Comictipps 05/22
Von MissyRedaktion
Glauben Sie an die Wahrheit?
Wenn diese Missy erscheint, sind die Wahlen in Italien, wo die gruseligen Postfaschisten vorn liegen, vorbei. Die Brasilien-Wahl, vor der Präsident Bolsonaro über Fälschungen unkt, ist erst im Oktober. Tja, Fake News! Wie viel Einfluss sie auf Wahlen haben, kam schon bei den US-Präsident*innenschaftswahlen 2016 raus, als Donald Trump auch mithilfe von in Mazedonien gestrickten Fakes Präsident wurde. Die französische Journalistin und Autorin Doan Bui hat nun gemeinsam mit Zeichnerin Leslie Plée rund ums Thema einen flotten Comic geschaffen und keine Mühen gescheut: Es gibt ein Glossar und Tipps, wie man Fake News frühzeitig entlarven kann („Nr. 8: Gehe auf Verifizierungsseiten wie Hoaxmap oder First Draft News“). Vor allem aber hat Bui Verschwörungsleute vieler Couleur interviewt. In „Glauben Sie …“ sind außerdem versammelt: Truther, Birther, QAnon- und Flache-Erde-Fans, aber auch Algorithmen, die uns alle vorm Rechner halten („,4 mitreißende Akkorde, um Rihanna zu spielen‘. Yeah genial!“, leider auch: „Jeder Begriff der moralischen Beleidigung in einem Tweet erhöht die Zahl der Retweets um 17 Prozent!“). Klimaskeptiker*innen, Impfgegner*innen … Kein leichter Stoff, manches nicht neu, doch die Verve von Bui und Plée hält Jung und Alt bei der Stange. Barbara Schulz
Doan Bui & Leslie Plée „Glauben Sie an die Wahrheit?“
( Aus dem Französischen von Christiane Bartelsen. Carlsen, 176 S., 22 Euro )
Füchsin und Kröte
Proaktive sexuelle Begierde ist auch 2022 noch vornehmlich cismännlich definiert. Feministische Pornos setzen dem etwas entgegen. Und doch ist der herkömmliche Film in der Regel immer nur eine Dokumentation des Aktes, nie eine der chemischen Reaktion. Die chilenische Künstlerin Sol Díaz nutzt das Medium Comic, um tiefer zu gehen. In „Füchsin und Kröte“ geht es um die Freund*innenschaft Plus der beiden Tierfiguren und, ja, es wird anstößig, obszön, explizit. Doch was die einzelnen Comics ausmacht, ist die andere Ebene. Die grafische Entsprechung des Lustgefühls, der Begierde selbst in teils anmutigen, teils fast schon niedlichen, teils aber auch sehr körperlichen Bildern. Noch intensiver wird das Erlebnis dank der großartigen Übersetzung von Lea Hübner. Statt dokumentierendem Male Gaze gibt es hier Platz für eine mystische, übernatürliche Kraft der Sexualität von und mit Klitoris, Vulva & Co. Die beiden Figuren stehen mit ihrer Begierde im queeren, polygamen Austausch und tauchen ihre Gefühle in fantasievolle Welten. Díaz selbst nennt diesen Ausdruck „Poesie des Lusterlebens“. Das passt. Julia Köhler
Sol Díaz „Füchsin und Kröte“ ( Aus dem Spanischen von Lea Hübner. Parallelallee, 42 S., 17 Euro )
Pfostenloch
Ein Debüt, aber was für eins! Ein Nerd-Thema wie das Leben als Student*in der Archäologie lockt an sich nicht allgemein, auch wenn dieser Studiengang seit jeher auf der Liste der Traumstudien rangiert. Darüber, wie das studentische Alltagsleben im Ausgrabungsmilieu so aussieht, erfahren wir eine Menge. Jedoch ohne jemals mit inhaltsprallen Textmengen oder Erklärungen überladen zu werden, sondern ganz leicht und minimalistisch, aber punktgenau. Wir sehen einen Hut – und wissen, dass Sonne oder Regen auf den Schädel prasseln. Wir lesen „Kratz-kratz“ und kennen den Soundtrack des täglichen Tuns. Weisheiten von großem philosophischem Gehalt erreichen uns ebenso easy wie Kernbegriffe, zu denen das Pfostenloch gehört, denn Löcher sind die Grundlage der Archäologie, der Inbegriff der Dauerhaftigkeit. Mit subtilem Humor, lockerem Strich und vielen tollen grafischen Finessen macht die Autorin ein Spezialgebiet universell zugänglich und zugleich das soziale Leben ihrer Schnabelfiguren, welches unausweichlich damit einhergeht. Just bekam die Kasseler Künstlerin dafür den Max und Moritz-Preis für das beste deutschsprachige Debüt. Verdient! Imke Staats
Daniela Heller „Pfostenloch“ ( Avant, 128 S., 24 Euro )
Hort
Die Enddreißigerinnen Denise, Petra und Ulla leben in einer Wohngemeinschaft. Sie sind ein merkwürdiges Trio: Denise ist halb Schlangenfrau, Petra eine unwirklich geformte Bodybuilderin und Ulla eine Riesin. Der 368 Seiten starke Band widmet sich zunächst dem Alltag der Protagonistinnen, bevor die Nachbarskinder Raum einnehmen. Dieter, Ilse und Jörg leben sich selbst überlassen in einer völlig vermüllten Wohnung. In der WG finden sie Zuflucht und Wärme. Im Gegensatz zu den drei Frauen sind die Kinder klein und tragen zudem Fell. Jedes von ihnen sucht sich eine Bezugsperson aus und Denise, Petra und Ulla fangen an, für die Kinder zu sorgen, obwohl keine von ihnen Erfahrung als Mutter hat oder sich diese Rolle wünschte. Marijpols Band ist ganz in Weiß und Lila gehalten. Die Zeichnungen in Bleistiftästhetik atmen Wärme und zeugen von Virtuosität. Die Panelanordnung variiert, Bewe- gungen fliegen förmlich über die Seiten, das Lettering fügt sich organisch ins Gesamtbild ein und eingeschobene ganzseitige Zeichnungen voller Details laden das Auge zum Verweilen ein. Ein Epos von Gefühlen und Selbstreflexion, fein beobachtet und toll erzählt. Amelie Persson
Marijpol „Hort“ ( Edition Moderne, 368 S., 28 Euro )
Diese Texte erschienen zuerst in Missy 05/22.