Von Negin Bekham

Als Schulkind wünschte ich mir Freiheit und dafür hatte ich konkrete Pläne: erwachsen werden, Geld verdienen, eigenes Auto kaufen. Allerdings nicht, weil ich in einem kleinen Ort in der Uckermark groß geworden bin und daher unbedingt ein eigenes Auto brauchte. Im Gegenteil. Ich bin ein Großstadtkind, doch diese großen Städte befinden sich in Iran. Ja, aufgewachsen als Frau in dem Land, das genau in diesen Tagen eine feministische Revolution erlebt. Ich bin ein Großstadtkind und wollte trotzdem unbedingt ein eigenes Auto haben.

Dieser Wunsch hatte auch nichts damit zu tun, dass ich die Umweltkrise ignorierte. Ich war kein wohlhabender Mensch mit Realitätsverlust. In Ländern mit totalitären Regimen können Autos für viele Menschen, für viele Frauen, als Safe Space gelten. Wo zwischenmenschliche Interaktionen reguliert werden und Grund- rechte eingeschränkt sind, und wo sich viele junge Menschen, selbst aus der Mittelschicht, keine eigenen vier Wände leisten können, ist ein Auto oft der günstigste und einfachste Weg zu mehr Freiheit. Daten, Sex haben, Alkohol trinken. 

Missy Magazine 06/22, Dossier Verkehrte Welt
© María Victoria Rodriguez

In Iran leben viele erwachsene Frauen weiter mit den Eltern. Manche aus wirtschaftlicher Not. Andere, weil es nicht überall angebracht ist, als Frau allein zu leben. Und dann diese Sittenpolizei. Wenn du als Frau auf den Straßen in Iran mit dem Auto unterwegs bist, kannst du dich etwas freier kleiden. So kannst du deinen Zwangshijab lockern oder einfach vom Kopf fallen lassen. Du kannst auch mal anstelle von Hosen einen Rock mit Strumpfhose tragen. Deine Nägel lackieren, so seltsam wie möglich. Die Lippen so grell schminken, wie du dich fühlst. Klingt banal? Ist es nicht. Im eigenen Auto kannst du mit anderen Autofahrer*innen nebenan flirten. Aus ziellosem Autofahren ist in Iran eine Subkultur entstanden. Junge Leute fahren in der Regel zum Spaß und um andere junge Menschen kennenzulernen. Du kannst heimlich daten und die aufregendsten Küsse der Welt erleben. Regeln zu brechen und der Polizei zu entkommen, ist viel schwieriger, wenn du zu Fuß unterwegs bist. Die sogenannte Sittenpolizei steht oft an vielen Stadtplätzen, Kreuzungen, Eingängen von Einkaufszentren. Oder sie erwischen dich einfach in den menschenleeren Gassen. Und wenn sie dich erwischen, kann es lebensgefährlich werden. 

Wo es keine Freiheit gibt, kann der Kauf eines Autos einen Überlebenszweck erfüllen. Ich wollte lachen, ich wollte beim Küssen weniger Angst haben, ich wollte als Frau ein Leben in Freiheit genießen. Ein Stückchen davon könnte ich durch den Kauf eines Autos realisieren. 

Autofreie Städte versprechen bessere Luftqualität, weniger Lärm, mehr Platz für Menschen und Klimaschutz. Die Zukunft der Städte ist autofrei? Ohne Zweifel! Anwenden lässt sich das aber nicht überall gleichzeitig. Was ist mit Ländern, in denen ein Auto mehr ist als nur ein unnötiges und gefährliches Statussymbol, das die Umwelt verschmutzt? Was ist mit denen, für die ein Auto Sicherheit bedeuten kann? Um globalen Klimaschutz zu leben, brauchen Menschen erst einmal das Recht auf uneingeschränkte Bewegungsfreiheit. 

Dieser Artikel erschien zuerst in der Missy 06/2022