Missy Magazine 06/22, Filmrezis

Black Mambas 
Die Regisseurin Lena Karbe widmete bereits vergangene Projekte den Themen weibliche Rollenbilder und gesellschaftliche Machtstrukturen, ihr erster dokumentarischer Langfilm knüpft daran an. Über einen Zeitraum von zwei Jahren begleitet „Black Mambas“ die gleichnamige Spezialeinheit – eine Gruppe Schwarzer Frauen, die im südafrikanischen Kruger Nationalpark patrouilliert, um gegen Wilderei zu kämpfen. Was zunächst nach Empowerment klingt, bietet bei genauerem Blick hinter die Fassade ein gegenteiliges Bild: Zwar besteht die Spezialeinheit aus- schließlich aus Schwarzen Frauen – jedoch sind ihre Vorgesetzten überwiegend weiß, cismännlich und verhalten sich wiederholt rassistisch, sexistisch und klassistisch. Auch die Arbeit zehrt an den Kräften der „Black Mambas“, die teils die alleinige finanzielle Verantwortung für ihre Familien und Partner tragen. Anstatt sich in die vielen eurozentrischen Produktionen mit White-Saviour-Narrativ einzureihen, nimmt Karbe eine beobachtende, wertschätzende Rolle ein. So können die Frauen selbst von der Ambivalenz hinter den „Black Mambas“ erzählen: Auf der einen Seite steht ihr Wunsch nach Unabhängigkeit und Emanzipation, auf der anderen ihre Lebensrealität, geprägt von ungeschätzter Care- Arbeit, kolonialen und patriarchalen Machtstrukturen. Lena Mändlen

„Black Mambas“ DE/FR 2022 ( Regie: Lena Karbe. 81 Min., Start: 17.11. ) 

Missy Magazine 06/22, Filmrezis

Emily
Drei große Liebesgeschichten werden in „Emily“ erzählt, um sich der Schriftstellerin Emily Brontë anzunähern, die mit „Sturmhöhe“ eines der bekanntesten Werke der Weltliteratur vorlegte. Zwischen Biopic, Außenseiter*innendrama und fiktiver Romanze widmet sich Frances O’Connor in ihrem Regiedebüt den drei zentralen Leidenschaften Brontës: der Liebe zum Schreiben, der Liebe zu den wilden Heidelandschaften Yorkshires – und der Liebe mit all ihren Widersprüchlichkeiten an sich. Ausgehend vom Sterbebett der noch jungen Emily (Emma Mackey) liefert der Film einen Rückblick auf die frühen Jahre der bekanntesten Brontë- Schwester. Gedreht wurde tatsächlich im Lebens- und Sehnsuchtsort der Brontë-Schwestern Haworth, aber es wird sich nicht streng an biografischen Fakten abgearbeitet. Stattdessen wird inbrünstig imaginiert: Die fiktionale Liebesgeschichte zwischen Emily und dem Angestellten ihres Vaters William Weightman (Oliver Jackson-Cohen) wird zur Metapher für Brontës Leben als Rebellin, die zeit ihres Lebens versucht hat, sich von den Fesseln der Gesellschaft zu befreien, um ihrem authentischen Selbst so nah wie möglich zu kommen. Es ist ein beeindruckendes Debüt, liebevoll gedreht, wundervoll gespielt – und bei aller Fiktion doch sehr nah dran an dem Naturell der legendären Autorin. Nadia Shehadeh 

„Emily“ GB 2022 ( Regie: Frances O’Connor. Mit: Emma Mackey, Fionn Whitehead, Oliver Jackson-Cohen u. a., 140 Min., Start: 24.11. ) 

Missy Magazine 06/22, Filmrezis
© Auto Images Archives Beach

Nelly & Nadine
Seit Jahren, eigentlich Jahrzehnten, will Sylvie Bianchi die Tagebücher ihrer Großmutter Nelly Mousset-Vos lesen. Doch die grausamen Erinnerungen darin lassen sie nur wenige Seiten weit kommen. Denn die Tagebücher handeln von Nellys Zeit in deutschen KZs. Der Regisseur Magnus Gertten wiederum findet bereits 2007 alte Aufnahmen, auf denen Befreite zu sehen sind, die in Schweden ankommen, und beginnt einzelne Personen zu identifizieren. Dabei stößt er auf Nadine Hwang. Seine Recherchen zu ihr führen ihn letztendlich auf Sylvies Bauernhof in Nordfrankreich. Gemeinsam entschlüsseln sie, wie Nelly und Nadine sich im KZ Ravensbrück nicht nur kennenlernten, sondern wider aller Umstände ein Paar wurden. Eine Tatsache, über die in Sylvies Familie nie gesprochen wurde, obwohl die beiden Frauen bis zu Nadines Tod zusammen in Venezuela lebten. Und so öffnet Sylvie nicht nur irgendwann symbolisch die Truhen auf ihrem Dachboden, sondern reist nach Belgien und Spanien, wo sie durch einen alten Freund von der unzerstörbaren Liebe der beiden erfährt, die nicht einmal durch eine Trennung in unterschiedlichen Lagern gebrochen werden konnte. Die Dokumentation „Nelly & Nadine“ zeigt eindringlich ein wichtiges Stück verborgener queerer Geschichte und lässt verstehen, wie die Auswirkungen des Krieges immer noch in Familiengeschichten nachwirken. Avan Weis

„Nelly & Nadine – eine wahrhaft unglaubliche Liebesgeschichte“ SWE/BEL/NOR 2022 ( Regie: Magnus Gertten. 92 Min., Start: 24.11. ) 

Missy Magazine 06/22, Filmrezis

Servus Papa, See You In Hell
Jeanne ist 14 Jahre alt und lebt Ende der 1980er-Jahre in einer Kommune im österreichischen Nirgendwo. Sie vermisst ihre Mutter, die in der Stadt Geld verdienen muss, lebt aber ansonsten ein vermeintlich paradiesisches Leben in der Natur. Doch dann verliebt sie sich in einen Jungen aus der Kommune und Verlieben ist verboten. Nicht verboten ist hingegen die sexualisierte Gewalt, die Jeanne durch den Kommunenpatriarchen Otto erlebt, geduldet durch die obersten Frauen der Gemeinschaft. Vieles ist schwer anzusehen in diesem Film, der auf den Erinnerungen der Drehbuchautorin und Schauspielerin Jeanne Tremsal an ihre Kindheit in der Muehl-Kommune unter Führung des „Aktionskünstlers“ Otto Muehl beruht, der sich die Überwindung der Kleinfamilie auf die Fahnen schrieb und später wegen Missbrauchs an Jugendlichen verurteilt wurde. Doch es gibt Lichtblicke, denn die echte Jeanne hat der fiktiven Jeanne ein Ende geschenkt, wie sie es sich gewünscht hätte: Die Kinder der Kommune starten eine echte Revolte, entlarven die Autoritätshörigkeit und das Mitläufer*innentum der Erwachsenen. Empfehlung: ergänzend die autobiografische Doku „Meine keine Familie“ um eine Kindheit in der Kommune ansehen. Denn auch wenn „Servus Papa, See You In Hell“ fiktiv ist, die Deutungshoheit haben sich die echten Kinder aus der Muehl- Kommune zurückgeholt. Anna Mayrhauser 

„Servus Papa, See You In Hell“ DE 2022 ( Regie: Christopher Roth. Mit: Jana McKinnon, Clemens Schick, Jeanne Tremsal, Dirk von Lowtzow u. a., 116 Min., Start: 24.11. ) 

Missy Magazine 06/22, Filmrezis

Call Jane 
1968. Joy (Elizabeth Banks), eine Hausfrau aus Chicago, ist schwanger. Ein zweites Kind ist unterwegs. Joy ist weiß, lebt konventionell und führt mit ihrem halbwegs attraktiven Mann (Chris Messina) und ihrer grummeligen 15-jährigen Tochter (Grace Edwards) ein glückliches Leben. Doch dann wird Joy schwindlig und sie knallt auf den Boden. Von da an ist alles anders. So wird Phyllis Nagys Filmdrama „Call Jane“ zu einer Abtreibungsstory – und taucht damit in die Geschichte des langen Kampfes von Frauen für das Recht auf legale Abtreibung ein. Joys Arzt warnt sie, dass ihr eine akute Herzinsuffizienz drohe und die Schwangerschaft für sie mit einer Überlebenschance von nur fünfzig Prozent lebensgefährlich sei. Sie soll abtreiben, was in den USA der 1960er-Jahre verboten ist. Joy scheitert immer wieder daran, eine Genehmigung zu bekommen. Bis sie einen kleinen Zettel auf der Straße findet: „Schwanger? Besorgt? Hier bekommst du Hilfe! Ruf Jane an!“ Ein illegalisiertes Frauenkollektiv, das ohne moralische Vorbehalte Abtreibungen ermöglicht. „Call Jane“ erzählt eine angesichts der steigenden Zahl an Abtreibungsverboten in den USA immer noch hochaktuelle Geschichte. Negin Behkam 

„Call Jane“ USA 2022 ( Regie: Phyllis Nagy. Mit: Elizabeth Banks, Sigourney Weaver, Kate Mara, Wunmi Mosaku u. a., 122 Min., Start: 01.12. ) 

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Aftersun 
Es ist dunkel; die Stille der Nacht liegt über der Hotelanlage des türkischen Badeorts, an dem Calum (Paul Mescal) und Sophie (Frankie Corio) Urlaub machen. Ihr gleichmäßiges Atmen, friedvoll schlafend, begleitet seine innere Unruhe, die er heimlich auf dem Balkon mit Nikotin zu lindern versucht. Dass die beiden Vater und Tochter sind, gerät zuweilen in Vergessenheit. Wie gute Freund*innen sitzen sie am Pool, gehen essen und sehen sich das abendliche Unterhaltungsprogramm des Hotels an. Immer mit dabei: Sophies Digicam – das Smartphone der 1990er. Für Gleichaltrige interessiert sich die Elfjährige nicht wirklich. Ebenso wenig wie ihr Vater, der stets liebevoll und allein um ihr Wohlbefinden bemüht ist. Aber die friedvoll dahinwabernden Szenerien vermeintlich unbeschwerter Urlaubstage durchdringt eine gewisse Melancholie, gepaart mit Sehnsucht und Ernüchterung – über das Leben, das Älterwerden, verpasste Gelegenheiten. Unsicherheit, sie schwingt bei beiden mit. Doch während Calum instabiler wird, beginnt Sophie zu erblühen. Der Schwenk in die Zukunft ordnet die Szenen der Vergangenheit zunehmend ein. Mit ihrem Spielfilmdebüt gelingt es der Drehbuchautorin und Regisseurin Charlotte Wells, auf subtile und zugleich eindringliche Weise eine ergreifende Familienbiografie zu skizzieren. Begleitet vom pointierten Soundtrack versetzt die intim anmutende Kameraführung die Betrachtenden in ein Gefühl von bittersüßer Schwermut. Leonie Claire Recksiek 

„Aftersun“ UK/USA 2022 ( Regie: Charlotte Wells. Mit: Frankie Corio, Paul Mescal u. a., 102 Min., Start: 15.12. ) 

Missy Magazine 06/22, Filmrezis

An einem schönen Morgen 
Eine Frau. Zwischen zwei Männern. Der eine, ihr Vater, ist schwer erkrankt, verliert seine Sehkraft, seine Erinnerung, ist nicht mehr der, der er mal war. Der andere, ihr Liebhaber, ist verheiratet und auch nur sporadisch, aber intensiv, da. Sandra (Léa Seydoux) schwankt also permanent zwischen Aufopferung und Hingabe, zwischen Trauer und Hoffnung. Die junge alleinerziehende Mutter arbeitet als Übersetzerin in Paris und hatte nach dem Tod ihres Mannes mit der Liebe abgeschlossen. Dann begegnet sie Clément (Melvil Poupaud), einem Freund ihres verstorbenen Mannes, und lebt leidenschaftlich auf. Ihr Leben oszilliert nun zwischen Job, Alltag mit Tochter, Besuchen und Organisatorischem rund um das Wohl ihres Vaters (Pascal Greggory) und Warten auf den Geliebten. „An einem schönen Morgen“ ist ein ruhiger Film, in dem die französische Regisseurin Mia Hansen-Løve auch autobiografische Aspekte verarbeitet. Die teilweise fast dokumentarische Sicht auf die Geschehnisse zeigt die Realität, ungeschönt, aber dennoch sanft: Krankenhäuser, Pflegeheime, Wohnungen und Arbeitsplätze, Straßen, Parks, die Stadt. Zugleich wertet der Film nicht. Weder den Ehebruch noch Sandras Schuldgefühle und Schmerz, was den Zustand ihres Vaters und ihr Recht auf eigenes Glück angeht. Hansen-Løve beobachtet Leben und Leute, so wie sie sind: liebenswert, unperfekt, leidenschaftlich, zerrissen, menschlich. Indra Runge

„An einem schönen Morgen“ FR/DE 2022 ( Regie: Mia Hansen-Løve. Mit: Léa Seydoux, Pascal Greggory, Melvil Poupaud, Nicole Garcia u. a., 112 Min., Start: 08.12. ) 

Missy Magazine 06/22, Filmrezis

Irrlicht
Portugal 2069. Der mittellose König Alfredo liegt im Sterben. Seine letzten Stunden gehören der Erinnerung an seine Jugend – einer Zeit der Rebellion, Selbsterkundung und des queeren Erwachens. Der Film von João Pedro Rodrigues folgt dem jungen Alfredo durch seine Abnabelung vom royalen Elternhaus über das Ehrenamt bei der Feuerwehr bis zur Romanze mit dem Ausbilder Afonso. „Irrlicht“ ist ein politisch-erotisches Märchen, das sich zeitweise in ähnlichen Sujets wie Julia Ducournaus „Titane“ bewegt, dabei aber zärtlicher vorgeht. Rodrigues verbindet sexuelles und politisches Begehren zu einem Stück, das leichtherzig Ausfallschritte in Tanz- und Essayfilm vollzieht. Auch, wenn der Kern der Erzählung ein sinnlicher ist, sind Kolonialgeschichte, Rassismus und Klimakrise omnipräsent. Um eine wissende Naivität bemüht, fallen hier einige thematische Anschnitte etwas flapsig aus, können den lust- und humorvollen Charakter damit aber nur kurzzeitig trüben. Linus Misera

„Irrlicht“ PRT/FR 2022 ( Regie: João Pedro Rodrigues. Mit: André Cabral, Mauro Costa u. a., 67 Min., Start: 08.12. )

 

die goldenen Jahre
© Alamode Film

Die Goldenen Jahre
Endlich frei! Ausgangspunkt von Barbara Kulcsars Film ist der Ruhestand von Alice (Esther Gemsch) und Peter (Stefan Kurt). Ausgelassen stößt das Paar, das seit vierzig Jahren verheiratet ist, mit Freund*innen und Familie auf die neue Lebensphase an. Auf einer Kreuzfahrt im Mittelmeer wollen sie sich als Paar näherkommen, so zumindest der Plan von Alice. Während sie sich von der Reise erhofft, wieder mehr Schwung in ihre Ehe zu bringen, entwickelt sich Peter plötzlich zum Gesundheitsfanatiker. Beim Abendessen verzichtet er auf Rotwein, ernährt sich vegan und hat sich dem Radsport verschrieben. Als Peter dann noch seinen kürzlich verwitweten Freund ohne Absprache mit auf die Reise einlädt, ist es aus mit der erhofften Zweisamkeit. Auf der Kreuzfahrt loten Alice und Peter ihre Beziehung neu aus. Kulcsars Film, der zwischen Komödie und Drama changiert, schafft es, leicht zu wirken, aber erdrückende Gesellschaftsnormen zu verhandeln. Das Kreuzfahrtschiff, auf dem verliebte Paare dem Terror des Amüsierzwangs hinterherjagen, kreiert zudem eine clevere Parallele zu Alices Sehnsüchten, die Peter nicht erfüllen kann. Dabei verfolgt der Film ein verspieltes und leicht überhöhtes visuelles Konzept: Die Räume sind bunt, die Kostüme haben kräftige Farben. Wenke Bruchmüller 

„Die Goldenen Jahre“ DE/CH 2022 ( Regie: Barbara Kulcsar. Mit: Esther Gemsch, Stefan Kurt u.a., 92 Min., Start: 17.11. )

 

Mehr denn je
© Pandora Filmverleih

Mehr denn je
Es ist Abend in Bordeaux. Hélène, Mitte dreißig, lümmelt auf dem Sofa, tippt „Was tun, wenn man stirbt?“ in den Laptop, findet Eso-Kram mit Dudelmusik, scrollt weiter zu „Mister – when you know that you’re dying“. Sie klickt, ist angetan von den idyllischen Norwegen-Fotos und dem adretten Mann im OP-Hemd mit nacktem Po. Kurz darauf kontaktiert Hélène, die an einer unheilbaren Lungenkrankheit leidet, „Mister“ und beschließt, allein nach Norwegen zu reisen. Ihr Mann Mathieu, mit dem sie eigentlich glücklich ist, flippt aus, hat die Ärztin doch gerade eine Transplantation in Aussicht gestellt, wenn sich ein*e Spender*in findet. Doch Hélène mag die hilflosen Blicke von Freund*innen und Mutter nicht mehr, fühlt sich eingeengt. Sie fährt nach Norwegen, wohnt bei „Mister“, der sich als grumpy Kauz entpuppt, geht schwimmen, wandert. Als sie schwächer wird, kommt Mathieu und will sie holen… Der fünfte Spielfilm von Emily Atef fließt ruhig dahin, nur unterbrochen von immer dramatischeren Filmschnipseln mit Vögeln, Wasser und Hélène. Vicky Krieps (beängstigend dringlich) und der feinnervig spielende Gaspard Ulliel (in einer seiner letzten Rollen), zeigen überzeugend, dass auch ein verliebtes Pärchen schlecht gegen Unglück ankommt. „Mehr denn je“ ist tough und wirkt lange nach. Barbara Schulz

„Mehr denn je“ NOR/LUX/DE/FR 2022 ( Regie: Emily Atef. Mit: Vicky Krieps, Gaspard Ulliel, Bjørn Floberg u.a., 123 Min., Start: 01.12. )

 

Dieser Artikel erschien zuerst in der Missy 06/2022