Film- und Serientipps 04/22
Von
Alcarràs
Das Lachen von Kindern mischt sich mit dem Lärm eines Baggers. Schon in den ersten Minuten des Goldenen-Bär-Gewinners „Alcarràs“ kündigt Regisseurin Carla Simón einen filmischen Balanceakt zwischen spielerischer Sanftheit und rauer Härte an. Dieser entfaltet sich vor der sandigen Landschaft Kataloniens. Hier lebt Familie Solé seit Jahrzehnten von der Landwirtschaft. Nun droht den schattenspendenden Pfirsichbäumen und somit der Existenz des mehrgenerationalen Haushalts die Übernahme durch einen Baukonzern. Die traditionelle Farm soll durch profitbringende Solarpanels ersetzt werden. Was ein dramatischer Thriller sein könnte, wird unter der Regie von Carla Simón zu einem unsentimentalen, jedoch tiefgründig empathischen Beziehungsepos. Der zweistündige Film durchleuchtet die Effekte, die der steigende Druck auf die Protagonist*innen hat, und gibt Einblicke in die Welt jedes Familienmitglieds. Wir lernen die Choreografie der Tochter, lesen die Vergangenheit aus den traurigen Augen des Großvaters und fiebern mit dem Sohn mit, der die Schule vernachlässigt, um seinem Vater zu helfen. Durch eine fast dokumentarische Linse und mit dem Einsatz von Laiendarsteller*innen fängt „Alcarràs“ weinreiche Familienfeiern und kindliche Spielereien ein, aber auch die harte Feldarbeit, soziale Konflikte und die Machtlosigkeit in Folge von kapitalistischen Klassenstrukturen. Liv Toerkell
„Alcarràs“ ES/IT 2022 ( Regie: Carla Simón. Mit: Jordi Pujol Dolcet, Anna Otín u. a., 120 Min., Start: 11.08. )
Chiara
Was tun, wenn dir mit 15 plötzlich bewusst wird, dass deine ganze Familie der mafiösen und patriarchal strukturierten N’drangheta angehört? Und was, wenn du trotzdem ein liebevolles und inniges Verhältnis zu dieser Familie hast? Die Protagonistin Chiara (Swamy Rotolo) wird plötzlich aus ihrer wohlbehüteten, heimeligen Lebensrealität gerissen. Auf einmal muss sie klären, was das alles für sie bedeutet. Dafür braucht die willensstarke Jugendliche zunächst Antworten auf die vielen Fragen, die in ihr aufkommen, und so macht sie sich auf die Suche, um wütend und furchtlos Licht in ihr Dunkel zu bringen. Bereits mit der Setzung dieser Erzählperspektive bewegt sich das neorealistische Drama weit weg von klischeebehafteten Traditionen des Mafiafilm-Genres, in dem Frauen oft passiv und unwissend dargestellt werden oder gar nicht erst vorkommen. Aber auch die Glorifizierung von toxischer Männlichkeit und Gewalt bleibt aus. Im Zentrum steht stattdessen eine zugewandte Vater- Tochter-Beziehung, in der Letztere sich die Möglichkeit erkämpft, den eigenen moralischen Kompass auszuloten und selbstbestimmt über ihre Zukunft zu entscheiden. Schade nur, dass z. T. Stereotype über Rom*nja reproduziert werden in diesem letzten Teil der Trilogie des Regisseurs Jonas Carpignano über die kalabrische Stadt Gioia Tauro. Naira Estevez
„Chiara“ IT / FR 2021 ( Regie: Jonas Carpignano. Mit: Swamy Rotolo, Claudio Rotolo, Grecia Rotolo u. a., 121 Min., Start: 23.06. / Mubi: 26.08. )
Corsage
Die Kaiserin raucht und flucht. Der Kaiser zieht seinen Backenbart vom Gesicht, um seiner Frau mit der Sorte Schnurrbart gegenüberzusitzen, wie man sie 2022 öfters sieht. Schon in den ersten Minuten verwandelt Regisseurin Marie Kreutzer historische Figuren in echte Menschen: „Corsage“ ist ein Historienfilm, der die Regeln bricht. Dabei ist es historisch durchaus korrekt, wenn die vierzigjährige Elisabeth, Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn, rauchend zu sehen ist, extremen Diäten folgend und mit Anker-Tattoo auf der Schulter. Die „Sissi“ aus dem Weihnachtsprogramm der Öffentlich-Rechtlichen hat im echten Leben tatsächlich mit Konventionen gebrochen. Der Film konzentriert sich ganz auf diesen persönlichen Freiheitskampf der von Vicky Krieps eindrücklich verkörperten Monarchin, die im höfischen Zeremoniell keine Luft zum Atmen findet. Statt auf die genretypisch opulente Ausstattung setzt das Produktionsteam dabei auf fast leere Innenräume und ein kluges Kostüm- (Monika Buttinger) und Maskenbild (Maike Heinlein), das im Verlauf des Filmes so reduziert und zeitlos wird, dass sich die Geschichte schließlich aus dem letzten Rest Epochenverhaftung löst. Minutiös durcharrangiert erzählt Kreutzer eine starke und zutiefst traurige Elisabeth nebst einer Geschichte, bei der Selbstermächtigung und Verschwinden passgenau übereinanderliegen. Yala Pierenkemper
„Corsage“ AT/LUX/DE/FR 2022 ( Regie: Marie Kreutzer. Mit: Vicky Krieps, Katharina Lorenz, Florian Teichtmeister u. a., 113 Min., Start: 07.07. )
Das Pfauenparadies
Eine Großfamilie kommt zum Geburtstag von Großmutter Nena (Dominique Sanda) zusammen. Sohn Vito (Leonardo Lidi), Schwiegertochter Adelina (Alba Rohrwacher) und Enkelkind Alma (Carolina Michelangeli) bringen ihr Haustier, den Pfau Paco, mit. Vito und Adelina verkünden eine frohe Neuigkeit. Vitos Schwester Caterina (Maya Sansa) lässt sich von ihrem toxischen Ex Manfredi (Fabrizio Ferracane) und seiner neuen Freundin Joana (Tihana Lazović) zum Treffen fahren, doch die Familie weiß noch nichts von der Trennung. Großcousine Isabella (Yile Vianello), ebenfalls frisch getrennt, hingegen vertraut sich Grazia (Ludovica Alvazzi Del Frate) an – der nach einem Trauma verstummten Tochter von Haushälterin Lucia (Maddalena Crippa). Lucia hat wiederum eine besondere Beziehung zu Großmutter Nena, die mit Ehemann Umberto (Carlo Cerciello) ihren Lebensabend verbringt. Eine tragische Schlüsselrolle spielt der Pfau, der nicht fliegen kann. Das Familiendrama bietet keine kurzweilige Unterhaltung, sondern Stoff zum Nachgrübeln. Denn durch die verworrenen Verhältnisse zwischen den elf Protagonist*innen durchzusteigen, kann dauern. Doch Regisseurin Laura Bispuri ist es unter erschwerten Pandemiebedingungen mit einfachen Mitteln gelungen, einen einfühlsamen Film zu drehen, dessen elf Charaktere vielschichtig und glaubhaft sind. Katrin Börsch
„Das Pfauenparadies“ IT/DE 2022 ( Regie: Laura Bispuri. Mit: Dominique Sanda, Alba Rohrwacher, Maya Sansa u. a., 89 Min., Start: 07.07. )
Der laute Frühling
Nur eine gute Stunde lang ist Johanna Schellhagens Hybrid-Dokumentarfilm „Der laute Frühling“, der auch als „spekulative Fiktion“ gelabelt ist. Ohne großes Drumherum geht es direkt los mit den harten Fakten des Klimawandels, in dem wir uns bereits befinden. Und der sich zur Katastrophe entwickelt, wenn sich nicht radikal etwas ändert. O-Töne von führenden Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen unterstreichen die geradezu verstörende Dringlichkeit, einzig die wiederkehrende Erzählerinnenstimme vor schwarzem Standbild ist als Stilmittel etwas störend. Nach etwa der Hälfte des Filmes kommt die spekulative Fiktion zum Tragen: Die klaren und sparsam animierten Schwarz-Weiß-Illustrationen von Lee Lai visualisieren die Utopie samt Lösungsvorschlag: Der Weg aus der Klimakrise ist nur möglich mit der Abkehr vom auf Wachstum und Gewinn orientierten Kapitalismus. Durchdekliniert wird ein revolutionärer Aufstand in Berlin im Frühjahr 2024, die Niederlegung der Arbeit und der Umsturz der Gesellschaft, wie wir sie kennen. Die vorwärtstreibende Musik von Tomi Simatupang unterstützt den Sog der mutigen Zukunftsvision. „Der laute Frühling“ setzt ein Zeichen gegen strukturelle Ohnmacht und fungiert als konstruktive Handreichung für größeres Verständnis und radikales Umdenken. Amelie Persson
„Der laute Frühling“ DE 2021 ( Regie: Johanna Schellhagen. 62 Min., Start: 04.08. )
Republic Of Silence
Filmemacherin und Aktivistin Diana El Jeiroudi lebt mit ihrem Mann und kreativen Partner Orwa Nyrabia in Berlin, ihre Heimat Syrien mussten sie verlassen. Während sie in Sicherheit sind, führt Diktator Assad weiter Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Immer wieder dreht sich alles um eine Frage: Was kann man tun, „damit die Menschen verstehen, was in Syrien geschieht“? Genau das will der essayistische Dokumentarfilm „Republic Of Silence“ erreichen. Zwölf Jahre lang hat die Regisseurin ihre zwei Leben in Damaskus und Berlin dokumentiert, Unfassbares ebenso wie Beiläufiges. Das Ergebnis ist eine dreistündige assoziative Reise durch ihre und die syrische Geschichte, die untrennbar miteinander verwoben sind. In intimen Momenten widmet sie sich ihrer Familie, vor allem Orwa, dessen Inhaftierung 2013 weltweit für Entrüstung sorgte. Nun zeigt El Jeiroudi die Ereignisse aus ihrer Perspektive – die einer Beobachterin, die oft mit ihrer Beobachterinnenrolle ringt. Dabei lässt sie uns einiges miterleben: Schrecken und Traurigkeit, Schüsse und Schreie, die Stille danach. Nicht-Betroffene sollen mit ihr durch die Hölle gehen, die für Menschen in und aus Syrien bitterer Alltag geworden ist. Dafür bittet Diana El Jeiroudi mit sanfter Dringlichkeit um einen winzigen Bruchteil der Zeit, Geduld und Nerven, die sie selbst braucht, um weiter für ihr Land zu kämpfen. Eva Szulkowsi
„Republic Of Silence“ DE/FR/SY/IT 2021 ( Regie: Diana El Jeiroudi. 183 Min., Start: 11.08. )
L’Horizon
Adja, 18 Jahre alt, lebt in einem nördlichen Vorort von Paris. Als in ihrer Nachbarschaft auf den umliegenden Feldern ein großes Einkaufscenter gebaut werden soll, findet sie die Proteste dagegen erst mal lächerlich. Doch dann verliebt sie sich in ihren Mitschüler Arthur, Sohn eines örtlichen Biobauern, dessen Hof dem Center weichen muss und der zu den Aktivist*innen gehört, die auf dem Areal ein Protestcamp aufgebaut haben. Adja ist fasziniert und fühlt sich gleichzeitig nicht zugehörig, ist abgeschreckt von der Armutsperformance der überwiegend weißen Aktivist*innen und spürt doch, dass sie aktiv werden will. Ihre beste Freundin und ihr älterer Bruder beobachten Adjas neu erwachtes politisches Bewusstsein mit Befremden. Es sei doch klar, warnt Adjas Bruder, wer im Falle einer gewaltvollen Räumung durch die Polizei mit harten Konsequenzen zu rechnen habe: Adja, als Schwarzes Mädchen aus den Banlieues. Von diesen Zwischentönen hätte man sich in Emilie Carpentiers Debütfilm noch ein bisschen mehr gewünscht. In teils dokumentarisch, teils märchenhaft anmutenden Bildern erzählt sie die Geschichte dieses politischen Coming-of-Ages in der Klimabewegung manchmal etwas stereotyp, doch auch nah an seiner Protagonistin und ohne übliche Banlieue-Klischees französischer Filme – bis zum versöhnlichen Ende, bei dem sich Adja fragen muss, wem ihre Solidarität gehört und wer solidarisch mit ihr ist. Anna Mayrhauser
„L’Horizon“ FR 2021 ( Regie: Emilie Carpentier. Mit: Tracy Gotoas, Sylvain Le Gall u. a., 84 Min., Start: 08.09. )
Alice Schwarzer
Es gibt eine Szene, die exemplarisch dafür steht, wie die Dokumentation der Regisseurin Sabine Derflinger über Alice Schwarzers Leben mit Diskursen und Kritik umgeht, und das ist diese: Schwarzer und die langjährige „Emma“-Karikaturistin Franziska Becker, im Jahr 2019 auch für ihre rassistischen Karikaturen mit der Hedwig-Dohm-Urkunde ausgezeichnet und daraufhin öffentlich kritisiert, unterhalten sich. „Der Shitstorm letztes Jahr hat mich eigentlich nicht berührt“, sagt Becker. „Das war auch zu lächerlich, dich des Rassismus zu beschuldigen“, sagt Schwarzer. Die rassistischen Karikaturen werden gezeigt. Elegische Musik. Ende der Durchsage. Auch Alice Schwarzers Positionen zu Kopftuch oder Sexarbeit werden ausgiebig gewürdigt, Gegenpositionen nicht abgebildet. Die Debatte um Schwarzers Transfeindlichkeit kommt gar nicht vor, obwohl der Film in etwa den gleichen Tagen Premiere feierte, in denen auch Schwarzers aktuelle „Streitschrift“ zum Thema erschien. Die „liebevolle Würdigung“, die der Film sein soll und als die er bis jetzt vielfach bezeichnet wurde, ist erschütternd unkritisch. Kamen in Derflingers berührendem Porträt der ersten österreichischen Frauenministerin Johanna Dohnal noch ausführlich jüngere Feminist*innen zu Wort, ist ihre Abwesenheit nun auffällig und aussagekräftig. So ist der Film vieles, aber bestimmt nicht die „Reise durch die Geschichte des Feminismus der zweiten Frauenbewegung bis heute“, die das Presseheft verspricht. Anna Mayrhauser
„Alice Schwarzer“ AT/DE 2022 ( Regie: Sabine Derflinger. 136 Min., Start: 15.09. )
Diese Texte erschienen zuerst in Missy 04/22.