Von Laura Aha

Perera Elsewhere trägt einen Mantel aus Stein. Um ihren Kopf hat sie verschiedenfarbige Stoffbahnen gewickelt. Den Blick gesenkt steht sie vor einer Mauer in einer kargen Landschaft, über der sich graue Wolken bedrohlich am Himmel auftürmen. „Der Himmel ist aus Fuerteventura“, erklärt mir Perera Elsewhere das futuristisch zusammencollagierte Cover ihres neuen Albums „Home“. „Die Steine sind aus Tinos. Ich selbst bin hier in Berlin fotografiert.“ Die Collage, das Versatzstückhafte ist ein Lebensthema für die Wahlberlinerin. Als Kind srilankischer Eingewanderter wuchs Sasha Perera, wie sie bürgerlich heißt, in London auf.

Mit Anfang zwanzig zog sie nach Berlin und blieb. „Meine Mutter hat ihre Identität gewechselt, sie ist jetzt seit fast fünfzig Jahren in England. Das ist nomadisch. Und ich führe das weiter, indem ich jetzt Teil dieser Gesellschaft bin. Deswegen, what is home?“ Perera nippt an ihrem Kaffee und lässt den Blick über den Neuköllner Reuterplatz schweifen. Es ist einer dieser überraschend warmen Oktobertage, an denen der Sommer als bittersüßer Gruß eine Ehrenrunde dreht. Perera hat sich die schwarz-weiß karierte Bluse abgestreift und reckt sich im Sport-BH mit geschlossenen Augen der Sonne entgegen. Um uns herum schaukeln junge Eltern ihre Babys in Tragetüchern, Teenager fläzen im Gras. Ein Obdachloser kommt auf uns zu und fragt, ob wir vielleicht eine Wohnung zu verschenken hätten. „Leider nein, aber die da drüben vielleicht?“, lässt sich Perera Elsewhere auf das halbironische Spiel ein und zeigt in Richtung des Springbrunnens. Darauf hat jemand in großen schwarzen Lettern das Wort „Gentrification“ gesprüht. 

„Als ich Anfang der 2000er aus London hierhergekommen bin, da wollte niemand in Kreuzberg oder Neukölln wohnen“, erinnert sie sich. „Zu gefährlich, wegen der ganzen ‚Ausländer‘.“ Sie zeichnet mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft und schnaubt. Sie selbst nahm die Stadt damals ganz anders wahr. Sehr weiß, sehr homogen. Als exotisch sei sie plötzlich bezeichnet worden. Und habe sich gleichzeitig so frei gefühlt wie noch nie. Wie so viele Künstler*innen wurde auch Perera damals von den günstigen Mieten angezogen und dem ungenutzten Raum, den die Stadt bot. „Berlin war damals noch viel mehr off the radar. Du hattest das Gefühl, dass du einen Schatz entdeckst, von dem niemand wusste. Und hier hatte man Zeit, um was auszuprobieren. Incubation-Zeit für die eigenen Ideen.“ Für Perera wurden die Clubs zu diesen kreativen Inkubatoren. Zunächst als Mother Perera, Frontfrau der vom Trip-Hop beeinflussten Electronica-Band Jahcoozi. Später als Solokünstlerin, DJ und Produzentin unter ihrem heutigen Alias Perera Elsewhere. 

Elsewhere, anderswo. Dieser Name ist nicht zufällig gewählt. Obwohl sie mit dem tamilischen Namen ihres Vaters geboren wurde, benutzt sie den Namen ihrer singhalesischen Mutter. „Das können die Leute besser aussprechen als den indigenous name meines Vaters. Bei ,Perera‘ denken sie an eine brasilianische Stripperin.“ Sie wirft den Kopf in den Nacken und bricht in ein für sie charakteristisches, etwas dreckig-kehliges Gelächter aus. „Perera“ verweist als portugiesischer Name auch auf die lange Kolonialgeschichte Sri Lankas. Der Inselstaat südlich von Indien wurde erst von Portugal, später von Holland und schließlich von Großbritannien besetzt. Und auch innerhalb ihrer eigenen Familie gab es politische Spaltungen: Ihre Mutter ist Singhalesin, ihr Vater Tamile, die größte ethnische Minderheit Sri Lankas. Seit der Unabhängigkeit des Inselstaates 1948 hatte sich der lange schwelende Konflikt zwischen diesen beiden Gruppen in Sri Lanka immer weiter verschärft, was in den 1980er-Jahren schließlich zu einem blutigen Bürgerkrieg führte. 100.000 Menschen kamen ums Leben, fast eine Million Tamil*innen flohen in der Folge hauptsächlich nach Indien, Kanada und Europa. 

© Shirin Esione

„So actually, ich bin Elsewhere“, erklärt Perera, die während des Gesprächs immer wieder englische Worte einstreut. „Wieso habe ich diesen Namen? Er ist das Ergebnis geopolitischer, kapitalistischer Bewegungen, die von anderen Menschen bestimmt wurden. Wieso bin ich in London geboren? Wegen der Kolonialgeschichte. Wieso heiße ich Perera? Kolonialgeschichte. Das ist sehr normalisiert. Aber das ist displacement.“ Displacement ist ein zentrales Konzept im postkolonialen Diskurs. „Hier entsteht die besondere postkoloniale Identitätskrise, die Sorge um die Entwicklung oder Wiederherstellung einer wirksamen identifizierenden Beziehung zwischen Selbst und Ort“, schreiben Bill Ashcroft, Gareth Griffiths und Helen Tiffin in „The Empire Writes Back: Theory and Practice in Post-Colonial Literatures“, einem der Standardwerke postkolonialer Theorie. 

„Hello? Who I, who I am?“, fragt Perera in der gleichnamigen Single. Im Video verschmelzen Teile ihres Gesichts mit der dahinterliegenden Landschaft, multiplizieren sich, fächern sich auf, um in surrealen Bildkontexten wieder neu ineinanderzufließen. Über einem sphärischen Beat pitcht sie ihre Stimme bis zur Unkenntlichkeit und tritt in einen Dialog mit sich selbst. Die eigene Identität als sich ständig im Wandel befindliche Collage zieht sich als roter Faden durch das Album. „Just too many pieces to fit in a jigsaw“, singt Perera auf dem trippigen Basstrack „Heatwave“. Bedrohlich wummert der Bass auf „Stranger“ unter einer melancholischen Klaviermelodie. Geisterhaft huschen verhallte Stimmen vorbei, eine dubbige Trompetenmelodie wirkt wie ein ferner Ruf aus einer anderen Welt. 

Perera Elsewhere gelingt es auch ohne Worte, Emotionen wie Nostalgie, Einsamkeit und Melancholie in elektronische Grooves zu übersetzen. Das brachte ihrer bisweilen düsteren Musik zu Beginn das Label „Doom Folk“ ein. Ihre Produktionen sind vielschichtige, mit nerdiger Akribie konstruierte Klangräume, die sich aufblähen, um mit dem Drehen eines Filterknopfes einfach zu verschwinden oder wie ein Kartenhaus in sich zusammenzustürzen. Ihre großen Vorbilder Aphex Twin und Burial schimmern in jedem Glitch hervor – Pioniere im Bereich Dubstep, Electronica und Intelligent Dance Music. Trotzdem wird ihre Musik häufig als „Pop“ klassifiziert, es werden Vergleiche zu M.I.A. oder Santigold gezogen – einfach nur aufgrund ihres Aussehens, ist sich Perera Elsewhere sicher. 

„Die Sache ist, wenn ich dieselbe Musik machen würde, alle Vocals rausschmeißen und dann eine abstrakte Grafik auf das Cover packen würde, dann wäre ich Teil dieser Welt. Aber sobald ich mein Gesicht auf das Albumcover packe, heißt es: ‚Oh, du machst Popmusik, oder?‘“ Sie hätte sich selbst nie vorstellen können, jemals solche Musik machen zu können. Zu sehr wurde dieser Soundnerd-Space immer schon von weißen Dudes dominiert. „Ich hatte keine Role Models von srilankisch aussehenden Frauen, die Dinge ganz laut im kreativen Feld gemacht haben.“ Ihr Gesicht und ihre fragmentierte Identität ganz bewusst auf dem Cover ihres Albums zu platzieren ist daher ein bewusstes Statement. 

Doch nicht nur innerhalb der Musikszene musste sie gegen Widerstände ankämpfen. Auch innerhalb der eigenen Familie gab es Vorbehalte gegen ihre künstlerischen Ambitionen. „Meine Eltern haben gesagt: ,You’re gonna die on the streets, you’ll be poor, one-way-ticket to unemployment.‘“ Sie imitiert den srilankischen Akzent ihrer Mutter und rollt mit den Augen. „Typisches Migrant*innending. Niemand will, dass das eigene Kind Künstler*in wird.“ Ihre Eltern hätten sich nach ihrer Ankunft in England stets am Rande der Gesellschaft gefühlt. Perera erinnert sich an keinen einzigen weißen Freund ihrer Eltern, während sie aufwuchs. Man blieb unter sich, versuchte, sich anzupassen und möglichst nicht aufzufallen. 

Sie selbst wollte auffallen um jeden Preis. „Alle Asian Kids haben Klavier gespielt oder gesungen, sahen lieb aus. Also hab ich zu meiner Mutter gesagt: Ich will Trompete spielen. Ich hatte noch nie von Miles Davis gehört oder von Louis Armstrong. Keine Ahnung von Jazz. Meine Eltern haben Rabih Shankar und Boy George gehört. Ich wollte einfach nur Trompete spielen, weil es so fucking loud und nervig ist.“ Bis heute hört man die Trompete immer wieder in ihren Produktionen. Ein virtuoses Trompetensolo von Perera Elsewhere wird man aber vergeblich suchen. Egal, ob ihre Stimme, die Trompete oder die Gitarre auf ihrem ersten Album – für Perera Elsewhere ist alles eine reine Soundquelle, die sie bearbeitet, pitcht, zerstückelt und neu zusammensetzt. „Ich bin einfach eine Ableton-Schlampe. Das ist das Instrument, das ich am besten beherrsche.“ 

Sie arbeitet mit dem, was sie hat. „Availabilitism“ nennt sie das. Am liebsten experimentiert sie mit Instrumenten, die sie gar nicht beherrscht. So wie auf dem dystopischen Drone-Techno-Track „HKW“, einer Auftragsarbeit für das Berliner Haus der Kulturen der Welt, die es auch auf das Album „Home“ geschafft hat. In ei- nem YouTube-Video kann man den Entstehungsprozess im Studio nachverfolgen. Ausgangspunkt ist die Hudu, eine Art bauchige Trommelvase aus Nigeria. Es ist das Geschenk einer Musikerin, die an einem ihrer Musikproduktionsworkshops an der Elfenbeinküste teilgenommen hat und auf deren Party sie später aufgelegt hat, erklärt Perera im Video. „Ich bin keine Perkussionistin“, sagt sie, während sie mit der flachen Hand auf das Klangloch der Hudu schlägt. „Aber ich spiele so herum mit Dingen, schmeiße alles raus, was scheiße ist, und benutze das, was schön ist.“ 

Es ist derselbe Ansatz, den sie auch mit Error Music verfolgt, ein „Sound x Tech Format für Mädchen* und nonbinary Kids zwischen 12 und 14 Jahren“, wie das von Produzentin und Sängerin Yosa Peit gegründete Nachwuchsprogramm auf seiner Website schreibt. Perera und ihr Team gehen dabei für Projektwochen in Schulen und interkulturelle Mädchentreffs. Ihr Ziel: einen selbstbewussten Umgang mit experimenteller elektronischer Musik und Technologien, Grundlagen des Sounddesigns und Wissen über elektronische Pionierinnen vermitteln. Am Ende der Woche steht ein Auftritt im Berliner Acud Club. „Wir sagen dabei immer: Es geht nicht um Perfektionismus – that’s why it’s called ERROR Music! Es geht um Selbstausdruck und Experimentieren. Das ist auch politisch auf eine Art. Weil es ein Akt ist, der nichts mit Geld zu tun hat, nichts mit Konsum. Es hat mit Teilen zu tun.“ 

Ihr Wissen mit FLINTA zu teilen und weiterzugeben spielt eine zentrale Rolle in Pereras künstlerischer Arbeit. Auch als DJ versteht sie sich als eine Art Sprachrohr, indem sie Musik anderer Menschen in Räume bringt, in denen diese sonst vielleicht nicht stattfindet. In einem aktuellen Mix für „Crack Magazine“ mixt sie „Black Meditation“ des britischen Jazzmusikers Shabaka Hutchings mit dem deconstructed Dancehall von Bambii. Die 19-jährige Tansanierin DJ Travella aus dem Umfeld des ugandischen Hype-Labels Nyege Nyege mit dem 1994 erschienenen D’n’B-Klassiker „Dub Plate Fever“ von Jungle-Legende DJ Hype. „Ich spiele Musik, die hoffentlich nicht alle kennen. Das ist nicht per se politisch, aber wie ich das kombiniere, ist auch eine Form von Kommunikation. Spiel nicht das, was die Leute wollen, fucking educate them! Das ist dein Job als DJ. Die Leute aus ihrer Komfortzone rausholen, ihnen etwas Neues zeigen. Das ist ein politischer Akt.“ 

Den aktuellen Entwicklungen innerhalb der Berliner Clubszene steht sie daher sehr kritisch gegenüber, da sie hier vor allem ein Gefangensein in Retroschleifen, in der ewigen Wiederholung des Immergleichen beobachtet. „Techno und House langweilen mich mittlerweile zu Tode“, sagt sie und lacht ihr ansteckendes Lachen. „I mean, natürlich finde ich Drexciya und Underground Resistance mit ihrer ganzen Mythologie great. Aber weißt du, wie viele Menschen denken, dass Techno mit Dr. Motte angefangen hat? Das ist so schmerzvoll für mich. Es gibt Amis, die das denken, und ich bin so: No, this is your subculture! Es langweilt mich, weil alle nur deswegen hierherkommen. Das finde ich eine oberflächliche Auseinandersetzung mit der Stadt.“ Auch für die vermeintliche Offenheit der Clubszene, mit der sich das Berliner Stadtmarketing allzu gerne schmückt, hat sie nur ein müdes Lächeln übrig. „Das ist das Lustigste an Berlin. Alle sagen: ‚Oh, es ist so eine offene Stadt.‘ Aber wenn du mit vier von deinen Sonnenallee-Freund*innen zu irgendeinem Club gehst – vergiss es.“ 

Trotzdem sieht sie im Hedonismus, im Wunsch, der Realität zu entfliehen, sich an einen anderen Ort, eben „elsewhere“, zu wünschen, auch politisches Potenzial. Flucht als Akt einer aktiven politischen Widerstandspraxis anzuerkennen ist auch ein Teil postkolonialer Diskurse. Für die Kinder ehemaliger Geflüchteter geht das Streben häufig in die andere Richtung: die Suche nach den eigenen Wurzeln. Auch wenn Perera zur Heimat ihrer Eltern, wie sie sagt, ein diasporisches Verhältnis hat, sucht sie in den letzten Jahren vermehrt Kontakt zu srilankischen Künstler*innen. Und es war ihr ein persönliches Anliegen, auch bei den Protesten in Sri Lanka im März dieses Jahres vor Ort zu sein. 

Sri Lanka erlebt aktuell eine der schwersten ökonomischen Krisen, die vor allem durch jahrelange Misswirtschaft und eine korrupte Regierung herbeigeführt wurde. Die Pandemie hat die Lage vor Ort durch das Ausbleiben des Tourismus drastisch verschärft. Hohe Inflation, Mangel an Strom, Gas, Benzin und täglichen Bedarfsgütern führten daher im März zu Massenprotesten. Von denen kamen in westlichen Medien vor allem die Bilder an, wie Protestierende in das Haus des Präsidenten Gotabaya Rajapaksa eindrangen: Protestierende im Swimmingpool des Präsidenten. In seiner Dusche. Protestierende, die im Himmelbett des Präsidenten liegen und die Nachrichten über sich selbst anschauen. 

„Das Beste an den Protesten war: Vorher waren Proteste für besoffene Männer, das war immer gewalttätig. Jetzt ist die Mittelschicht da und die haben Plakate, genauso wie hier. Es ist jetzt hip, politisch zu sein. Aber es hat auch zu was geführt. Es gab ein Camp, Health Center, eine Bibliothek in allen drei Sprachen – Singhalesisch, Tamilisch und Englisch. Es war sehr special, da zu sein.“ Auch wenn sie selbst nie dort gelebt hat, ist es für Perera wichtig, sich auf ihre Art zu engagieren – die Proteste unterstützen, Spenden sammeln und vor allem: diasporische Menschen zusammenbringen. Denn wenn „Home“ kein physischer Ort ist, muss man ihn sich selbst erschaffen. In der Community mit Menschen, denen es ähnlich geht. Und aus den Puzzleteilen der eigenen Identität in sich selbst. 

Perera Elsewhere „Home“

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Dieser Artikel erschien zuerst in der Missy 06/2022