Missy Magazine 05/22, Musikrezis
Misty Boyce
„Genesis“
( Make My Day Records )

Misty Boyce skizziert auf ihrem neuen Album eine zentrale Idee: „I’m gonna show you all the words I learned that I can’t say“, singt die Musikerin aus Los Angeles und rechnet mit ihrer streng religiösen Erziehung und den unterdrückenden Strukturen, die sie erlebt hat, ab. Was bedeutet es, in einer männerdominierten Welt unsichtbar gemacht zu werden und Wege zu finden, sich freizuschwimmen? Eine mögliche Antwort liefert „Genesis (n) One“: Der Track kreist um Adam und Eva, Misty Boyce verpasst der Geschichte jedoch einen feministischen Gegenentwurf. „The Clearing“ wurde von den Waldbränden in Los Angeles und der #MeToo-Bewegung inspiriert, auf „Bros“ wirft sie dem patriarchalen System Hollywoods Sand ins Getriebe und „Telephone“ lässt den Trauerschmerz nach dem Verlust einer geliebten Person nachhallen. Bislang war Misty Boyces Sound im Folkpop verwurzelt. Nun experimentiert sie mit Jazz-Phrasierungen und schafft sich neue Freiräume: In manchen der zehn Songs legen sich elektronische Elemente über raue Gitarren, in anderen schwebt ihre Stimme über reduzierten Piano-Arrangements. Mal sanft, mal punchy ist „Genesis“ eine Platte über Macht und die Hoffnung aufs Ende vom Mackertum – oder in Mistys Lyrics: „When will the bros of Hollywood be over?“ Alisa Fäh

 

Missy Magazine 05/22, Musikrezis
Christine and the Queens / Redcar

„Redcar Les Adorables Étoiles“
( Because Music, VÖ: 23.09. )

Christine and the Queens hat schon immer Verwirrung gestiftet, sei es Gender Confusion oder die Vorstellung, hinter dem Namen stecke eine Band. Christine and the Queens ist jedoch nur eine Person, Chris, der nun unter dem neuen Alias Redcar auftritt. Nachdem das letzte Album „La Vita Nuova“ 2020 auf Youtube mit einem viertelstündigen Performancevideo Premiere feierte, das in einem queeren Vampirexzess eskaliert, scheint eine Poprock-Oper die logische Fortsetzung zu sein. Musikalisch steckt Redcar
dabei mit Synthies und Drumcomputer tief in den Achtzigern und erinnert an Popgrößen wie Mylène Farmer oder Jean-Jacques Goldman. Da der Zauber des Französischen in den 2020ern möglicherweise nicht mehr ganz so zieht wie im 20. Jahrhundert, singt Redcar für das internationale Publikum teilweise auch Englisch. Passend dazu wurde die erste Single „Je Te Vois Enfin“ mit einem englisch untertitelten Lyric-Video veröffentlicht. Redcar tritt dabei sexy und cool mit Sonnenbrille und zurückgegelten Haaren im Anzug mit Fliege auf und gibt starke Falco- Vibes, nur in uncreepy. Auf dem Album wechseln sich ruhige und tanzbare Stücke ab, neben der ersten bereits veröffentlichten Single haben vor allem „Ma Bien Aimée Bye Bye“, „La Clairefontaine“ und „Rien Dire“ Hitpotenzial. Musik zum
(Slow-)Dancen und davon träumen. Rosen Ferreira

 

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Sudan Archives
„Natural Brown Prom Queen“
( Stones Throw Records )

Mit der „Natural Brown Prom Queen“ erschafft sich Sudan Archives ihr sorgenloses Alter Ego, das im pinken Bikini beim Home- coming-Ball aufschlägt und scheinbar mühelos kopfüber Geige an der Pole-Stange spielt. Auf ihrer zweiten Platte erkundet die autodidaktische Violinistin, Produzentin und Singer-Songwriterin ihr Aufwachsen in Cincinnati, einer Großstadt in Ohio. Die Stationen: etliche Schulwechsel, Violinespielen im Kirchenchor, mit ihrer Zwillingsschwester fast zum Teenagestar einer Girlgroup avancieren und das Angebot schlussendlich für die eigene Autonomie ausschlagen. Waren Sudan Archives’ vorherige Veröffentlichungen vor allem von Neo-Soul-Vocals, Loops und selbstproduzierten Beats geprägt, die ihre Violine trugen, wiegen die HipHop-Einflüsse auf „NBPQ“ schwerer als je zuvor, wenn sie auf dem Titeltrack ihre Biografie runterrappt. Mit „OMG BRITT“ findet sich sogar ein aalglatter Trap-Track auf dem Album wieder. Dass sich Sudan Archives schon als Teenager aus dem Haus gestohlen hat, um Shows elektronischer Musik zu besuchen, hört man u. a. den Eighties-House-Einflüssen in „Freakalizer“ an, einer Ode an ihre Eltern, die aus Detroit und Chicago stammen. Dieses Album ist die Story einer gewachsenen Künstlerin, die für ihren Traum nach L.A. zog, vom einen Ende ans andere Ende des Landes, 32 Autostunden von ihrer Familie und Community entfernt. Auf „Natural Brown Prom Queen“ vertont sie ihr Selbstbewusstsein, diesen Schritt alleine geschafft zu haben – und das Heimweh, das damit einhergeht. Sophie Boche

 

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Gaddafi Gals

„Romeo Must Die“
( 3-HEADED MONSTER POSSE,VÖ: 30.09. )

Schade, dass diese bonfortionöse Platte im Herbst erscheint; einige der Hits hätten uns gut durch den Sommer gebracht. Drei Jahre nach „Temple“ schütteln die Gaddafi Gals nun „Romeo Must Die“ aus den Batikärmeln. Das Kollektiv aus Ebru alias blaq tea, besser bekannt als Ebow, Nalan alias slimgirl fat (die 2020 das all female* DJ Netzwerk Slic unit mitgegründet hat) und Jonas alias walter p99 arke$tral legt Wert auf den Community-Gedanken, verortet sich soundmäßig international und hat mit der Deutschrap-Machokultur nichts am Hut. Die zwölf glamourösen Tracks, die im Mercedes genauso gut klingen wie im Opel, schreiben Pop und R’n’B groß, betören mit Midtempo-Beats, oldschooligen Synthiesounds und sogar Autotnne. Da gibt’s Trip-Hop bei „Bye Bye“ und dem Titeltrack, „Late Night Drive“ und „Chainsaw“ erinnern an Mary J. Blige, während „Knockdown“ klanglich dem Achtziger-Popstar Terence Trent D’Arby huldigt. Supersexy sind „Slow Down“ und „Rendez-vous“. Textlich geht es um Liebe, Verlust, Tod und lustvoll gezückte Mittelfinger. Eine Hymne ist das letzte Stück „21k“, das von falschen Friends, Traurigkeit und Hoffnung kündet. Dystopisch sicherlich, aber tröstlich auch, wie die ganze Platte. Okay, geht auch im Herbst – oder eigentlich immer! Barbara Schulz

 

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Shygirl

„Nymph“
( Because Music, VÖ: 30.09. )

Seit 2018 liefert Shygirl im Zweijahrestakt musikalischen Nachschub. Nach zwei großartigen EPs folgt jetzt mit „Nymph“ ihr Albumdebüt. Darin demonstriert die Londoner Künstlerin ihre sexuelle Freiheit und Selbstermächtigung als Schwarze Frau. In ihren Lyrics verarbeitet sie Geschichten von Beziehungen, sexuellem Verlangen und hoffnungsloser Romantik.
Hörer*innen erhalten einen Einblick in die vielfältige und ambivalente Intimität einer Frau, die gleichzeitig als „too hot to handle“ und leicht zu übersehen wahrgenommen wird. Auf zwölf Tracks beweist Shygirl erneut, wie virtuos sie das interdisziplinäre Jonglieren mit Genres beherrscht. „Nymph“ changiert zwischen Elementen aus Bassline, Garage, Dancehall und HipHop. Inhaltlich zeigt die Musikerin ihre verletzliche Seite und erschafft eine Aufwartung an den emotionalen R’n’B und Pop der Neunzigerjahre. Entstanden ist das Album in Südengland zusammen mit Shygirls langjährigen Weggefährt*innen Karma Kid, Mura Masa, Sega Bodega und Cosha. Das Produktionsfinish hat sie ihrem Werk in Los Angeles von Produzent*innen wie Noah Goldstein, Danny L Harle, BloodPop, Arca, Vegyn und Kingdom verpassen lassen. Dadurch ist „Nymph“ hörbar elaboriert, komplex und weit entfernt von Schlichtheit. Katrin Börsch

 

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Jockstrap

„I Love You Jennifer B“
( Rough Trade )

Das Londoner Duo Jockstrap hat sein erstes Album veröffentlicht und es klingt wie frisch aus dem Musikzauberkasten: „I Love You Jennifer B“ ist experimentell, verspielt, melodiös – einfach alles zusammen und gleichzeitig. Unverkennbar zusammengehalten werden die Songs von Georgia Ellerys Stimme: sphärisch, glasklar, manchmal ein bisschen drüber, aber immer zuckersüß. Was gibt es zu hören? Da wären klassische Popsongs mit Beat wie „Debra“, dann schmachtende Balladen wie „What’s It All About?“ und ungewöhnliche Klangkollektionen wie „Jennifer B“. Besonders im Ohr bleibt die Single „Glasgow“, die alles vereint. Grundlage bei allen Kreationen von Jockstrap sind zarte Melodien, dazu kommen Synthieklänge, weirde Breaks, Harfen, Keyboards. Ein bisschen vermittelt das Duo den Eindruck, als musste einfach einmal jeder Knopf im Aufnahmestudio ausprobiert werden. Nach Aussagen von Georgia Ellery und Taylor Skye ist das Album eine Ansammlung von Ideen der letzten drei Jahre. Diese werden so gekonnt verwoben, dass nie Chaos aufkommt. Im Gegenteil, Jockstrap haben ihren speziellen Sound – dieser ist einfach nur
sehr vielfältig und einzigartig. Obendrauf versprüht jeder Track eine ganz zauberhafte Leichtigkeit. Bleibt zu hoffen, dass Jockstrap sich für das nächste Album nicht wieder drei Jahre Zeit lassen! Michaela Drenovaković

 

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Yeshi

„Confessions“
( Fiakko Records )

Bei all den Krisen, Kriegen und der Klimakatastrophe mag man sich am liebsten ins Private zurückziehen. Aber auch in der Auseinandersetzung mit sich selbst steckt Arbeit. Wie leicht sich Reflexion anfühlen kann, beweist Yeshi. Die aus
Berlin stammende und in Wien lebende Künstlerin lädt mit ihrer neuen EP „Confessions“ dazu ein, an der eigenen mentalen Gesundheit zu arbeiten. Dafür braucht sie nicht mehr als vier Songs: „It’s All About Love“ macht den Auftakt für die bedingungslose Selbstliebe, zu der sie aufruft. In „Bubble Bath“ tariert Yeshi ihre innere Balance aus, um in „Everywhere I Go“ eine Person, die ihr nicht guttut, zu verlassen. Auf düstere Trigger verzichtet die Künstlerin weitestgehend. Obwohl: In „Too Broke For Therapy“ geht es um eine einseitige Beziehung zu einem vermutlich toxischen Mann, der sie die emotionale Arbeit verrichten lässt. Doch spätestens mit Einsetzen des provokanten Refrains: „Are you too broke for therapy? Why are you using me?“ bekommt man das Gefühl, dass die Sängerin den emotionalen Missbrauch überwunden hat. Yeshi gelingt es, das Thema der mentalen Gesundheit ganz ohne düstere Untertöne zu übersetzen. Ihre „Confessions“ sind ein durchweg positiver Appell an die eigene Selbstliebe und -fürsorge. Katrin Börsch

 

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Sophia Blenda
„Die neue Heiterkeit“
(PIAS)

Sophia Blenda ist das Soloprojekt von Sophie Löw. Nach zwei Alben mit Culk folgt 2022 „Die neue Heiterkeit“. Geführt werden die Hörer*innen durch das volle Spektrum der Gefühle: Ein Auf und Ab zwischen Angst und Hedonismus. „Sie bleibt, sie schreit, sie lacht, sie weint / I think I’m having fun tonight“ – die Stimme ist nah, die Stimmung ist intim. Im Song „BH“ wird kommentiert, wie das Patriarchat den weiblichen Körper unterdrückt: Die Verknüpfung der individuellen Erfahrung mit Kritik am Herrschaftssystem gelingt Sophie Löw, ohne plump zu wirken. Kammerpop und schwere Beats werden kombiniert. Die Texte und Löws dringlicher und manchmal zarter Gesang navigieren durch einen Ozean voll flächiger Synths. 32 Minuten über knarzigen, schwerfälligen Beats; die Klavierakkorde als letzte Lichtblicke vor dem Sturm. Neben den eckigen, poetischen Texten ist das Projekt auch ein ästhetisches Gesamtkunstwerk. Löw ist Multimediakünstlerin mit klaren Ideen, die jeden Aspekt ihrer Veröffentlichungen dirigiert. Wer klare feministische Ansagen sucht, verpackt mit Synth-Streichern und schwermütigem Gesang, der sei „Die neue Heiterkeit“ ans Herz gelegt. Die Songs sind kurzweilig, das Album wirkt wie ein Vorgeschmack auf das, was hoffentlich noch kommt: Sophia Blenda verdient fette Studioproduktionen. Franziska Schwarz

 

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Jennifer Vanilla
„Castle In The Sky“
( Sinderlyn )

Die Kunstfigur Jennifer Vanilla ist zeitgenössischer Performanceclown und Alter Ego von Becca Kauffman – der Künstlerin aus New York City hinter dem experimentellen Electro. Ihre neue Platte „Castle In The Sky“ irritiert angenehm, wie ein musikalischer Magic- Mushroom-Trip. Nach einem wunderlichen Intro heißt Jennifer Hörer*innen in „Take Me For A Ride“ willkommen: „Consider this an invitation / I’ll be your guide“ singt sie mit einer Stimme, die der von Madonna ähnelt. In einem surrealen Wunderland finden sich Hörer*innen dann mit „Jennifer Pastoral“ wieder. In den treibenden Synth-Beat mischt sich beruhigendes Saxofonspiel, das auch in „Body Music“ in jazziger Ausführung zu exaltiertem Sprechgesang zum Einsatz kommt. Darin ruft sie mit den Worten „Let’s get jennifreaky“ dazu auf, sich tänzerisch auszudrücken. Etwas aggressiver wird der Beat in „Humility Disease“, wo es um Selbstzweifel geht. Diese Stimmung wird anschließend abrupt abgebrochen – durch ein kurzes träumerisches Zwischenstück. Darauf folgt mit „Cool Loneliness“ ein ruhiger R’n’B-Song, der völlig aus der Reihe tanzt. Abseits dessen ist das Album ein zusammenhängendes Stück. Die Tracks funktionieren zwar auch einzeln, ergeben aber nur in Abfolge jenes stimmige psychedelische Bild, das auch auf dem bunten Cover gut illustriert ist und nicht zuletzt in einigen grandios abgespacten Musikvideos in Szene gesetzt wird. Katrin Börsch

 

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Vega Vi

„Love Letter“ (EP)
( Lemon Rise Records )

Selten wurden Grenzen so gefühlvoll kommuniziert, wie es Vega Vi in ihrer Debütsingle „Healer“ tut. Der Song ist ein popelektronisches Manifest vom Loslassen und dem Respektieren von persönlichen Grenzen. Die Berliner Musikerin schafft auf ihrer EP „Love Letter“ einen Sound- Spagat, der bei melodischen Singer-Songwriter- Kompositionen anfängt und bei Indie-Electronica endet – immer mit ein wenig Melancholie, die sich besonders in Stücken wie „Healer“ offenbart. Die dänisch-deutsche Newcomerin wechselt mutig zwischen verschiedenen Genres und schafft damit ein Werk, das wunderbar unvorhersehbar wird. Das Stück „Love Letter“ eröffnet das Album mit sphärischen, verspielten Klängen, die sich in voranschreitenden Tracks zu bassigen Technostücken mit vielschichtigem Sounddesign entwickeln. Vega Vis warme Stimmfarbe vereint Melancholie
mit Lebensfreude und konstruiert eine verträumte Grundatmosphäre, die sich durch die gesamte EP zieht. Das Werk produzierte Vega Vi im eigenen Schlafzimmer zwischen Berlin und Oslo und es wird auf dem eigenen Label veröffentlicht. „Love Letter“ ist ein Liebesbrief an die Musik und die Kreativität. Dabei geht es darum, als Produzentin und Künstlerin kreativen Raum einzunehmen, wie Vega Vi selbst sagt. Nadja von Bossel

 

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Anna Erhard
„Campsite“
( Radicalis )

Eine junge Exilschweizerin, die ihre Zuversicht auf das Leben in der neuen Heimat Berlin über ihren Sound teilt. Angenehm unverstellt und leicht singt sie auf Englisch, aber darüber hinaus nicht zu verschlüsselt und humorvoll über die schönen Seiten des Sommers, wenn noch ausreichend Zeit für das sorglose Leben da ist, für Picknicken am Wasser, Partys und Zelten. Das fehlte im Corona-Jahr des Solodebüts der ehemaligen Sängerin der Basler Band Serafyn. Die Produktion, wieder in enger Zusammenarbeit mit dem Schlagzeuger von Wir sind Helden, verlief diesmal völlig anders als auf dem ersten Album, und das ist hörbar.
Die Songs und Sounds erwuchsen sukzessive aus Experimenten am Synthesizer in Pola Roys Kreuzberger Studio. Bratziges Gitarrenspiel, Achtzigerjahre-Synthie-Pop, coole Beats, Schepper-Plucker-Geräusche, Überlappungen, ein wenig Grunge-Revival … jedenfalls keine Lagerfeuerromantik, trotz der in „Tickling Weed“ eingesetzten Mundharmonika oder der schräg klingenden Pedal-Steel-Guitar in „Horoscope“. Hier erinnert es eher an Beck Hansen als an eines ihrer Vorbilder – Fiona Apple. Das ist der passende Soundtrack, um das Sommerlebensgefühl der besten Jahre des Lebens zu untermalen oder hervorzuholen (für die älteren Hörer*innen). Imke Staats

 

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THICK

„Happy Now“
( Epitaph Records )

Krachig-rotzige Gitarren, mehrstimmiger Gesang oder Geschrei, melancholisch-verspielte Melodien. „Happy Now“ ist die zweite Platte des Pop-Punk-Trios THICK aus Brooklyn. Während sie auf ihrem Debütalbum „5 Years Behind“ (2020) vor allem darüber sangen oder schrien, hinter den gesellschaftlichen und den eigenen Erwartungen zurückzubleiben, geht es jetzt darum, diese Zwänge hinter sich zu lassen und den eigenen Weg und sich selbst zu akzeptieren: annehmen, dass andere sie immer für Loser*innen halten werden („Loser“), dass manche Beziehungen besser sind, wenn sie vorbei sind („Your Garden“),
und dass man manchmal einfach nicht weiß, was man will („Wants & Needs“). Das Empowerment-Mindset ist dennoch durchsetzt mit Wut und Frustration – über einen sexuellen Übergriff, Untreue, das Patriarchat. Wie auch auf dem Debüt gleichen die Songs einem vertonten Tagebuch, nur diesmal retrospektiv, weil die Stücke während der Pandemie entstanden sind und der Eintrag ungefähr jeden Tag lautete: Ich war wieder zu Hause. Seit 2016 spielten die drei Frauen jeden Gig in New York und Umgebung, den sie kriegen konnten, so sind die Songs für das Debüt und die früheren EPs mit der Resonanz des Publikums gewachsen. „Happy Now“ hingegen ist in einem Vakuum entstanden, zeigt aber klar die emotionale und musikalische Weiterentwicklung von THICK. Naomi Webster-Grundl

 

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Fletcher

„Girl Of My Dreams“
( Capitol Records )


Zuckerklebrig, selbstbestimmt, stadiontauglich: Der Pop von Cari Elise Fletcher nimmt die alten Motive des Genres und setzt sie in eine erfrischende Queer-Perspektive. Anders als bei der „I Kissed A Girl“-Neuinterpretation „Girls Girls Girls“ aus 2021 hängt die Platte die Regenbogenflagge weniger plakativ über die Songs, sondern greift vor allem auf den Queer Gaze zurück. Der wünscht sich in „Guess We Lied“ sehnsüchtig die gemeinsame Rückkehr ins Bett, begutachtet die Neue der Ex mit einem argwöhnisch-begeisterten Blick („Becky’s So Hot“) oder listet die eigenen Liebschaften auf, die über das klassische Girl-Meets-Boy- Schema hinausgehen. Eigentlich geht es bei dieser Platte aber vor allem um Fletcher selbst. Dass sie mit dem „Girl Of My Dreams“ sich selbst meint, ist jetzt nicht unbedingt der ausgefallenste Plot-Twist und auch die Vermählung von religiöser Bildwelt und offenherziger Sexualität („Her Body Is Bible“) hat ihren Schockeffekt längst eingebüßt. Aber: Der Empowerment- Gedanke der Platte steckt im Pop-Punk-Ausflug von „Conversations“ genauso wie im basslastigen Marina-trifft-Dua-Lipa-Vibe von „Holiday“. Und dieser ist dank der spannenden Mischung aus offenherziger Authentizität und distanzierter Megalomanie ziemlich mitreißend. Mehr Pop geht doch gar nicht. Julia Köhler

 

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Santigold

„Spirituals“
( Little Jerk Records )

Nach sechs Jahren Pause ist Santigold zurück: „Spirituals“ ist die erste Platte, die die US- amerikanische Sängerin Santi White auf ihrem eigenen Label veröffentlicht. Einiges hat sich verändert, sowohl bei White, die seither drei Kinder auf die Welt gebracht hat, als auch global. Die experimentierfreudige Künstlerin lässt aktuelle Trends aus Pop, HipHop und Elektro in ihren Sound einfließen und bleibt trotzdem unverkennbar sie selbst. Sphärisch schwebt ihre Stimme beim Opener „My Horror“ über den Dingen; „High Priestess“ entfaltet mit schrulligen Beats ein klassisches Santigold-Feeling. Etwas Zeitloses hat „Shake“, souliger Höhepunkt im Zentrum der Tracklist, den White als ihren persönlichen „Kampfsong“ beschreibt. Der Titel des Albums, das sie 2020 im Lockdown aufgenommen hat, verweist auf die spirituellen Lieder, mit denen Schwarze Menschen in Nordamerika gegen das grenzenlose Übel der Sklaverei ansangen. White selbst habe sich mit Musik durch die Pandemie gerettet – jetzt gibt sie ihren Hörer*innen etwas ab von dem Trost und der Stärke, die sie darin gefunden hat. Auf „Ain’t Ready“ fasst sie das Post-Covid-Gefühl zusammen („We want what we had / It won’t ever come back“), erinnert aber auch daran, dass es keine Alternative gibt, als in die Zukunft zu schauen, selbst wenn man sich für die Zukunft so gar nicht bereit fühlt. Eva Szulkowski

 

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Julia Jacklin

„Pre Pleasure“
( Transgressive Records )

Julia Jacklin weiß, wie man Geschichten erzählt. In ihren Songs sind immer wieder Fetzen von Erinnerungen eingewebt, die so präzise Bilder in den eigenen Kopf projizieren, dass ganz klar ist, woher die Songinspiration kam. Bei „Lydia Wears
A Cross“ ist es der „Jesus Christ Superstar“- Soundtrack, den sie als Kind, mit dem Rücken angelehnt an Lydia, hörte und der jetzt nur
noch einen Glauben repräsentiert, mit dem sie wenig anfangen kann. Bei „Less Of A Stranger“ ist es ihr eigenes Spiegelbild, das sie an ihre distanzierte Beziehung mit ihrer Mutter erinnert, oder bei „Be Careful With Yourself “ das Rauchen einer geliebten Person, die ihr Verlustängste bereitet. Jacklins Storytelling ist eklektisch – „Pre Pleasure“ erkundet eine Gemengelage an Themen wie Freund*innenschaft, übersprudelnde Liebe, Familie oder Grenzen bei körperlicher Intimität. Die helle Stimme der Australierin spannt sich dabei über langsame Rhythmen und sacht angeschlagene Gitarrenakkorde. Der im Vergleich zum 2019 erschienenen Vorgänger „Crushing“ weichere und glattere Sound ihres dritten Studioalbums ist mit einer sanft klopfenden Drum Machine und träumerischen Streichereinlagen angereichert, die besonders bei „End Of A Friendship“ die im Titel verratene Dramatik der Situation untermalen. Jacklin transportiert mit „Pre Pleasure“ eine vorerst ungewohnte Intimität, bei der man allerdings nicht anders kann, als ihr zu verfallen. Louisa Neitz

 

Missy Magazine 05/22, Musikrezis
Eerie Wanda

„Internal Radio“
( Joyful Noise, VÖ: 23.09. )

Sollten sich die „Twin Peaks“-Macher*innen doch noch mal zu einer weiteren Staffel entscheiden, Eerie Wanda wäre die perfekte Soundtrack-Besetzung. Auf „Internal Radio“ wabern Gitarren und Keyboards so nebelverhangen lynchesk, dass es eine schaurige Freude ist. Wanda alias Marina Tadić wendet sich auf ihrem dritten Album vom aufgeschlossenen Gitarrenfolkpop früherer Arbeiten ab, hin zu inneren Frequenzen zwischen Ethereal und mystischem Dream Pop. Als ihre „weird inner world“ bezeichnet
die niederländisch-kroatische Tadić ihr neues Werk, das von Shimmy-Disc-Gründer und Produzent Kramer begleitet wird. Dass die auch als visuelle Künstlerin arbeitende Musikerin auf „Internal Radio“ paranormale Phänomene wie Telepathie, UFOs und Nahtoderfahrungen thematisiert, sollte keinesfalls abschrecken – die elf Songs verfügen über genau die richtige Dosis Weirdness, um sich mit der Bettdecke über dem Kopf komfortabel zu gruseln. Eerie Wanda erkundet ihr Inneres, doch sie verschließt ihre Musik nicht nach außen: „Sail To The Silver Sun“ hat neben aller No-Wave-Werdung einen lieblichen Unterton, „NowX1000“ leitet ein Keyboard vom Achtzigerjahre-Rockwell zu einer melodischen Umarmung und „Long Time“ lädt zum Jahrmarktwalzer, bevor prasselnde Keyboards auf „On Heaven“ übernehmen. Fesselnd! Verena Reygers

 

Missy Magazine 05/22, Musikrezis
Demi Lovato
„Holy Fvck“
( Island Records )

Eins ist klar, dem Mainstream gefallen möchte Demi Lovato nicht: Hätte sie sich sonst für das Abumcover von „Holy Fvck“ auf einem überdimensionalen Kreuz in der Art des Shibari fesseln lassen? Die Sauberperson, die sie vor langer Zeit war, kann und will sie längst nicht mehr sein. 2021 veröffentlichte Demi die Doku „Dancing With The Devil“, die Szenen aus 2018 zeigt, bevor sie eine Überdosis nahm. In der Leadsingle „Skin On My Teeth“ thematisiert sie ihr Überleben trotz drei Schlaganfällen und eines Herzinfarkts. Und im zugehörigen Musikvideo die sexualsierte Gewalt durch ihren Drogendealer. Sein Darsteller hält eine Videokamera, denn auch die Boulevardpresse war stets mit dabei. Dabei erinnern Song und Musikvideo an Miley Cyrus’Werk. Die Folgesingle „Substance“ (Doppeldeutigkeit, hello) lässt das Cyrus’sche Tanktop hinter sich – im Pin- up-Look macht Demi dafür Plattenbosse fertig. Der Song ist leider deutlich weniger speziell als das schmutzig-rockige „Freak“. Dennoch: Demi singt auf jedem Track mit unglaublicher Vocalrange um ihr Leben. „Holy Fvck“ führt die Rockrichtung fort, für die sie einst massenkompatibel im Disney-Universum berühmt wurde. Heute ist sie nicht weniger massenkompatibel, doch ungeschönter. Simone Bauer

 


Alela Diane
Looking Glass
( Anti Records, VÖ: 14.10. )


Auf eine angenehme Art klingt das alles vertraut: die Granny-Generation schwelgt im Carol-King-Fleetwood-Mac-Joni-Mitchell-Feeling der Siebzigerjahre; die jüngeren finden Bezüge zu First-Aid-Kit oder Joanna Newsom, mit der Diane, selbst ein Kind der 80er, schon zusammengearbeitet hat. Mit dem Namen ihres sechsten Albums „Looking Glass“ bezieht sie sich bewusst auf die „Flucht“ der Figur Alice vor ihrer öden Realität in eine neue hinter dem Spiegel im Orginal 1871 als „Through The Looking Glass“ von Lewis Caroll geschrieben. Wir entkommen ihr heute durch den  Bildschirm unseres digitalen Endgerätes. In elf Stücken transportiert sie uns in das wohlige, manchmal kritisch zweifelnde Gefühl des guten Teils eines längst vergangenen Amerikas, um etwa 1971 herum. Ihr ruhiger, folkiger Pop fließt melancholisch, aber druckvoll durch uns hindurch. Diane beherrscht elegante Arpeggio-Anschläge auf der Gitarre meisterlich, arrangiert dazu Pianowellen, Violinen, Pedal-Steel oder Mundharmonika und wabert so zwischen urbanen Szenerien und ländlichem Bluegrass-Ambiente. Im Song „Camellia“, der als Single-Auskopplung besonders hervortritt, nehmen uns sogar Chorgesänge mit. Alles stets angeführt durch ihre klare, sichere Stimme, die vom Dunkel und Hell und Aushalten unseres Seins erzählt, das Leben ist eine Reise durch das „Kaninchenloch“. Imke Staats

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 05/22.