Staus und Behinderungen von Marie Minkov

Letztens wollte ich in der Uni mit dem Fahrstuhl in den vierten Stock eines Gebäudes fahren, um ein Seminar zu besuchen. Neben den Fahrstühlen hingen Plakate, auf denen geschrieben stand: „Campusheld*innen nutzen Treppe statt Fahrstuhl. Campusheld*innen verbrauchen Kalorien statt Strom.“ Darüber zeigten Beispiele, wofür die Energie, die der Fahrstuhl täglich verbraucht, besser genutzt werden könnte.

Theoretisch könnte ich die Treppen in den vierten Stock hochsteigen, die Krücken in die rechte Hand nehmen, mich mit der linken am Geländer festhalten und los geht‘s. Viele Menschen, von denen es nicht erwartet wird, sind körperlich dazu in der Lage, zu Fuß in den vierten Stock zu gelangen. Aber dabei müssen sie über ihre körperlichen Grenzen hinausgehen, das ist anstrengend und kann in Schmerzen, Wunden oder Atemnot resultieren oder ist mit einem Sturzrisiko verbunden. Ich steige regelmäßig Treppen in den vierten Stock, weil Gebäude in den seltensten Fällen barrierefrei sind. Aber oben angekommen bin ich eben auch ziemlich fertig und brauche eine Pause, bevor ich mich auf irgendwelche Seminarinhalte konzentrieren kann. Vor den Plakaten auf den Fahrstuhl wartend musste ich mich also fragen: Will ich die Energie des Fahrstuhls sparen oder meine eigene?

Marie Minkov

Marie Minkov arbeitet als freie Autorin und Illustratorin und studiert Literarisches Schreiben in Hildesheim. In ihren Texten befasst sie sich mit Behinderung, Norm und Scham und untersucht das Inklusionspotential autobiografischer Texte.

Wenn die Macher*innen der Plakate mich in diesem Moment gesehen hätten, dann hätte wahrscheinlich niemand von ihnen darauf bestanden, dass ich die Treppen nehme. Im Gegenteil, sie hätten gesagt: „Du darfst natürlich den Fahrstuhl nutzen, du bist eine Ausnahme. Natürlich sind Menschen mit Behinderung, chronischen Erkrankungen, alte Menschen oder Menschen mit Kinderwagen nicht mitgemeint.“ Ob nicht mitgemeint oder nicht mitgedacht – scheinbar sind wir von bestimmten Klimaschutzmaßnahmen ausgenommen.

Ich vs. der Klimaschutz. Das hat schon früh angefangen. Bin ich heuchlerisch, wenn ich mich Vegetarierin nenne, aber Teile meiner Krücken oder Orthesen aus Leder hergestellt sind? Wie kann es sein, dass meine Familie nur noch festes Shampoo benutzt, ich aber durch die Hilfsmittel, die ich benötige, Unmengen an Plastikmüll in die Wohnung schleppe? Wie kann ich Müll trennen und gleichzeitig mehrmals im Monat Essen bestellen, weil ich wieder keine Energie zum Einkaufen habe? Und was bedeutet es, dass all meine Freund*innen schon auf Fridays-for-Future-Demos waren, aber ich noch nie?

Dass Klimaschutzpolitik mit Barriefreiheit clasht, ist nichts Neues, das passiert, seit es den Klimaschutz gibt. Als bspw. Plastikstrohhalme in vielen Ländern verboten wurden, gab es eine Welle an Behindertenrechtsaktivist*innen, die versucht haben, ihre Bedürfnisse stark zu machen, aber größtenteils überhört wurden. Plastikstrohhalme wurden zu Beginn ihrer Geschichte insbesondere für Menschen mit Behinderung und/oder (chronischen) Erkrankungen hergestellt, die ihre Nahrung in flüssiger Form aufnehmen müssen. Menschen, die bspw. nur wenig Kontrolle über ihre Halsmuskeln haben, sind vor der Erfindung des Plastikstrohhalms nicht selten daran gestorben, dass Flüssigkeit in ihre Lunge gelangt ist und dort eine Entzündung ausgelöst hat. Die Erfindung von biegsamen Plastikstrohhalmen rettete Leben, heutzutage stehen sie in einem moralischen Konflikt zum Klima- und Tierschutz.

Das Problem ist, wie so oft, dass Umweltschutzkampagnen, statt Strukturen zu bekämpfen, Einzelpersonen für den Klimawandel zur Verantwortung ziehen und ihnen ein schlechtes Gewissen machen. Dabei sorgen nur wenige große Konzerne für einen Großteil der CO2-Emissionen und nach wie vor fehlen strengere Gesetze und Kontrollen. Stattdessen heißt es:  Kauf keine Billigprodukte, fahr kein Auto, bestell nichts im Internet, nimm nicht den Fahrstuhl, produzier nicht so viel Plastikmüll. Das trifft marginalisierte Menschen mehr als andere, weil sich viele eben keine Bioprodukte leisten können oder auf Fahrstühle angewiesen sind. Und am Ende kommt nichts dabei raus außer ein schlechtes Gewissen.

Und ein schlechtes Gewissen ist etwas, das viele Menschen mit Behinderung (und übrigens auch andere marginalisierte Menschen) ohnehin schon zu gut kennen. Wer oft auf die Hilfe anderer angewiesen ist, erwischt sich schnell bei dem Gedanken: Bin ich gerade eine Belastung? Sind meine Grundbedürfnisse gerade zu viel und haben negative Konsequenzen für andere, für meine Umwelt? Ich habe keine Lust darauf, mir diese Fragen zu stellen, doch ich muss, denn am Ende des Tages ist es meine Aufgabe, abzuwägen, was das kleinere Übel ist: meine eigene Erschöpfung oder der Stromverbrauch eines Fahrstuhls.

Morgen werde ich wieder einmal in einem überfüllten Regionalzug sitzen und fünf Stunden von Hildesheim nach Berlin fahren. Mit meinem Behindertenausweis kann ich immer kostenlos Regio und öffentlichen Nahverkehr fahren, damit ist die Regionalbahn eine der wenigen öffentlichen Räume, deren Eintritt mir per Gesetz erleichtert wird. Seitdem das Neun-Euro-Ticket eingeführt wurde, sind die Bahnen überfüllt und ich habe den inneren Konflikt, dass ich natürlich den Sinn hinter diesem Ticket sehe, aber eben auch das Gefühl habe, dass mir etwas genommen wird. Rollstuhlplätze werden eher vollgestellt, die Chance auf einen Sitzplatz hat sich enorm verringert. Auch hier heißt es: ich vs. der Klimaschutz.

Dabei will ich gar nicht auf der anderen Seite stehen. Ich will, dass Menschen mehr Bahn fahren, dass weniger Plastik verbraucht wird, dass wir an Ressourcen sparen und diesen Planeten irgendwie retten. Aber ich will eben auch mein Leben leben, ohne mir für Notwendigkeiten ein schlechtes Gewissen machen zu müssen. Deshalb sollte ich nicht abwägen müssen zwischen Klimaschutz und Barrierefreiheit und auch nicht von Klimaschutzmaßnahmen ausgenommen sein, sondern mitwirken dürfen.