Von Noemi Y. Molitor

Etel Adnan blickte auf ein fast hundertjähriges Leben zurück, als 2020 ihr letztes Buch „Die Stille verschieben“ im Original erschien. Die US-amerikanisch-libanesische Schriftstellerin war auch Künstlerin, ebenso Dichterin, Journalistin, Philosophin und Kommentatorin des politischen Zeitgeschehens. Ihr Leben verbrachte sie in Beirut, wo sie 1925 geboren wurde und in das sie immer wieder zurückkehrte, in Paris, wo sie studierte und immer wieder wohnte, und in Sausalito, Kalifornien, wo sie lehrte und ebenfalls immer wieder lebte. Aus ihrer Literatur, ihren Essays und Kunstwerken spricht auf unterschiedliche und doch miteinander verwobene Weise eine klare politische Haltung. Mit dieser beschrieb Adnan die Auswirkungen von Kolonialismen und Kriegen, Klassendenken und Umweltzerstörung, Sexismus und Okzidentalismus im großen geopolitischen Ganzen und erkannte sie ebenso in mikrokosmisch kleinen Alltagspraxen.

In ihrem Werk nahm sie vieles vorweg, das transnationale Feminist*innen heute wieder diskutieren, z. B. die Abschaffung nationaler Grenzen und die globale Bewegungsfreiheit. Auch in „Die Stille verschieben“ fordert sie uns zu planetarischem Denken auf, zu einer Solidarität, die sowohl antikolonial, antikapitalistisch als auch ökofeministisch gelesen werden kann. Ein Denken, das mit dem neuen feministischen Materialismus verwandt ist, der die Trennung zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Wesen infrage stellt. Adnan kennt die Lebendigkeit der Steine, die Macht des Wetters, die ewige Präsenz der Gezeiten. Ihre Hinwendung zu indigenen Wissenstraditionen, die unsere untrennbare Verbindung mit der Natur anerkennen und aus dieser eine Ethik entwickeln, ist für aktuelle Fragen der Umweltgerechtigkeit wegweisend. Adnan praktizierte, was sie erdachte. Oder mehr noch: Die Erfahrungen mit ihrer unmittelbaren Umwelt und ihre sensible Wahrnehmungsgabe für zwischenmenschliche Dynamiken und Verbindungen zwischen den Spezies, aber …