Bring mich noch zur Ecke
Schmachten. Bangen. Warten. All das gehört definitiv nicht zu Elises Lebensplan. Die Journalistin ist Mitte fünfzig und gemütlich-gemächlich mit dem gleichaltrigen Henrik verheiratet. Beide Söhne sind aus dem Haus und ihr Leben plätschert höchst zufriedenstellend vor sich hin. Bis sie eines Abends auf einer Veranstaltung Dagmar kennenlernt. Und beide wie vom Blitz getroffen sind. Auch Dagmar ist verheiratet, hat mit ihrer Frau zwei noch kleine Töchter und wohnt Hunderte von Kilometern entfernt. Keine möchte sich, keine kann sich für die andere trennen. Doch dann beginnt das Unausweichliche: Sie müssen sich immer wieder treffen. Anneli Furmark, die schwedische Comiczeichnerin mit den feinen Antennen für zwischenmenschliche Beziehungen, fängt mit ihrer Farbpalette aus erdiglebhaft, blau-kühl und grau-depressiv die vielen Gefühlszustände ein, durch die Elise taumelt. Im Gegensatz zu ihren anderen Graphic Novels gilt hier ihre Aufmerksamkeit nicht den Landschaften, Inneneinrichtungen oder anderen Backgrounds, sondern den Protagonistinnen. Deren Unsicherheit, Verzweiflung und Verletztheit, aber auch ihrer Lust und Verknalltheit. Trotz der fast kinderbuchschönen Zeichnungen wird die Liebes- und Lebenskrise einer über 50-Jährigen weder idealisiert noch lächerlich gemacht. Sondern einfach so traurig, schön und anstrengend dargestellt, wie sie ist – offenes Ende ohne happy inklusive. Sonja Eismann

Anneli Furmark „Bring mich noch zur Ecke“ ( Aus dem Schwedischen von Katharina Erben. avant-verlag, 232 S., 25 Euro )

Virus Tropical
Ein Geschlechtsakt 1976 in Quito, eine unwahrscheinliche Empfängnis und eine als „Virus Tropical“ diagnostizierte Schwangerschaft – Paola Gaviria beginnt ihre autobiografische Coming-of-Age-Geschichte am Anfang der eigenen Existenz. Der Erzählkosmos dieser 2011 als Debüt erschienenen und jetzt ins Deutsche übersetzten Graphic Novel reicht von Ecuador bis Kolumbien, ihr Fokus verweilt jedoch auf dem engen Kreis einer wohlhabenden Familie. Neben einem emotional und physisch weitgehend abwesenden Vater besteht diese nur aus Frauen: der Mutter und den zwei älteren Schwestern der Protagonistin, deren Beziehungsdynamiken in schwarz-weißen Wimmelbildern erzählt werden. Jedoch bleibt der gesellschaftliche Kontext meist außen vor, was aufgrund von Lateinamerikas politischer Bewegtheit – die in Kolumbien erst 2021 wieder revolutionäre Proteste und staatliche Brutalität hervorgebracht hat – mehr als schade ist. Wenn klassistische und rassistische Strukturen, die die eigenen Privilegien begründen, nicht reflektiert und teilweise reproduziert werden, ist das problematisch. Eine entsprechende Überarbeitung hätte sich gelohnt. Naira Estevez

Powerpaola „Virus Tropical“ ( Aus dem Spanischen von Lea Hübner. Parallelallee, 152 S., 19 Euro )

Die Hure H
Die Hure H ist schon eine alte Dame. Die Illustratorin Anke Feuchtenberger und die Autorin Katrin de Vries brachten die drei hier vereinten Comicbände bereits zwischen 1996 und 2006 raus. Das ikonische Werk ist jedoch auch für Jüngere aktuell. Durch acht Kapitel begleiten wir H auf ihrem Weg. Die Hauptfigur ist auf der Suche, in erster Linie nach ihrer Selbstdefinition, Sicherheit, Unabhängigkeit … und ihrer Haltung zum Wesen des Mannes? Die lakonischen Texte und die Bilder lassen Deutungsspielraum. Auch der Titel markiert eine Neuorientierung , denn „Die Hure H“ bewegt sich jenseits der tradierten Sexarbeitssymbolik. H wandelt durch surreale Welten, durchmisst öde, widrige Umgebungen – endlose Gänge, Berge voll Männergebeine – und begegnet Wesen, die ihren Weg mitbestimmen. Trägt sie dabei zunächst eigentümliche Kopfbedeckungen und ist mal nackt, mal halbnackt, erscheint sie später in Mantel oder Catsuit. Zunächst linear, in Schwarz-Weiß-Kontrasten und räumlichkeitsgebenden Strukturen gehalten, wird das Szenario gegen Ende mit weich abgestuften Kohlezeichnungen plastischer. Was bleibt, ist der typische Feuchtenberger-Stil: eine konzentrierte Wahl der Requisiten und krasse, sich rasant wandelnde Blickwinkel. Imke Staats

Katrin de Vries, Anke Feuchtenberger „Die Hure H – Gesamtausgabe“ ( Reprodukt, 248 S., 39 Euro )

Sonnenseiten
Ana Penyas’ zweite Graphic Novel ist so schön gezeichnet, so detailreich bunt, dass es fast wehtut. Und das soll es auch. Denn während uns die sonnengelben Buntstift-Bilder von Strand und Meer sofort mit Urlaubslust infizieren, haut uns die Künstlerin um die Ohren, warum genau das das Problem ist. Von den Anfängen der spanischen Tourismusindustrie unter Franco, als die Urlauber*innen einen feuchten Dreck darauf gaben, in das Land eines faschistischen Diktators zu reisen, über den massiven Küstenbebau mit riesigen Hotels bis zu Gentrifizierungsprozessen im Heute macht uns Penyas anhand mehrerer Generationen einer von ihrem Land verdrängten Familie klar, dass wir Verantwortung haben. Die Kombination von Fiktion und Dokumentation, von verschiedenen Zeit- und Erzählebenen und von künstlerischen Überraschungen – wie in die Zeichnungen eingearbeiteten zeitgenössischen Fotoausschnitten und detailgetreu rekonstruierten Werbungen – lässt eine*n das Buch immer wieder in die Hand nehmen und Mal um Mal fasziniert Neues entdecken. Der ultimative Anti-Reiseführer. Sonja Eismann

Ana Penyas „Sonnenseiten“ ( Aus dem Spanischen von Lea Hübner. bahoe books, 144 S., 19 Euro )

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 04/22.