„Bei Angela Davis am Oranienplatz in Berlin stand ich gestern mit 3000 Leuten. Hier sind es zwar etwas weniger, aber ich fühle mich geehrt, dass trotz des guten Wetters so viele gekommen sind“ scherzt Nikita Dhawan zu Beginn ihrer Lecture gut gelaunt. Immer mehr Menschen strömen an diesem Freitag Abend in den Studiosaal des Wiener Tanzquartiers (tqw.at), in dem Dhawans Vortrag „What Difference Does Difference Make?“ die Wiener Ausgabe des Festivals Tashweesh (tashweeshfestival.com) eröffnet. Tashweesh ist ein arabisches Wort, dessen Vieldeutigkeit sich annähernd mit „Rauschen“ oder „Gemurmel“ bzw. „Gesprächsfetzen“ übersetzen lässt. Vor mehr als vier Jahren als interdisziplinäres transnationales Feminismus-Festival im Kairoer Goethe-Institut erstmals konzipiert, erlebt das Format aufgrund der Pandemie diesen Herbst seine erst zweite Ausgabe. Die Stationen in Tunis im L’Art Rue und in Brüssel in der Beursschouwburg sind zu diesem Zeitpunkt bereits vorüber, in Wien liegt bis zum Abschlussevent am 15.10. noch ein dichtes Programm aus Theorie, Performance, Film, Ausstellung und nicht zuletzt Party (mit einem Live-Auftritt von Lafawndah!) vor den Besucher*innen. Noch bevor Nikita Dhawan auftritt, begrüßt die Leiterin des Tanzquartiers, Bettina Kogler, das Publikum und weist darauf hin, dass das gesamte Festival in Solidarität mit den revolutionären Kämpfer*innen im Iran abgehalten wird.

© Dorothea Tuch
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Die beiden Kuratorinnen Tania El Khoury und Bochra Triki beschreiben Tashweesh als künstlerisches Festival, das „intersektional feministische Praxen aus Kunst, Aktivismus und Research aus Europa und SWANA (Südwestasien und Nordafrika) zusammenbringt“. Und dafür legt Dhawan, derzeit Professorin für Politische Theorie an der TU Dresden, am ersten Abend gleich eine solide Grundlage. Sie hinterfragt anhand des Paradigmas transnationaler feministischer Solidarität, das gerne in einem Atemzug mit dem Konzept der Intersektionalität verschlagwortet wird, die (post)kolonialen Machtstrukturen, die dieser Begrifflichkeit ihrer Meinung nach nach wie vor inhärent sind: Denn hierbei werde Solidarität als Gut gedacht, das die eine Seite besitzt und verteilt und die andere passiv empfängt. Mit vielen Beispielen aus der westlich-männlichen Ideengeschichte von Diogenes über Kant bis zu Adorno und Habermas illustriert sie die im globalen Norden kursierenden Vorstellungen von Öffentlichkeit und politisch engagierter Kunst, die ihren eigenen Power Bias nicht reflektieren, und kommt dann zu dem – für viele im Raum offensichtlich etwas überraschenden – Schluss, den selbstverwalteten Nationalstaat als Errungenschaft der Dekolonialisierung nicht aus der Verantwortung zu lassen. Denn die globale Zivilgesellschaft könne allein deswegen nicht als solche durchschlagend agieren, da es keinen Weltstaat gebe und es letztlich Pässe und nicht Solidarbekundungen seien, die Leben retten könnten. Ihre Präsentation endet mit den Worten „The state is like pharmakon – both poison and medicine“.

© Dorothea Tuch
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Wie die Auseinandersetzung mit dem dekolonisierten Nationalstaat in der Praxis aussehen kann, zeigt gleich im Anschluss die Performance der in Berlin lebenden Künstlerin Rima Najdi. Einmal über den riesigen Innenhof des Wiener Museumsquartiers und schon sind wir in der Halle G, in der „I Grew An Alien Inside Of Me“ gezeigt wird. Die Besucher*innenzahl ist streng begrenzt, und als sich die Tür öffnet, wird der Grund hierfür sofort deutlich: Statt die Größe des gesamten Saals zu nutzen, hat Najdi auf der Bühnenfläche einen kokonartigen Rundraum aus weißen Spitzenvorhängen bauen lassen, innerhalb dessen die Zuseher*innen an miteinander verbundenen silbernen Tischen Platz nehmen. Dass die Lokalität an einen „Womb Room“ erinnert, ist natürlich kein Zufall. Denn in ihrer 80-minütigen Performance erforscht die Künstlerin gemeinsam mit ihrem Publikum die Verbindungen zwischen Revolution und Mutterschaft. Sie läuft dabei mit Mikrofon in der Hand, ihre Beine auf Augenhöhe der „Gäst*innen“, die Tische entlang, die einerseits die Atmosphäre eines öffentlichen Banketts wie auch die eines intimen häuslichen Raums evozieren. Mit Videoprojektionen und Soundtestimonials von Gebärenden und Teilnehmerinnen an öffentlichen Protesten wie in Ägypten 2011 werden Repetition und Einmaligkeit, Gewalt und Euphorie in beiden zutiefst privaten wie auch zutiefst öffentlichen Vorgängen miteinander verbunden. Alle Teilnehmer*innen werden der Reihe nach aufgefordert, „Push“ in das Mikrofon zu sagen, und als wir durch die Öffnung des Vorhangs wieder aus der Performance entlassen werden, fühlt es sich tatsächlich wie ein kleiner Neubeginn (aka Geburt) an.

© Dorothea Tuch

Das vierstündige Filmprogramm, das am nächsten Nachmittag wieder im Studio gezeigt wird, ist mit seinen zehn Einzelfilmen so vielfältig, dass es eigentlich eine gesamte Kinoreihe füllen könnte. Neben einem experimentellen Werk von Sophia Al-Maria, der Erfinderin des Konzepts des „Gulf Futurism“, finden sich u.a. zwei frühe Kurzfilme der Wienerin Kurdwin Ayub, deren erster Spielfilm „Sonne“ bald in den Kinos anlaufen wird. Das längste Werk ist mit 88 Minuten der Animationsfilm der lettischen Künstlerin Signe Baumane, der so humoristisch wie schockierend die lange Geschichte weiblicher Schizophrenie in der Familie Baumanes ergründet – und zum Ende als Lichtstreifen auf diesem Leidensweg das kräftezehrende, aber lohnende Bemühen um den Kontakt, den Austausch mit anderen Menschen aufleuchten lässt.

Die danach stattfindende Performance von Salma Said und Miriam Coretta Schulte beschäftigt sich mit der Frage nach Archiven – wie wählen wir unsere Erinnerungen aus, können auch Freund*innenschaften als Archive funktionieren, und wie lassen sich Erlebnisse direkt im Körper speichern? Schulte hat bereits vor mehreren Jahren die Technik „Hack-No-Tech“ erfunden, bei der einzelne Bewegungen semantisch aufgeladen werden und zu kompletten Sätzen oder Sachverhalten verbunden werden können. Said und Schulte tanzen einige dieser Erinnerungen vor und leiten die einzelnen Bewegungen erklärend her. Anhand von Bildern eines Frauenmarsches während der ägyptischen Revolution in Kairo, die Said gefilmt hat, selektieren die beiden gemeinsam Erinnerungen und verfallen dann in einen repetitiv-ekstatischen Tanz, bei dem verbale Sprache eindrucksvoll in körperliche übergeht. Als Gästin an diesem Abend ist eine Mitarbeiterin von der anarchistischen Bibliothek Wien (a-bibliothek.org) eingeladen, die über ihre Prinzipien der Archivierung berichtet und, ausgehend von einem T-Shirt-Aufdruck mit verschiedenen Anarchistinnen, von den beiden Performerinnen zur Erinnerung einen Hack-No-Tech-Bewegungsablauf geschenkt bekommt: Aus „The Past“, „Welcoming“ und „The Future“ wird ein schwingender Gesten-Flow, der ein wenig an einen Wiener Walzer erinnert, was zu allgemeiner Erheiterung im Raum führt.

Für mich ist nach dieser Performance der Besuch des Tashweesh-Festivals zu Ende – aber noch nicht ganz, denn wie schon am Tag zuvor gibt es als Ausklang für alle exquisites Catering zwischen veganen Kärntner Kasnudeln mit Roter Beete, französischen Bergkäse-Quiches und super schokoladigen Tartelettes. Ich freue mich, dass das feministische Konzept von „Care“ auch auf dieser Ebene mitgedacht wird und gehe, etwas wehmütig, dass ich das gesamte folgende Programm mit spannenden Performances wie „Tarab“ zu präkolonialen Tanz-Kosmologien aus dem Iran oder das experimentelle Dinner-Setting von Mirna Bamieh verpassen werde, durch die Nacht nach Hause. Aber immerhin verfüge ich jetzt über Körpertechniken, um das Erlebte auch physisch in meine Erinnerung einzuschreiben, und bastele unterwegs bereits am Bewegungsablauf.

Tashweesh-Festival, noch bis zum 15.10. im Tanzquartier Wien (tqw.at)