Von Hêlîn Dirik

„Irgendwie habe ich Angst vor dir“, entgegnete mir ein weißer Kommilitone einmal, nachdem ich ihm – angeblich zu aggressiv widersprochen und meine Meinung zu einem politischen Thema näherzubringen versucht hatte. Auf das Gesagte ging er inhaltlich gar nicht ein und tat so, als hätte er mich nicht verstanden. Ich fühlte mich daraufhin fast schon schlecht, obwohl ich nach meiner Wahrnehmung eigentlich ruhig gesprochen hatte. Und das ursprüngliche Thema unserer Diskussion blieb auf der Strecke. 

Wenn euch dieses Szenario bekannt vorkommt, habt ihr wahrscheinlich Tone Policing erlebt. Tone Policing ist eine Taktik, mit der Ton, Wortwahl, Mimik oder Körpersprache einer Person angegangen werden, um vom eigentlichen Thema abzulenken. Damit werden vor allem Angehörige unterdrückter und marginalisierter Gruppen, die etwa ihre Meinungen, Forderungen und Kritiken äußern, zum Schweigen gebracht. Indem die Aufmerksamkeit auf den vermeintlich aggressiven, übertriebenen, lauten oder emotionalen Ton des*der Sprechenden gelenkt wird, macht es sich das Gegenüber leichter, sich mit dem Gesagten nicht auseinanderzusetzen und der Debatte zu entziehen. 

Machtverhältnisse und Vorurteile, die auf Unterdrückungssystemen wie Rassismus, Patriarchat und Kapitalismus basieren, werden in solchen Situationen reproduziert: Wer wie zu reden und aufzutreten hat, wer sprechen und wer brav nicken und zuhören soll. Hinter Tone Policing steckt oft ein Unbehagen darüber, dass unterdrückte Menschen sich und ihre Ansichten verteidigen, anstatt zu schweigen und sich unterzuordnen. In manchen Fällen ist es auch Scham darüber, konfrontiert worden zu sein. 

Die Vorstellung, Marginalisierte seien nicht in der Lage, „sachlich“ über ein Thema zu sprechen, das sie betrifft, spielt bei Tone Policing eine wichtige Rolle. Das, was sie zu sagen haben, wird herabgesetzt, weil sie angeblich „zu viele“ Emotionen zeigen. Aus der binären Gegenüberstellung von Emotion und Vernunft, die in der westlichen Denktradition und im Patriarchat seit Jahrhunderten tief verankert ist, folgt eine Gegenüberstellung von „rationalen Expert*innen“ vs. „irrationalen Betroffenen“. Wer der letzteren Kategorie zugeordnet wird, wird oft nicht ernst genommen, misstrauisch beäugt und belächelt. 

Nach dieser Logik müssten wir uns zu Themen wie Ausbeutung, Gewalt und Krieg ohne eine Spur von Zorn, Trauer und Betroffenheit, ohne eine emotionale Regung äußern, um als Expert*innen wahrgenommen zu werden. Aber Menschen haben Emotionen. Das Problem mit Tone Policing ist also nicht nur, dass das angeblich „aggressive“ Auftreten oft schlicht auf uns projiziert wird und meist nicht einmal vorliegt. Denn selbst wenn wir uns lauter und härter äußern und „im Ton vergreifen“, wenn es um für uns schmerzhafte oder berührende Themen geht, ist das legitim und disqualifiziert uns keinesfalls als Expert*innen. 

Bevor man selbst Gefahr läuft, Tone Policing zu betreiben, könnte man sich fragen: Verhält sich mein Gegenüber tatsächlich aggressiv? Oder fühle ich mich vielleicht einfach nur gekränkt, herausgefordert, angegriffen und kritisiert? Wenn ja, sind die Kritik und die Konfrontation vielleicht wirklich legitim und scheue ich mich bloß vor einer Auseinandersetzung? Es ist wahrscheinlich schwierig, diese Gedanken im akuten Moment umzusetzen. Viel wichtiger wäre daher eine grundsätzlichere Auseinandersetzung mit Machtverhältnissen im Kapitalismus und der Frage, wie sie in unsere täglichen Interaktionen und unsere Wahrnehmung anderer Personen eingreifen.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Missy 06/2022