Am 16. September wurde Jîna Mahsa Amini von der Moralpolizei der Islamischen Republik Iran ermordet. Schon in den ersten Tagen brachen, nicht nur in europäischen Ländern, Hetz- und Verhamlosungskampagnen gegen die Protestierenden in Iran aus. Manche haben angefangen, darüber zu reden, ob wir Islamismus noch sagen dürfen, weil das nicht politisch korrekt sei. Darauf habe ich keine Antwort. Bemerkenswert ist, dass solche Fragen immer dann gestellt werden, wenn Menschen islamistische Gewalt erleben. Andere suchen nach einem Feind, der Verschwörungen gegen die iranische Regierung strickt. Dabei vergessen sie, dass diese Regierung keinen externen Feind braucht, um die eigenen Menschen zu unterdrücken. Noch immer sprechen viele, z. B. in syrischen Onlinegruppen, von Angriffen auf die Religion und die Ehre der muslimischen Gesellschaft. Weitere Stimmen instrumentalisieren aktiv die Proteste, um antimuslimische Agenden in und außerhalb von Europa zu stärken. Diese Stimmen sind interessant, weil sie aus allen möglichen politischen Ecken kommen. Aber: Das ist nicht euer Moment, back off!

Alle wollen über etwas anderes reden als das, was in Iran geschieht: staatliche Feminizide, terroristische Außenpolitik in Kurdistan und Syrien, religiöser Fundamentalismus als Staatsideologie, Korruption und vieles mehr. Aber genau darüber müssen wir sprechen.

Islamismus: Ein Problem?

Die Islamische Republik mischt sich in viele Konflikte der SWANA-Region mit einer religiös fundamentalistischen Agenda ein. Ihre Anhänger*innen, wie die Terrororganisation Hezbollah im Libanon oder deren Truppen in Syrien, sind keine Schutzengel, sondern organisierte Islamisten, die Menschen foltern, verfolgen und Kriege befeuern. Ob wir den Terror der islamischen Republik so benennen dürfen, sollte nicht von persönlichen Befindlichkeiten oder „westlichen“ Ideologien abhängen, seien sie links oder rechts. Die Solidarität mit den Betroffenen islamistischer Gewalt bedeutet also nicht, dass man weniger solidarisch mit muslimischen Menschen ist. Denn muslimische Menschen stehen nicht für islamistischen Terror. Wenn wir den Terror der islamischen Republik benennen, heißt das auch nicht, dass wir andere Arten des Terrors akzeptieren. Die Identitätsdebatte „im Westen“ macht mehr Raum für Islamisten oder Rechte aus der SWANA-Region als für Betroffene. So wird das Narrativ der islamistischen Gewalt weiter von den falschen Stimmen gehandhabt und Themen wie Waffenlieferung als reine „westliche“ Verantwortlichkeit dargestellt. Fakt ist, dass diese Systeme mitverantwortlich für Flucht, Leid und Terror sind. Diese Auseinandersetzungen sind kein Tabu und dürfen nicht verschoben werden.

© Shutterstock

Eine Definitionssache?

Besonders spannend sind die orientalistischen Stimmen, also die Menschen „im weiten Osten”, die vorschreiben wollen, wie sie frei leben sollen. Noch spannender sind die neoorientalistischen Gesichter der Gegenwart. Das sind diejenigen, die weiterhin die Diskurse in der etablierten Diaspora übernehmen und ihre eurozentrische Position nicht anerkennen oder manchmal lediglich durch Identität legitimieren wollen. Beide sind gewaltvoll und paternalistisch, weil sie weiterhin für andere sprechen und Erfahrungen homogenisieren und unsichtbar machen. Beide nehmen viel zu viel Raum ein. Beide verschieben und schreiben vor. Wer aber Debatten verschiebt, priorisiert sich und die eigenen Belange. Solange manche diasporische und nicht diasporische Menschen im Sinne von Mehrheitsgesellschaften einer Diktatur handeln und Situationen definieren, bleiben ihre Definitionen und Stimmen reine Gewalt. Darüber müssen wir sprechen.

Warum bleibt der Identitätsbegriff so festgelegt und fremdbestimmt?

Kulturelle Identitäten in der „westlichen“ (Medien-)Debatte werden immer auf bestimmte und wenige Lebensweisen reduziert (z. B. muslimisch/nicht-muslimisch), um möglichst einfach auf Rassismus und Diskriminierungen aufmerksam zu machen. Das entkräftet aber die dynamische und diverse Natur jeglicher Kultur und ignoriert auch den Fakt, dass Menschen in muslimisch geprägten Ländern seit Ewigkeiten assimiliert werden, wenn sie sich anderen religiösen oder ethnischen Zugehörigkeiten zuschreiben. Auch der Aspekt, dass muslimische Menschen von fundamentalistischen Ideologien und deren Zwängen betroffen sein können, wird unsichtbar gemacht. „Westliche“ Identitätsdebatten dürfen uns nicht täuschen. Denn es geht weiterhin um die Selbstbestimmung von rassifizierten und sexualisierten Körpern außerhalb, genauso wie innerhalb von Europa. Es gibt diverse Wege, religiös oder nicht religiös zu sein. So betreiben Iran oder Saudi-Arabien nicht den „richtigen Islam“, sondern ethnische und religiöse Herrschaft. Das ist keine Neuigkeit. Auch nicht neu ist, wie diese Systeme Menschen seit Jahrzehnten unterdrücken. Die Marginalisierung von Frauen, LSBTIQA* und verschiedener Gesellschaftsgruppen ist daher kein kulturell bedingter Umstand, der toleriert werden sollte, sondern eine Konsequenz jahrzehnter Instrumentalisierung von Gewaltideologien im Namen der Religion. Deshalb frage ich mich: Wem hilft diese Aufteilung in muslimisch und nicht-muslimisch? Und reicht diese Aufteilung aus, um z. B. islamistische Strukturen und die Erfahrungen damit abzudecken? Wie können wir über die Proteste in Iran und Ostkurdistan berichten, wenn wir nicht alle Nuancen darlegen? Die Frage nach religiösem Fundamentalismus und ganz konkret nach islamistischen Ideologien darf hier „im Westen“ nicht mehr von Rechten besetzt bleiben. Wir müssen anerkennen, dass die Wirkung dieser Ideologien zerstörerisch und keine Identitätsfrage ist. Das kennen die meisten Menschen, die vor dem Islamischen Staat in Irak und Syrien fliehen mussten. Oder die anderen, die durch iranische Einsätze in Syrien ihre Familien und ihr Zuhause verloren haben. Diese Debatten müssen neu gestaltet werden. Wie wir das machen können, darüber müssen wir sprechen.

Jin, Jiyan, Azadî!

Eine Revolution findet in Iran statt. Die Aufstände der letzten Jahre wurden medial ignoriert und von der iranischen Regierung blockiert. Diese Revolution könnte vieles gegen den islamistischen Terror Irans und für die Pluralität, die die Menschen darstellen und verstecken müssen, bewirken. Wir müssen darüber sprechen und die islamistische und staatliche Gewalt nicht romantisiert darstellen.

Menschen in meinem deutschen, politischen Umfeld sind gespalten: Es gibt diejenigen, die sich trauen, über die Proteste zu reden und nach Unterstützungsmöglichkeit für Protestierende vor Ort suchen. Und es gibt diejenigen – die Not-My-Place-Gruppe –, die Angst haben, etwas Falsches zu sagen oder zu machen. Beide Gruppen sind eher schüchtern und trauen sich nicht, die Probleme zu benennen. Die Proteste müssen unterstützt werden und darauf ausgerichtet sein, was die Menschen vor Ort wollen. Seien es Spenden oder sichere Fluchtwege. Erfahrungen mit religiösem Fundamentalismus sind nicht unrepräsentative und antimuslimische Erzählungen. Sie stellen den Kern der Komplexität mulimisch geprägter Gesellschaften dar. Daher brauchen wir aktive Solidaritätsaktionen, die es wagen, differenziert mit den Geschehnissen umzugehen!