Interview: Sonja Eismann
Foto: Léon Prost

Wann hat das Hässliche angefangen, dich zu faszinieren?
Ich bin in einem grauen Pariser Vorort aufgewachsen, in einem nicht besonders wohlhabenden, aber intellektuellen linken Milieu, wurde aber trotzdem auf eine vornehme Schule geschickt. Damals habe ich von Logos und dem ganzen Bling-Bling geträumt, zu dem meine reichen Klassenkamerad*innen Zugang hatten – aber meine Eltern hielten die anderen Kinder für übertrieben, übersexualisiert, geschmacklos. Da erkannte ich, dass Geschmack viel mehr bedeutet als eine rein ästhetische Entscheidung, und das faszinierte mich.

Du unterscheidest in deinem Buch zwischen den französischen Wörtern „laid“ und „moche“, die beide, auf unterschiedliche Weise, „hässlich“ bedeuten. Warum ist „moche“ für dich das bessere Hässlich?
„Laid“ ist das genaue Gegenteil von „beau“, also schön – sowohl visuell als auch symbolisch. Schon in der antiken griechischen Philosophie wurde „beau“ mit „bon“, also

„gut“, assoziiert, während „laid“, das abgrundtief Hässliche, mit dem Bösen in Verbindung gebracht wurde. „Moche“ hingegen ist freundlicher: Es ist das hässliche Entlein, der Christmas Sweater, den deine Tante dir gestrickt hat, ein paar Crocs – hässlich in der Form, aber nicht bösartiger Natur. Das war genau das, was mich interessiert hat. Ich war fasziniert von dieser Trennung von Aussehen und Wert und der Rückbindung an andere Kategorien wie Bequemlichkeit, Spaß, Warmherzigkeit. Dieser Raum für Neuerfindung und Dekonstruktion, den „moche“ im Gegensatz zum abwertenden „laid“ bietet, war für mich der Startpunkt. Daraufhin habe ich begonnen, all die unterschiedlichen Arten von „moche“ aufzulisten, all diese ganz ernsten, berührenden Ausrutscher der visuellen Welt.

Missy Magazine 04/22, Mode