Interview: Ulla Heinrich

Der Titel deiner Arbeit gibt uns schon einen Hinweis darauf, dass dies kein kurzweiliger Einblick ist, sondern ein Projekt. Etwas, an dem du lange gearbeitet hast und das verschiedene Phasen hatte.
Als ich vor vier Jahren nach Berlin gezogen bin, ist mir klar geworden, dass ich mein Gender zuvor nicht infrage gestellt habe. Ich war damit beschäftigt, als schwuler und rassifizierter Mann und Künstler zu überleben. In Berlin habe ich damit begonnen, meine ganz persönliche queere Ausdrucksform zu finden. Das Nicht-binäre hat sich für mich am vertrautesten angefühlt.

Das „O“ spielt dabei eine besondere Rolle …
In der türkischen Sprache ist das „O“ die geschlechtslose dritte Person. Alle Geschlechter können damit angesprochen werden. Wenn ich auf Türkisch über eine Person spreche,

muss ich ihr Geschlecht nicht offenbaren. Das „O“ ist auch ein geschlossener Kreis. Ich habe das Gefühl, dass ich einen Zyklus vollendet habe und meinen Platz in dieser messy Welt finden konnte. Musikalisch und ästhetisch habe ich mich gefragt, wer die erste nicht-binäre Person gewesen ist, die ich wahrgenommen habe, und das ist in meiner Kindheit der Sänger Zeki Müren gewesen. Zeki Müren hat jahrzehntelang Musik gemacht und in einer heteronormativen Gesellschaft und Musikwelt Gendergrenzen gesprengt, ohne dass das jemals thematisiert worden wäre. Zeki war unsere queere Ikone, unser David Bowie.

© Uygar Önder Şimşek

Deshalb interpretierst du auch Songs von Zeki Müren auf „Project O“ neu. Welche Bedeutung hat dein Vater in diesem Kontext?
Im Prozess der Dekonstruktion und Dekolonisierung meines Genders bin ich nicht nur Zeki Müren begegnet, sondern auch meiner Familie, meinem Vater. Mein Vater ist ebenfalls Sänger und seine Lieder waren die ersten, die ich jemals gehört habe. Mit meinem Album verbinde ich diese musikalische Erfahrung mit zeitgenössischer Popmusik und türk sanat müziği (türkischer Kunstmusik, Anm. d. Red.). Das Album ist, bis auf einen Song, komplett in türkischer Sprache.

Wie wirst du das Album in eine Performance übertragen?
Ich nehme das Publikum mit auf die Reise, die ich dir gerade beschrieben habe, die Reise des „O“. Das Publikum kann dabei sein, wie ich diesen Zyklus vollende. Ich mache mich sehr vulnerabel. Ich werde zeigen, wie Zeki Müren durch den Fernseher in mein Leben getreten ist, welche Rolle mein Vater gespielt hat, meine Erfahrungen als cis, gay und brown person in der weißen Musikwelt teilen und daran teilhaben lassen, wie ich mich verändert habe, um zu überleben. Ich verbinde mich mit der Vergangenheit, um die Gegenwart zu begreifen. Teile meiner queeren Oper „Asshole Monologues“ werden ebenfalls in „Project O“ zu sehen sein, das Thema also, wie das heteronormative Patriarchat und die Religion sich zwischen mich selbst und mein Begehren gestellt haben und wie ich das dekolonisiert und dekonstruiert habe. Das hat für mich auch bedeutet, mir zu erobern, queer und muslimisch sein zu können und alles aus einer nicht-binären – meiner eigenen – Perspektive zu betrachten.

Welche Bedeutung hat das interdisziplinäre Arbeiten für dich als Künstler*in?
Ich habe eine klassische Musikausbildung und viele Jahre Gesang unterrichtet. Als 2013 die Gezi-Park-Proteste in der Türkei begonnen haben, habe ich ein Lied geschrieben und ein Musikvideo veröffentlicht. Das Video ist viral gegangen und ich habe das erste Mal die Möglichkeiten erkennen können, die das interdisziplinäre Arbeiten mir als Künstler*in bieten. Die visuellen Künste geben mir die Möglichkeit, vielschichtiger auszudrücken, was ich politisch sagen möchte. Die Trennung zwischen den Disziplinen ist eine unnütze Erfindung, auch eine akademische und patriarchale. Wir selbst sind nur komplett, wenn wir Trennungen und Binaritäten überwinden.

Wie wichtig sind explizit queere Räume wie die „QueerWeek“ im Gorki Theater? Du wirst mit „Project O“ das Festival eröffnen.
Queere Räume geben mir eine wundervolle Pause von dem konstanten Exil, in dem ich mich befinde. Es ist auch eine Pause, in der ich selbst die Kontrolle habe, die Geschichten zu erzählen, die ich erzählen möchte. Ich fühle mich gesehen und respektiert und bekomme die Ressourcen, die ich brauche. Also so, wie weiße cis Männer sich meistens fühlen können in dieser Welt. Queere Räume geben mir die Möglichkeit, meine persönliche Geschichte mit der von anderen zu verbinden, um gemeinsam die Zukunft zu verändern.

Das Festival „In Exile. QueerWeek22“ findet von 01.-11.09. im Maxim Gorki Theater in Berlin statt. Anthony Hüseyins Neuinterpretation von „Project O“ wird am 01.09. das Festival eröffnen. gorki.de/de/in-exile-queerweek22

Dieser Text erschien zuerst in Missy 04/22.