Mona Lisa And The Blood Moon

Niemand kann ihr die Emotionen vom Gesicht ablesen. Nach zwölf Jahren Lethargie in der Psychiatrie wacht Mona Lisa plötzlich auf und macht sich aus dem Staub. Sie ist seltsam und unberechenbar. Mona Lisa (Jeon Jong-seo), Superheldin im neuen Film der iranisch-amerikanischen Regisseurin und Drehbuchautorin Ana Lily Amirpour, hat außergewöhnliche Kräfte. Sie bringt Menschen dazu, das zu tun, was sie will. Das setzt sie für sich und andere marginalisierte, einsame Menschen ein. Nicht selten bringt sie das aber auch in gefährliche Situationen. Nach ihrem Ausbruch aus der Psychiatrie begegnet sie auf den nachtschwarzen Straßen von New Orleans dem verrückten Fuzz (Ed Skrein) und später der Stripperin Bonnie (Kate Hudson). Bonnie nutzt die Fähigkeiten von Mona Lisa aus und bringt sie dazu, anderen Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Bis Bonnies zehnjähriger Sohn Charlie (Evan Whitten) Mona Lisa zu Hilfe kommt … Wie so oft bei Amirpour sucht auch ihre neue Heldin nach persönlicher Freiheit und Gerechtigkeit. Sie versucht, ihren Platz in der großen, ungerechten Welt zu finden, das unfassbare Unbehagen zu überwinden. Ähnlich wie bei Amirpours Debütfilm „A Girl Walks Home Alone At Night“ hat ihre neue Erzählung etwas Rätselhaftes, aber auch viele Kontraste: Der Fantasy-Thriller ist gruselig, düster und dennoch zärtlich. Negin Behkam

„Mona Lisa And The Blood Moon“ USA 2021 ( Regie: Ana Lily Amirpour. Mit: Jeon Jong-seo, Kate Hudson, Ed Skrein, Craig Robinson u. a., 108 Min., Start: 06.10. )

 

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The Drover’s Wife – Die Legende vonMolly Johnson
Mitten in der Wildnis der Snowy Mountains lebt Molly Johnson (Leah Purcell), Frau eines Viehtreibers – allein mit vier Kindern und hochschwanger. Mit grimmiger Miene und Gewehr in der Hand ist Molly zu allem bereit, um ihre Familie zu schützen. Eines Tages findet sie einen bewusstlosen Mann vor ihrer Hütte: Yadaka (Rob Collins), Aborigine, der vor weißen Gesetzeshütern auf der Flucht ist. „The Drover’s Wife“ ist inhaltlich wie visuell ein herausragender Beitrag zum Genre des australischen Western. Das feministische Werk von Drehbuchautorin, Regisseurin und Hauptdarstellerin Leah Purcell, die Aborigine-Australierin ist, stellt im Gegensatz zu den meisten früheren Outback-Western das Erleben indigener Australier*innen in den Fokus. Purcell erzählt von einer Frau, die sich ihr Leben lang als weiß verstand und nun erstmals mit ihrer nicht ganz eindeutigen Identität auseinandersetzt, und von einem indigenen Mann, der allen Widrigkeiten zum Trotz mit Stolz er selbst ist. Um die Grausamkeit der Weißen zu zeigen, schont der Film keine Nerven, auch was die Darstellung von (sexualisierter) Gewalt angeht. „The Drover’s Wife“ ist ein Balanceakt zwischen Brutalität und atemberaubender Schönheit, zu der Purcells magnetisches Spiel und die Musik von Salliana Seven Campbell einen besonderen Beitrag leisten. Eva Szulkowski

„ The Drover’s Wife – Die Legende von Molly Johnson“ AUS 2021 ( Regie: Leah Purcell. Mit: Leah Purcell, Rob Collins u. a., 109 Min., Start: 10.11. )

 

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Alle reden übers Wetter
Clara (Anne Schäfer) hat es fast geschafft. Aus der ostdeutschen Provinz stammend hat sie eine halbe Stelle in der philosophischen Fakultät einer Berliner Uni. Sie lebt in einer Kreuzberger WG und promoviert mit einer Arbeit zu Hegels Freiheitsbegriff. Eher freudlos navigiert sie sich übers glatte akademische Parkett. Doktormutter Margot (Judith Hofmann) hat sie als Beispiel einer hämischen Karrieristin stets vor Augen. Als Clara mit ihrer 15-jährigen Tochter zum sechzigsten Geburtstag ihrer Mutter in die ländliche Heimat fährt, knirscht es gewaltig. Sie redet mit ihrem Exfreund Marcel beim Absacker nicht übers Wetter, sondern endlich übers Leben. Annika Pinskes Film setzt die Disziplin einer Aufsteigerin in Szene und erzählt von der Schwierigkeit, die einsam errungenen Erfolge zu genießen. Atmosphäre und Bilder sind stark, wo sie von Fremdheit in allen Milieus erzählen, aber es hakt auch: Claras Promotionsthema bleibt zu abstrakt, als dass wir es mit ihrer eigenen Situation verbinden könnten. Mutter-Tochter, Ost-West, Frau- Mann, Dorf-Stadt, viele, vielleicht zu viele Konfliktfelder werden in der additiven Dramaturgie angetippt. Die Kamera hat die unzug.ngliche Protagonistin fest im Blick, verfolgt auch, wie sie am Ende in die richtige Richtung aufbricht. Anna Opel

„Alle reden übers Wetter“ DE 2022 ( Regie: Annika Pinske. Mit: Anne-Kathrin Gummich, Sandra Hüller, Marcel Kohler, Max Riemelt u. a., 89 Min., Start: 15.09. )

 

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Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen
Es gibt eigentlich kaum ein Wort, mit dem Elfriede Jelinek noch nicht beschrieben wurde. Vom Ausnahmetalent bis zur Hexe – mit der Künstlerin geht ein ambivalentes Verhältnis zu ihrem Publikum einher. Zu Jelineks frühen Themen gehören u. a. sexualisierte Gewalt und Selbstverletzung, später arbeitete sie viel in historischen, aufklärenden Kontexten. Claudia Müller setzt in ihrer Dokumentation einen Fokus auf die Sprache der österreichischen Schriftstellerin, geht ihren verschiedenen stilistischen Wendungen auf den Grund, stellt biografische Verknüpfungen her und verbindet Stücke, Werke und Erzählungen stets mit den gespaltenen Meinungen zu Jelinek. Dabei zeigt die Regisseurin ein Feingefühl, das sie bereits in den Filmporträts von Künstlerinnen wie Valie Export und Jenny Holzer demonstrierte. Müller bringt verschiedene Versionen von Elfriede Jelinek zusammen: Mal sieht man verwackelte Aufnahmen eines jungen Kindes, mal die Autorin, wie sie ihre größten Werke in der Presse erklärt, und dann wieder ein Interview mit der Frau, die verbittert auf ihre Heimat und ihre Landsleute schaut. Neben den Archivaufnahmen werden immer wieder Texte und Gedichte rezitiert. Trügerisch romantische Bilder der österreichischen Berge laufen zu zynischen, demaskierenden Worten von Jelinek, die anklagt, anklagt, anklagt. Ein gelungener Versuch, die sprachliche Wucht der Autorin zu erklären, zu verstehen und zu schätzen. Rosalie Ernst

„Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“ DE / AT 2022 ( Regie: Claudia Müller. 96 Min., Start: 10.11. )

 

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Soll ich dich einem Sommertag vergleichen?
Wir alle kennen die typischen Märchen, in denen ein Prinz eine Prinzessin erobert und sie am Ende glücklich bis an ihr Lebensende zusammenbleiben. Doch was wäre, wenn wir diese Erzählung nehmen und die unsägliche Heteronormativität streichen?
Regisseur Mohammad Shawky Hassan hat nicht nur das getan, sondern direkt die Art des Märchenerzählens komplett umgekrempelt. In seinem Film „Soll ich dich einem Sommertag vergleichen?“ geht es zum einen um die Liebesgeschichte zweier Männer und zum anderen um die dazugehörigen polyamoren Verstrickungen, den Liebeskummer, die Eifersucht, das Suchen und die stetige Frage „Liebst du mich überhaupt (noch)?“. Dafür hat er sein eigenes Liebestagebuch als Grundlage genommen, immer wieder unterbrochen von interviewartigen Sequenzen, vermischt mit Gedichten, arabischen Volkssagen und ägyptischer Popmusik, erzählt von niemand Geringerem als Scheherazade, der Hauptfigur aus den persischen Geschichten von Tausendundeiner Nacht. In etwas über einer Stunde lässt er die Zuschauenden in eine traumartige und bildlich verzaubernde Collage eintauchen, in der die Grenzen zwischen Fanta- sie und Realität immer mehr verschwimmen, bis am Ende ein großes Seufzen, ein Sehnen nach Liebe und Zugehörigkeit bleibt. Avan Weis

„Soll ich dich einem Sommertag vergleichen?“ EGY/LBN/DE 2022 ( Regie: Mohammad Shawky Hassan. Mit: Donia Massoud, Ahmed El Gendy, Salim Mrad, Nadim Bahsoun u. a., 66 Min., Start: 08.09. )

 

© filmfaust : Film Five

Liebe, D-Mark und Tod – Aşk, Mark ve Ölüm
Kistenweise Champagner, 80.000 D-Mark Trinkgeld, alltägliche Rassismuserfahrungen, Hochzeiten, Heimweh und miserable Arbeitsbedingungen – „Aşk, Mark ve Ölüm“ hält, was der Titel verspricht: Es geht um Liebe, Geld und Tod. Vor allem aber geht es um Musik. Sie ist die Protagonistin des neuen Dokumentarfilms von Cem Kaya, der die Geschichte türkischer Musik in Deutschland erzählt, von den Protest- und Liebesliedern der sogenannten Gastarbeiter*innen der ersten Generation, von einer explodierenden türkisch-deutschen Musikindustrie in den 1960er- und 1970er-Jahren, bis hin zur Wut angesichts der rassistischen Morde in den 1990ern, die in Tracks von HipHop-Crews wie der Fresh Familee hörbar ist. Präzise montiertes Archivmaterial trifft auf Interviews mit gealterten Musiker*innen, wie etwa Yüksel Özkasap, „Nachtigall von Köln“ und preisgekrönter Star des Kölner-Istanbuler Labels Türküola, das in den 1960er-Jahren erstmalig türkischsprachige Musik für den deutschen Markt produzierte. Mit rasantem Tempo und zugleich genauem Blick auf die Wechselseitigkeit von Produktionsbedingungen und musikalischem Ausdruck erzählt der Film die Geschichte türkischer Musik in Deutschland und transportiert dabei die Power und Ermächtigung, die so vielen der unterschiedlichen Songs gemein ist. Eva Königshofen

„Liebe, D-Mark und Tod – Aşk, Mark ve Ölüm“ DE 2022 ( Regie: Cem Kaya. 96 Min., Start: 29.09. )

 

© Flare Film, Falk Schuster

Anima – Die Kleider meines Vaters
Helmuth Decker, 1936 geboren, beginnt als Jugendlicher, sich zu schminken, feminine Kleidung anzuziehen und als Frau durch die Stadt zu streifen. In seinem Tagebuch dokumentiert er seine Ausflüge, die Scham und die Angst, entdeckt zu werden. Decker ist streng katholisch, die späten 1940er-Jahre sind eine Zeit der biederen Intoleranz. Er bleibt in seiner zugewiesenen Rolle, verliebt sich, heiratet und bekommt zwei Töchter. Was sich anhört wie der Plot eines Familiendramas, ist eine wahre Geschichte – posthum erzählt von Uli Decker, der älteren Tochter und Regisseur*in der Dokumentation. „Anima“ bezeichnet in der Psychologie das weibliche Seelenbild im Unbewussten des Mannes. Den Spuren der Anima des Vaters geht die Regisseur*in in dieser sehr persönlichen Doku nach und bricht binäre Geschlechterrollen auf. „Mir geht es nicht darum, eindeutig weiblich zu sein, sondern im Transzendieren der männlichen Rolle meiner Seele Freiheit zu verschaffen“, zitiert sie ihren Vater aus seinem Tagebuch. Die Macher*in verdichtet Interviews mit Familienmitgliedern mit Tagebucheinträgen, Fotos und Videos. Anhand detailreicher animierter Bilderwelten gelingt ein moderner Kontrast zu den alten Familienerinnerungen. Katrin Börsch

„Anima – Die Kleider meines Vaters“ DE 2022 ( Regie: Uli Decker. 94 Min., Start: 20.10.)

 

© W-film / Ghasem Ebrahimian / Bon Voyage Films / Palodeon Pictures

Land Of Dreams
Millionär*innen brauchen ihn nicht mehr, die Tellerwäscher*innen umso mehr. Auch wenn der American Dream in Zeiten immer dramatischerer Ungleichheiten längst ad absurdum geführt wurde, ist er doch noch wichtig. Weniger als kapitalistischer Aufstieg, sondern mehr als potenzielle Utopie des Ausbruchs aus von Geburt an auferlegten Regelwerken. Und jetzt das: Die US-amerikanische Zensusbehörde will der Bevölkerung auch noch die Träume entreißen, sie kontrollieren, diese letzte Bastion der grenzenlosen Freiheit. Protagonistin Simin Haak arbeitet für ebendiese Institution, wird als Teil einer Familie aus dem Iran aber im gesamten Filmverlauf mit Rassismus und Ausgrenzung konfrontiert. „Land Of Dreams“ führt das unfassbar egozentrische Dasein weißer Kultur in bizarrer Weise vor und stellt im Subtext dringende Fragen. Wem bietet die Traumwelt mehr Macht als die Realität? Was passiert mit diesen persönlichen Manifestationen des Unterbewusstseins, wenn man sie teilt und in neue Kontexte setzt? Und wie politisch ist diese Welt der Träume? Bei der Suche nach Antworten fühlt sich der Film selbst wie ein orientierungsloser Traum an und zeigt auf die klaffende Schlucht zwischen kalter Bürokratie und warmer Fantasie. Eine Reise, die zum Nachdenken anregt und vor allem mit Sheila Vand in der Hauptrolle trumpft. Julia Köhler



„Land Of Dreams“ USA / DE 2021 ( Regie: Shirin Neshat, Shoja Azari. Mit: Sheila Vand, Matt Dillon, William Moseley u. a.,113 Min., Start: 03.11. )

 

Missy Magazine 05/22, Filmrezis
Foto:©2020 TOM TRAMBOW Projekt: „Mutter“

Mutter
Die Dokumentation „Mutter“ von Carolin Schmitz erzählt von acht Frauen und ihren Mutterrollen. Mit ihren Originalstimmen berichten sie von Glück, Herausforderung und Transformation verschiedener Lebensphasen. Die kurzen und prägnanten O-Töne werden visuell begleitet von Anke Engelke, die den Erzählerinnen Körper, Gesichter und Frisuren verleiht, ohne dabei verkleidet zu wirken. Mal stumm mit starrem Blick, mal mit synchronen Lippenbewegungen bewegt sie sich durch alltägliche Szenen, knöpft ihre Bluse, schneidet Blumen, faltet Wäsche, sitzt ihre Haare shampoonierend in der Badewanne oder fährt still in die Waschanlage. Engelkes Figuren sind allein mit ihren Gedanken und ihre Handlungen werden dabei in Echtzeit gezeigt. Die langsamen Bilder treten nicht in Konkurrenz mit den erzählten Lebensgeschichten, die unter die Haut gehen. Sie repräsentieren die Care-Arbeit und das unbeirrt fortschreitende Leben trotz größter Verluste, Trennungsschmerz, Betrug. Kein Bericht ist rosarot und ungetrübt. Die Altersspanne der Erzählerinnen reicht von dreißig bis 75 Jahren. Ihre Geschichten sind sehr unterschiedlich, manche erzählen von Frustration und Aufbegehren, trotzdem dominiert in „Mutter“ ein eher heteronormatives Frauen- und Mutterbild, das wir hoffentlich bald hinter uns lassen können. Amelie Persson

„Mutter“ DE 2022 ( Regie: Carolin Schmitz. Mit: Anke Engelke, 88 Min., Start: 29.09. )

© riseandshinecinema

Girl Gang
Für ihre westliche Perspektive auf die iranische Techno-Szene („Raving Iran”) und die Flucht einer jungen Frau aus Saudi-Arabien („Saudi Runaway”) bekam die Schweizer Regisseurin Susanne Regina Meures viel Lob, aber auch Kritik. Mit dem Dokumentarfilm „Girl Gang” bleibt sie im deutschsprachigen Raum und begleitet über vier Jahre die Berliner Influencerin Leonie aka Leoobalys. Zu Beginn hat diese noch keine Million Follower*innen – das möchten sie und ihre Eltern jedoch ändern. Und so wird aus der 14-Jährigen innerhalb kürzester Zeit ein Geschäft gemacht. Freund*innen hat Leonie fast keine – das Sozialleben sei jedoch der einzige Punkt, an dem sie Abstriche machen müsse, meint ihr Vater. Sowieso leben ihre Eltern nach eigener Aussage durch ihre Tochter, was sie selbst nicht zu reflektieren scheinen. Auch wenn sich die Familie selbst wenig dazu äußert, wird klar, welche Schattenseiten dieser Druck für Leonie mit sich bringt. Parallel wird in „Girl Gang” auch Leonies größter Fan begleitet, die zu Beginn des Filmes 13 Jahre alt ist. Dass hierbei immer wieder Nervenzusammenbrüche des psychisch instabilen Mädchens gezeigt werden, fühlt sich jedoch falsch an. Generell hinterlässt „Girl Gang” ein ungutes Gefühl – müsste der Film in einem Wort beschrieben werden, wäre dieses: bedrückend. Lena Mändlen

„Girl Gang” CH 2022 ( Regie: Susanne Regina Meures. 98 Min., Start: 20.10. )

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 05/22.