups, die sich auf allgemeine gesellschaftliche oder politische Themen konzentrieren, haben es schwer – wie auch ‚what happened last week‘. Es gibt nicht genug Förderungs- und Finanzierungsmöglichkeiten, Anzeigenkund*innen platzieren ihre Werbung nur noch zurückhaltend in journalistischen Umfeldern. Ein Geschäftsmodell basierend auf der Zahlungsbereitschaft von Leser*innen ist langfristig gesehen keine stabile Einnahmequelle.“

Für ein gesellschaftlich-demokratisches Gut wie objektiven und vielschichtigen Journalismus gäbe es derzeit nicht genug systemische Wertschätzung, sagt auch Pia Ihedioha von „of Color“.

„Es ist herausfordernd, als aktuell noch ehrenamtliches Projekt die Mittel und Kapazitäten aufzutreiben, um Beiträge per Printmagazin und Co veröffentlichen zu können.“

Die Problematik liegt also in der Struktur des Pressemarkts als solchem sowie in unserer kulturellen Einstellung dazu, wie viel monetärer Wert handfestem Journalismus zugewiesen wird. Nachfrage und Interesse sind jedoch umfangreich vorhanden, erklären beide Titelträgerinnen.

Sham Jaff: „Ich erhalte seit Jahren gutes Feedback, was sich auch in der Zahl der Subscriber*innen widerspiegelt, die konstant wächst. Die Inhalte und die Perspektiven sind aufgrund der fehlenden Alternativen sehr nachgefragt.“

Aufgrund des langjährigen Erfolgs ihres Unternehmens wage sie sich nun ans Expandieren, berichtet Sham Jaff. Zusammen mit Expert*innen für Business Development sollen neue Projekte entstehen und Zielgruppen erschlossen werden: „Ich glaube an das Potential von ‚what happened last week‘ und bin mir sicher, dass es dort noch mehr zu holen gibt.“

Neben dem wirtschaftlichen Aspekt, von der eigenen Arbeit leben zu können, seien es auch zwischenmenschliche Momente, die die harte Arbeit immer wieder lohnenswert machen, erzählt Pia Ihedioha von „of Color“:

„Unsere erste Printausgabe enthielt die Illustration eines Klassenbildes von Joanne Heller, in dem eine einzige Schwarze Person in einer Klasse lauter weißer Kinder zu sehen war. Viele BIPoC haben sich dort laut Rückmeldungen gesehen und verstanden gefühlt – und genauso ging es mir auch. Das war wirklich ein tolles Gefühl, denn hier hat sich gezeigt: Unsere Arbeit schafft das, was wir damit erreichen wollten.“


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„what happend last week“ und „of color“ sind Titelträgerinnen der Auszeichnung Kultur- und Kreativpilot*innen Deutschland, die im Namen der Bundesregierung jedes Jahr verliehen wird. Bundesweit werden Selbständige, Gründer*innen, Unternehmen und Projekte aus der Kultur- und Kreativwirtschaft und deren Schnittstellen zu anderen Branchen gesucht, die mit innovativem Gründergeist, Engagement und Mut ihre kreativwirtschaftlichen Ideen umsetzen.

In zwölf Jahren Auszeichnung ist ein großes Netzwerk aus Titelträger*innen und Expert*innen der Branche entstanden. Das inotiv-Netzwerk bietet die Möglichkeit, sich gemeinsam weiterzuentwickeln und Expertisen zu teilen. Das Potenzial des Netzwerkes wird auch in den Veröffentlichungen sichtbar, die in Zusammenarbeit mit den Akteur*innen entwickelt wurden: So sind bereits eine spannende Trendanalyse und ein Toolset zum Thema Resilienz für krisenfestes Unternehmer*innentum entstanden.

Interessierte können sich noch bis zum 30. Juni 2022 mit ihrer Idee, ihrem Projekt oder Unternehmen für die Kultur- und Kreativpilot*innen online bewerben. Titelträger*innen werden automatisch Teil des inotiv-Netzwerks.