Klassenbeste
„Herkunft klebt wie Scheiße am Schuh“, schreibt die Journalistin Marlen Hobrack am Schluss ihres Buches „Klassenbeste“. „Es macht etwas mit dem Körper, dem Mindsetting von Menschen, wenn sie in Armut aufwachsen, wenn das Leben ihnen Dinge vor die Füße wirft, die wie immer neue Hindernisse wirken.“ Ausgehend von der Geschichte ihrer Mutter, einer Frau, die in der DDR bereits mit zwölf Jahren durch Fabrikarbeit zum Familieneinkommen beitragen und im Haushalt sowie bei der Erziehung ihrer jüngeren Geschwister helfen musste, setzt sich die Autorin mit den strukturellen Gründen fehlender Chancengleichheit auseinander. Aus ihrer Familiengeschichte und ihren Erfahrungen als Kind eines „bildungsfernen Haushalts“, dem vermeintlich ein „Klassenaufstieg“ gelang, zieht die Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaftlerin gesellschaftliche Schlüsse. Die geborene Bautzenerin erzählt von Arbeiterinnen und „Fallschirmmüttern“ und zeigt, dass das Narrativ der Aufstiegsmöglichkeit durch Arbeit nicht stimmt und sich Identitätspolitik und Klassenfrage nicht trennen lassen. Auch vor dem Thema Gewalt macht die Autorin nicht halt: „Den Zusammenhang von Gewalt und Herkunft darzustellen, ist kein Klassismus, sondern ein Argument für mehr soziale Gerechtigkeit, die gleiche Entwicklungschancen ermöglicht.“ Eva-Lena Lörzer

Marlen Hobrack „Klassenbeste“ ( Hanser Berlin, 224 S., 22 Euro ) 

Die Jahre des Maulwurfs 
Kerstin Brunes Debütroman ist eine Zeitreise in ihre Kindheit. Schauplatz ist ein Dorf mit dessen schrulligen Bewohner*innen, wobei jeder Figur eine klassische Rolle zufällt: die strenge Lehrerin Düning-Krüger, der fromme Pastor Pilz, der cholerische Bauer Deiwel. Die Einzige, die aus der Reihe tanzt, ist Tanja. Das Mädchen, das mit ihrem toten Maulwurf namens Klotho im Gepäck Schabernack treibt. Unfrisiert, ungewaschen und mit löchriger Kleidung taucht sie im Leben der Ich-Erzählerin auf, wie ein ungebetener Gast, bis die beiden beste Freundinnen werden und gemeinsam Abenteuer erleben. Ohne Zweifel handelt es sich bei der Ich-Erzählerin um die Autorin selbst, was spätestens im letzten Kapitel deutlich wird, in dem die gebürtige Gütersloherin Anekdoten über ihre Zeit als Germanistikstudentin in den Roman einfließen lässt und Bezug auf ihren Beruf als Lehrerin nimmt. Ein Eintauchen ins Dorfleben ist dank westfälischen Dialekts und Bäuer*innenweisheiten garantiert. Auch wenn sich die Autorin zuweilen in kleinteiligen Beschreibungen verliert und ausgeschmückte Anekdoten überhandnehmen, finden sich immer wieder Passagen, in denen sie es schafft, ihre Heldinnen strahlen zu lassen, unter dem Motto: Anderssein ist eine Stärke, die wir nicht in der Schule oder von unseren Eltern lernen. Carina Scherer

Kerstin Brune „Die Jahre des Maulwurfs“ ( Penguin, 464 S., 22 Euro ) 

Die kranke Frau 
Patriarchalen Mythen, die die westliche Medizin bis heute prägen, spürt die Kulturhistorikerin Elinor Cleghorn in „Die kranke Frau“ nach. Beginnend in der Antike erzählt sie von wandelnden Gebärmüttern, Geburtsschmerzen, Verhütung, Fehldiagnosen und Ignoranz gegenüber dem weiblichen Körper durch Mediziner. Ihr Blick ist dabei eurozentrisch, dennoch gelingt es ihr auch, das Zusammenspiel von Rassismus und Klassismus aufzuzeigen, z. B. in Bezug auf den Mythos, dass Schwarze Frauen weniger Schmerzen empfänden, und die grausamen Experimente, die damit gerechtfertigt wurden. Auf fast fünfhundert Seiten eilt Cleghorn durch die Jahrhunderte, natürlich gelingt dabei nur eine Übersicht. So handelt sie
den Zeitraum von der Antike bis ins 19. Jahrhundert in einem Kapitel ab. Doch gleichzeitig eignet sich das Buch so gut als Einstieg und Überblick zur Medizingeschichte, noch dazu aus einer feministischen Perspektive. Elinor Cleghorn beschließt ihr Buch mit ihrer eigenen Krankheitsgeschichte: Sie hat die Autoimmunkrankheit Lupus, an der vor allem Frauen erkranken und die bei ihr jahrelang nicht diagnostiziert wurde, was sie fast das Leben kostete. Diese persönliche Motivation, sich mit der weiblichen Sozialgeschichte von Krankheit auseinanderzusetzen, verstärkt den Appell des Buches: Geschichte zu hinterfragen, um die Zukunft für Frauen zu verändern. Holle Barbara Zoz

Elinor Cleghorn „Die kranke Frau. Wie Sexismus, Mythen & Fehldiagnosen die Medizin bis heute beeinflussen“
( Aus dem Englischen von Anne Emmert & Judith Elze. Kiepenheuer & Witsch, 496 S., 25 Euro ) 

Die Diversität der Ausbeutung
Rassismus abschaffen! Aber wie? Vorurteile von Einzelnen abzubauen und auf Repräsentation von Diskriminierten zu pochen reicht nicht, meinen die Herausgeberinnen dieses Bandes. Denn Rassismus ist eng mit Kapitalismus verwoben. In neun Aufsätzen zeigen verschiedene Autor*innen, wie Staat und Kapital ihre Interessen mithilfe von rassistischer Ideologie durchsetzen. Früher ermöglichten deutsche Gesetze Kolonien, heute organisiert das EU-Grenzregime die rassistische und sexistische Arbeitsteilung: Ost-/Südeuropäer in Produktion (Bau, Fleischfabrik), Migrantinnen in Reproduktion (Pflege). Neben diesen beispielhaften Analysen geht es u. a. um die rassistische Geschichte der Polizei oder ideologische Strömungen der Rechten. Mit einigen starken Beiträgen liefert das Buch erste Fragmente einer aktuellen historisch-materialistischen Perspektive auf Rassismus in Deutschland. Manch wichtige Themen, wie Rassismus in der NS-Zeit, wer- den nur angerissen, andere, wie Rassismus in der DDR, gehen ganz unter. Doch alles in allem bietet dieser Sammelband eine wertvolle Vertiefung hiesiger Debatten um Rassismus. Das Buch setzt da an, wo autobiografische Anekdoten antirassistischer Beststeller meist enden. Es hebt die besondere Unterdrückung und Überausbeutung rassifizierter Menschen hervor, welche oft hinter allgemeiner Kapitalismuskritik verschwinden. Auf Grundlage dieser Sammlung lassen sich antirassistische und antikapitalistische Kämpfe hoffentlich bald nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis verbinden. Sevda Can Arslan

Eleonora Roldán Mendívil & Bafta Sar- bo (Hg.) „Die Diversität der Ausbeutung. Zur Kritik des herrschenden Antiras- sismus“ ( Dietz Berlin, 196 S., 16 Euro ) 

Denk dir die Stadt 
Es ist bereits der zweite Erzählband der 1980 geborenen, in Sarajevo lebenden Schriftstellerin und Theaterautorin Lejla Kalamujić, der jetzt auf Deutsch erschienen ist. Sie gilt als eine der wichtigsten Stimmen der jüngeren bosnischen Literatur und dies zu Recht. Erneut entfaltet sich in den kurzen Erzählungen ihr ganz eigener Ton, mit dem sie den oft schweren Themen wie Tod, Krieg, Verlust oder Trauma begegnet: klar, empathisch, berührend, ein Funken Witz und Selbstironie, eine schimmernde Hoffnung, doch nicht besänftigend. Aber auch um ersehnte und enttäuschte Liebe, das Platzen von Träumen geht es. In oft eher kurzen Sätzen, einer schnörkellosen Sprache sitzen die Worte genau, wendet Kalamujić ihre Bilder und Motive, sodass deren Vielschichtigkeit aufscheint. Den Frauen, queeren Menschen, den Alten im Abseits, psychisch wankenden, den Migrant*innen gilt ihre Aufmerksamkeit und Wärme, die ihr ganzes Erzählen durchziehen. Und immer wieder sind da die Tiere, viel verraten die Menschen von sich in ihrem Umgang mit ihnen. Immer nah an ihren Figuren erzählt Kalamujić auch von der gesellschaftlichen Atmosphäre, in der sie Leben versuchen, ihnen Leben verwehrt wird, sie hoffen, scheitern, weitermachen. Eine (noch) zu unbekannte Autorin, der viele Leser*innen zu wünschen sind! Carola Ebeling

Lejla Kalamujić „Denk dir die Stadt“ ( Aus dem Bosnischen von Marie Alpermann. eta, 88 S., 17,90 Euro ) 

Frenemies 
Ist Zionismus Teil des Kolonialismus? Können Linke rassistisch sein? Geht die Justiz härter gegen Antisemitismus vor als gegen Rassismus? Solche Fragen haben sich die Herausgeber*innen Meron Mendel, Saba-Nur Cheema und Sina Arnold gestellt. Alle drei setzen sich intensiv mit Antisemitismus, Rassismus und Identitätspolitik auseinander. So haben sie über verschiedene wie vereinende Wege erkannt: Es braucht einen neuen Sammelband Ein Buch über Freund-Feind*innenschaft: „Frenemies“. Der Sammelband beschäftigt sich mit einer großen Frage: Warum
stehen sich die Kritik an Antisemitismus und die Kritik an Rassismus, obwohl sie so ähnliche Ziele verfolgen, immer wieder feindselig gegenüber? „Frenemies“ bringt unterschiedliche Perspektiven zusammen und stößt eine längst überfällige Diskussion an. Gespräche über diese Themen ähneln leider meist einem Reviermarkieren – wer kann lauter bellen? Darum hat dieses Buch das Anliegen, endlich einen produktiven, respektvollen Streitraum zu schaffen. Ich möchte es denjenigen, die für Durchblick brennen, schwerstens ans Herz legen. Maddalena Bertassi

Meron Mendel, Saba-Nur Cheema & Sina Arnold (Hg.) „Frenemies. Antisemitismus, Rassismus und ihre Kritiker*innen“ ( Verbrecher, 250 S., 20 Euro ) 

Mehr als binär 
Im letzten Jahr hat Alok Vaid-Menon mit dem Poetry- und Comedyprogramm „An Evening With ALOK“ weltweit Säle gefüllt. Im Publikum überwiegend Queers, die mitlachten und -weinten, sich gesehen und verstanden fühlten. Dasselbe Gefühl erzeugt vermutlich bei vielen Menschen auch die Lektüre von „Mehr als binär“. Das erstmals 2020 als „Beyond The Gender Binary“ erschienene Buch wurde kürzlich von Linus Giese („Ich bin Linus“) und Charlotte Milsch (u. a. „Literarische Diverse“ und „Transcodiert“) sorgfältig ins Deutsche übertragen und im neu gegründeten Katalyst Verlag für junge Literatur herausgegeben. Komplett neu illustriert wurde es dafür mit prachtvollen Alok-Porträts von Julius Thesing („You Don’t Look Gay“). Eindrücklich und anschaulich schreibt Alok aus der Perspektive einer nicht-binären Person of Color darüber, wie es ist, in keine der gesellschaftlich vorgegebenen Kategorien zu passen, über die Abwertung, mit der gendernonkonforme Menschen konfrontiert sind, welche Unannehmlichkeiten sie für „die Mehrheitsgesellschaft“ vermeintlich verursachen und mit welchen Argumenten ihre Existenz immer wieder infrage gestellt wird. Alok legt dar, wie wichtig, bereichernd und alternativlos es ist, über Binarität hinauszudenken, Vielfalt zu feiern und die eigene Identität zu erkunden. Dabei richtet sich das Buch auch an Menschen, die darüber noch nicht so viel nachgedacht haben: „Es wird sehr viel über uns gesprochen, doch sehr wenig mit uns.“ Auch die Lektüre kann ein Anfang sein. Sie ist in jedem Fall ein wichtiges Plädoyer, in einer Welt, in der man zwar „Sei unbedingt du selbst!“ nahegelegt bekommt. Jedoch gleich gefolgt von: „Aber bitte nicht so.“ Carla Heher

Alok Vaid-Menon „Mehr als binär“
( Illustriert von Julius Thesing. Aus dem Englischen von Linus Giese. Katalyst, 108 S., 19 Euro, ab 14 Jahren ) 

Olga Benario Prestes 
Olga Benario Prestes war Kommunistin und wurde 1942 von den Nazis ermordet. Über ihre Lebensgeschichte ist jetzt ein weiteres Buch erschienen: Die Autorin ist die Historikerin Anita Leocádia Prestes – die Tochter von Olga Benario Prestes. Sie wurde ihrer Mutter im Alter von 14 Monaten entrissen und hat so- mit keine eigenen Erinnerungen an diese. Sie nähert sich ihr historisch durch Briefe, die seit der Öffnung des Gestapo-Archivs als neue Materialien vorlagen. Dies sind zum einen Briefe, die Olga Benario Prestes schrieb: an Behörden und Familie, Liebesbriefe an ihren Ehemann, aber auch Briefe, die sie erhielt oder die ihr verwehrt blieben. Anita Leocádia Prestes verwebt diese Schriftstücke der Verzweiflung, des Kampfes und der Hoffnung zu einer Erzählung, die uns die letzten Jahre ihrer Mutter neu vor Augen führt. Aufenthalte in Schutzhaft, später im Frauengefängnis in der Barnimstraße in Berlin, wo Olga ihre Tochter zur Welt bringt, bis zum KZ Lichtenberg machen diese Tortur der Olga Benario Prestes aus. In einem abschließen- den Interview schildert Anita Leocádia Prestes ihre Motivation zur Niederschrift. Ihr sachlichnüchterner Ton ist dabei ihre stärkste Waffe – sie nimmt uns mit, ohne Effekthascherei, und zeigt die Grausamkeiten des NS-Regimes. Michaela Drenovaković

Anita Leocádia Prestes „Olga Benario Prestes. Eine biografische Annäherung“ ( Aus dem Portugiesischen von Coletivo Tropeção. Verbrecher, 140 S., 16 Euro ) 

Lügen über meine Mutter
Hunsrück in den 1980er-Jahren: Immer wieder wird die Mutter der Protagonistin Ela von ihrem Vater für ihr Körpergewicht angegangen. Sie sei nicht nur zu dick, sondern verhindere mit ihrem Körper auch seinen Erfolg – sowohl beruflich als auch privat. Auch Ela hadert immer wieder mit dem Aussehen ihrer Mutter. Als ihre Mutter viel Geld erbt, ist es der Vater, der ein großes Haus bauen lässt und sich einen Sportwagen kauft. Elas Mutter nimmt in der Zwischenzeit das Nachbarkind als Pflegekind auf und pflegt auch ihre eigene Mutter. Neben der Erzählung aus kindlicher Sicht bearbeitet die Autorin das Geschehen aus heutiger Perspektive der erwachsenen Protagonistin, sei es in Gesprächen mit der Mutter, gesellschaftlichen oder historischen Einordnungen und Kommentaren. Die Schikanen des Vaters sind beklemmend und gleichzeitig erinnern sie beim Lesen daran, welches Bild von dicken Menschen in unserer Gesellschaft vorherrscht. Die Autorin Daniela Dröscher schafft es aber auch, weitere gesellschaftliche Probleme zu thematisieren, etwa die Last von Care-Arbeit, Machtverhältnisse in Beziehungen sowie finanzielle Abhängigkeiten. Das Ganze sprachlich ansprechend – und mit einem Ende, das die Leser*innen vielleicht doch ein wenig zum Lächeln bringt. Lisa-Marie Davies

Daniela Dröscher „Lügen über meine Mutter“ (Kiepenheuer & Witsch, 448 S., 24 Euro)

Die Antwort 
Anna steht ihrer Schwester Margot nicht besonders nahe, sie leben weit entfernt voneinander in verschiedenen Bundesstaaten der USA, Margot hat einen kleinen Sohn, Anna ist seit Kurzem schwanger. Doch dann hat Margot eine Fehlgeburt und spricht offen mit Anna darüber. Durch dieses Gespräch nähern sich die beiden nicht sofort an, doch es öffnet einen Raum für viele andere Gespräche und Geschichten. Etwa die von Elizabeth, die eine lange zurückliegende Fehlgeburt verdrängt, die von Corrie, die als Teenager abtrieb, die von Marisol, die eine Eizelle spendete. Und letztlich die von Anna selbst, die eine stille Geburt erleben wird – wie auch schon ihre eigene Mutter. Es sind Geschichten über Erfahrungen von Schwangerschaft und reproduktive Rechte, Geschichten über Scham und Abhängigkeiten. Über Erfahrungen, die allgegenwärtig sind, über die aber kaum gesprochen wird. Die Autorin Anna Hogeland ist Psychotherapeutin und so lesen sich die einzelnen Geschichten auch, die den Charakter von Beichten haben – etwas, das man einer Fremden, die man nie wieder sehen wird, nachts in der Bar erzählt. Doch die Figuren überwinden ihre Scham und finden so zu Solidarität, zu einer gemeinsamen Sprache. Und vielleicht regt ja dieses Buch dazu an, noch viel mehr, noch vielfältigere dieser Geschichten zu erzählen. Anna Mayrhauser

Anna Hogeland „Die Antwort“ ( Aus dem Englischen von Britt Somann-Jung. Ullstein Verlag, 336 S., 23 Euro ) 

Dieser Artikel erschien zuerst in der Missy 06/2022