Missy Magazine 06/22, Musikrezis

Souad Massi
„Sequana“
( Backingtrack Production )

„Dessine-moi Un Pays“ heißt der erste Song auf Souad Massis zehntem Album. Begleitet von anmutigen Gitarren- und Geigenmelodien singt die algerische Musikerin davon, ein Land zu erschaffen, indem alle frei leben können. Sie weist auf die Gefahren von totalitären Regimen hin und singt über die glühende Hoffnung auf Freiheit der Menschen, die die Risiken der Flucht auf sich nehmen. Mit Exil und Flucht hat Massi eigene Erfahrungen: Als junge Musikerin erhielt sie Morddrohungen und emigrierte von Algerien nach Frankreich. Die Sängerin reflektiert aktuelle politische und persönliche Themen, Geschichte und Zukunftsvisionen geleitet von einer klaren Note der Hoffnung und des Widerstands. Diese erklingt in bekannt warmer Stimme sowohl auf Französisch als auch auf Arabisch. Musikalisch erweitert Massi ihre Palette. Ihren Wurzeln in algerischer Chaâbi-Tradition und Folk fügt sie neue Quellen der Inspiration wie brasilianischen Bossa Nova auf „L’Espoir“ hinzu und wagt sich in Rock-Terrain mit „Twam“. Dazu passend betitelt Souad Massi das Album nach der gallisch-romanischen Göttin der Quellen des Flusses Seine. „Sequana“ birgt keine Überraschungen und beweist, dass die Künstlerin ihren Stil gefunden hat, ist aber dennoch Dokument ihrer erfrischenden Offenheit für neue Einflüsse. Liv Toerkell 

Missy Magazine 06/22, Musikrezis

MIMMI
„Titanic“
( Subsonic Society )

Wie groß darf das „Art“ in Art-Pop geschrieben sein, um nicht nur Kopf, sondern auch Herz zu berühren? Diese Frage müsste Mimmi Tamba gut beantworten können. „Titanic“ ist nämlich der zweite Teil der Trilogie „Shadow Work“ und folgt auf „Semper Eadem“, das im Zeitkolorit von Königin Elisabeth I. gefärbt war. Klingt komplex, ist es vielleicht auch. Aber die wahre Kraft und auch Schönheit dieses Sounds liegt in der Unmittelbarkeit, die diese Platte in all ihren Chamäleonfärbungen beibehält. Besonders intensiv wird es, wenn MIMMI in „Nothing“ ein Zelt in der Hörmuschel des Publikums aufzuschlagen scheint. Aber auch unter dramatischen Orgeln („Ann Nicole“), vielschichtigem R’n’B („Tonight“) oder dem Hit der Platte „Switch“ ist immer eine gewisse Bindung spürbar, eine Projektionsfläche für Künstlerin und Hörer*in zugleich. Klar, das ist stellenweise samt all den Rhythmusverschiebungen und Stimmungsbildern fordernd, gleichzeitig aber auch immer überraschend zugänglich und gefühlvoll. Und alleine für das achtminütige Epos „Everybody Else“, das nahezu majestätisch durch einen Wald aus Selbsterkenntnissen und Sounds schreitet, lohnt sich die Auseinandersetzung mit dieser Künstlerin. Großes Kino, das erklärt, wieso Tamba nur folgerichtig bereits für renommierte norwegische Musikpreise nominiert wurde. Julia Köhler 

Missy Magazine 06/22, Musikrezis

WILLOW
„Coping Mechanism“
( MSFTS Music/Roc Nation )

WILLOW hat nicht nur die Hälfte ihres gut zwanzigjährigen Lebens in der Musikindustrie verbracht. Sondern dabei auch schon mehr Genres durchlaufen als die meisten Musiker*innen in ihrer gesamten Karriere. Nach ihrem schlagartigen Hit mit nur neun Jahren – dem Pop-Rap-Sound auf „Whip My Hair“ – feilte Willow ihre Teenjahre lang erst mal an experimentellem R’n’B und Bedroom- Pop. Eingängigkeitspotenzial war dabei meist Nebensache. Dann feierte sie gemeinsam Tik- Tok-Viralität mit Tyler Cole als Duo The Anxiety und lieferte mit „Lately I Feel EVERYTHING“ überraschend ein pop-punkiges Emo-Album. Mit „Coping Mechanism“ knüpft WILLOW diesmal an den Sound des Vorgängers an. Der Name der Platte programmatisch: Ungesunde emotionale Bewältigungsstrategien ziehen sich als Thema durch das gesamte Album. Auf „‚Maybe‘ It’s My Fault“ steigern sich punkige Drum-Patterns und Metal-Riffs zusammen mit WILLOWs Overthinking im Beziehungsstreit um die Wette. Für den düstersphärischen Alt-Rock-Track „Perfectly Not Close To Me“ hätte sie sich niemand Besseren als Yves Tumor aufs Feature holen können. Nach ihrer Teenage Angst vertont WILLOW nun die emotional überwältigenden Anfang-Zwanziger: Beziehungskrisen, Anxiety, Depression. Sie glänzt mit der gesamten Range ihrer Stimme, wenn sie sich sowohl in die Katharsis screamt als auch an melodisch- poppige Parts anschmiegt. Moshpit und Wei- nen im Bett – funktioniert beides gleich gut mit „Coping Mechanism“. Sophie Boche 

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Vanessa Wagner
„Mirrored“
( InFiné, VÖ 25.11. )
 
Minimalistische Klaviermusik eröffnet immer wieder die Möglichkeit, sich ganz darin zu verlieren. Vanessa Wagner bietet hierfür auf ihrem vierten Werk „Mirrored“ eine gelungene Auswahl. Als klassisch ausgebildete Pianistin ist sie in den renommiertesten Konzertsälen der Welt zu Hause und wurde vielfach mit Preisen aus- gezeichnet. Doch ihr bisheriges Schaffen zeugt davon, dass sie immer wieder Möglichkeiten sucht, ihr Klavierspiel mit anderen Genres zu verbinden. So fand bspw. ihre Zusammenarbeit mit dem Elektronikmusiker Murcof 2016 begeisterte Hörer*innen. Ihr facettenreiches Spiel, ihre präzise Technik und ihr Gespür für Klang sorgen dafür, dass ihre Musik zeit- und raumlos wirkt. Auf „Mirrored“ wählt sie Werke von Philip Glass, Nico Muhly, Moondog, Leo Ferré und Camille Pepin, die ihre Vielfältigkeit hörbar machen. Die Debütsingle „The Poet Acts“ von Philipp Glass ist gleichzeitig der Opener des Albums. Kraftvolles Spiel und filigrane Töne wechseln sich ab, gehen ineinander über und lösen sich voneinander. Die Musik erzeugt Bilder, zieht eine*n in den Klang hinein und lässt eine*n träumen. Jedes Stück ist wie eine kleine Pause vom Alltag und so passen sie perfekt zu den ruhigeren Tönen eines gemütlichen Herbstes. Lina Niebling 

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TSHA
„Capricorn Sun“
( Ninja Tune )

In der griechischen Mythologie zeichnen das Sternzeichen Steinbock ein Ziegenoberkörper und ein Fischschwanz als Unterleib aus. Land und Wasser vereinen sich organisch, lassen aber erkennen, dass zwei verschiedene Seiten die Figur antreiben. Von diesem Bildnis geleitet verbindet die Londoner Produzentin und DJ Teisha Matthews alias TSHA auf ihrem Debüt „Capricorn Sun“ in den zwölf Tracks immer wieder Dinge, die zunächst zu konträr oder zu komplex wirken – doch ungezwungen gibt sie den Storys Raum. Da ist etwa „Dancing In The Shadows“, das mit Clementine Douglas’ verletz- licher Stimme und klassischem Four-to-the- Floor-Disco-Beat Popgelüste erfüllt. Doch statt sich den Träumen wie The xx in ihrer Hochphase hinzugeben, baut sich durch Bässe eine dringliche House-Kulisse auf. Die von Bonobo inspirierte Musikerin mit jamaikanischen Wurzeln schafft mit
„Water“ einen fließenden Afro-House-Track, der die Leichtigkeit von Füßen im Sand transportiert. Gleichzeitig wollen Hörer*innen der dunklen Klangfarbe des Gesangs folgen, der von der malischen Feministin Oumou Sangaré stammt. Sangarés dreißigjähriges Bestreben, Autonomie für Frauen in Westafrika zu fordern, bringt TSHA nahtlos auf eine inklusiv klingende Tanzfläche wie auch ihre Beziehungsprobleme mit Partner Mafro („Giving Up“) oder eine zarte Reflexion über Familienbande („Sister“). Yuki Schubert 

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Meskerem Mees
„Caesar“
( May Way Records )
 
Meskerem Mees sticht aus der Masse der Folk- Musiker*innen hervor. Das 2021er-Debütalbum „Julius“ bescherte ihr ausverkaufte Konzerte sowie den Montreux Jazz Award und den Music Moves Europe Award. Nun erscheint mit der EP „Caesar“ eine Mischung aus alten und neuen Songs, die vermuten lässt, dass es sich um eine Vervollständigung des Debüts handelt. Und tatsächlich fängt Meskerem Mees die Zu- hörenden mit ihrem unverwechselbar warmen und zarten Klang direkt wieder auf. Allein das Nadelkratzen am Anfang von „The City“ lädt zum Zurücklehnen und Lauschen ein. Wenn sie in „Best Friend“ davon singt, wie sie zu Schulzeiten versuchte, eher unsichtbar als cool zu sein und nun „nobody’s baby and everyone’s best friend“ ist, wippt der Fuß unweigerlich mit. „Try You Might“ und „Away The Sparrow Flies“ sind pure Gänsehautsongs und „Charlemagne“ umarmt mit Fürsorge und Witz. Die Coverversion von „Cod Liver Oil And Orange Juice“ bildet mit dem Gedicht „Great Dandelion“ den Abschluss dieser viel zu kurzen poetischen Platte. Wer kein Ticket zu den diesjährigen Konzerten ergattern konnte, kann und sollte sich definitiv auf ARTE die „Nuits de Fourvière“ im antiken Theater von Lyon anhören. Avan Weis 

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Aoife Nessa Frances
„Protector“
(PIAS)

Aoife Nessa Frances ist eins geworden mit der Natur. Ihr zweites Album „Protector“ hat sie auf dem Land aufgenommen, im Westen Irlands, der für beeindruckende Steilküsten bekannt ist. Der Einfluss der ländlichen Umgebung ist unüberhörbar. So wie sich kühle Abendluft in das Ende eines Oktobertags schleicht, wandert Aoife Nessa Frances’ Stimme ins Ohr. Ihr mäandernder Gesang zieht durch die Songs wie Zugvögel, die sich zum Abflug sammeln. Sie singt von Halbmondlicht und frühen Morgen, dem Horizont und Sonnenuntergang. Kaum ein Song kommt ohne Naturbezüge aus. Die Grenzen zwischen ihr und der Umgebung scheinen ähnlich zu verschwimmen wie ihre Worte, die sie in gebundenen Noten singt – eingebettet in wabernde Synthesizerklänge und E-Gitarren-Akkorde, die den Psych- und Folk-Rock der 1960er- und 1970er-Jahre nachzeichnen. „Protector“ ist ein in sich geschlossenes Werk, dem es aber nicht an herausstechenden Höhen und Tiefen fehlt. Frances’ sagt über den Entstehungsprozess, sie habe die ländliche Abgeschiedenheit gebraucht, um sich besser wahrnehmen zu können. In der Ruhe konnte sie sich selbst besser hören und den titelgebenden „Protector“ – ihren inneren Antrieb, sich selbst zu schützen – wachsen lassen. Raum zu wachsen und zu heilen lässt auch ihr Album. Maria Preuß 

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Okay Kaya
„SAP“
( Jagjaguwar )
 
Okay Kaya bewegt sich Runde um Runde tiefer in ihr Unterbewusstsein und geht dabei jeder Unsicherheit auf den Grund. „SAP“ ist ein Konzeptalbum durch und durch – eines, das Freud sicher gefallen hätte, wenn er darüber hinwegkommen würde, dass hier eine absolute Powerfrau am Werk ist, die für ihre Form der Psychoanalyse keinen Typen braucht, sondern ein paar Synthesizer und Soundboards. Für dieses experimentelle, ruhige Ambient-Pop-Album hat sich Okay Kaya so weit zurückgezogen, dass sie teilweise wochenlang niemanden zu Gesicht bekam. Ihre selbstkritischen Zwiegespräche lässt sie ganz ungehemmt fließen. Nach ihrem Debüt 2020 hat die New Yorkerin in Europa mit verschiedenen musiktherapeutischen Installationen gearbeitet. Berlin inspirierte sie zum Song „Spinal Tap“, in dem Traumwelten den Ton angeben. Das Abtauchen in abstrakte Gedanken oder surrealistische Bilder ist DAS Stilmittel ihrer Lyrik. Immer wieder wechselt Okay Kaya vom Rationalen in abstruse Bilder, die ihre Gedankenwelt ein wenig nach- vollziehbarer machen. Dazu spielt sie mit dem harten Kontrast ihrer weichen Kopfstimme und der raspeligen, eher tonlosen Bruststimme. Doch „SAP“ ist auch ein hartes Stück Arbeit für alle Hörer*innen, denn die hochsensiblen Inhalte, die Harmonien und Chöre stellen auch zahlreiche Fragen. Okay Kaya liefert also den Soundtrack und eine Anleitung für eine psychoanalytische Session am Plattenspieler. Rosalie Ernst 

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Mykki Blanco
„Stay Close To Music“
( Transgressive Records/PIAS )

Seit zehn Jahren prägt Mykki Blanco queeren HipHop wie niemand sonst und doch fliegt Mykki offenbar nach wie vor unter dem Radar eines größeren Publikums. Vielleicht ist deren genreüberschreitende Performance für Purist*innen too much? Möglich, aber selbst die könnten nun dem
Charme von „Stay Close To Music“ erliegen. Auf 13 Tracks tritt Mykki melodiöser denn je auf, mit viel Glam und Gefühl in der Stimme, nimmt sich mehr Raum, sing-talkt und rappt sich durch die komplexe, aber eingängige und berührende Produktion von FaltyDL. Für dieses Album wollte Mykki Blanco ein eigenes musikalisches Universum erfinden, bei null anfangen, so der PR-Text. Wollen das nicht alle, denke ich beim Lesen, aber beim Hören des Albums wird klar: Es stimmt. Mykkis sechstes Album wird selbst zum Referenzsystem. Ein Liebling ist der Track mit Ah-Mer-Ah-Su, „Your Feminism Is Not My Feminism“, einer zarten, aber entschlossenen Anti-TERF-Hymne. Aber auch die weiteren Features können sich sehen lassen, mit Gäst*innen wie Kelsey Lu, ANOHNI, Michael Stipe, Saul Williams, Jónsi und Devendra Banhart, um nur die Bekannteren zu nennen. Trotz großer Vielfalt klingt alles aus einem Guss. Auf Twitter sagte Mykki Blanco, dey wolle als Pionier*in nicht auf späte Blumen warten, dey want them now. Höchste Zeit! Rosen Ferreira 

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Nadine Khouri
„Another Life“
( Talitres )
 
Oh, diese herrliche Stimme: Auf ihrem zweiten Album pflegt und verfeinert die britisch-libanesische Singer-Songwriterin Nadine Khouri ihren minimalistischen Ansatz, der schon „The Salted Air“ von 2017 zu einer musikalischen Kostbarkeit machte. Die neun neuen Tracks scheinen in einer anheimelnd dunklen Zwi- schenwelt zu schweben, erinnern atmosphärisch an Mick Harvey, Danielle De Picciotto und die frühen Mazzy Star. Die Produktion von „Another Life“ lag wieder in den Händen von John Parish (PJ Harvey, Aldous Harding), der gemeinsam mit Khouri die Besonderheiten jedes Tracks herausschälte, ohne auch nur einen überflüssigen Ton hinzuzufügen. Kongenial kommen Saxofone, Bass, Drum Machine und Geigen zum Einsatz, begleiten Khouris warme, rauchige Vocals auf unaufdringliche und doch prägnante Weise. Aus dem Minimalismus der Arrangements entsteht eine überraschende stilistische Bandbreite, es genügen winzige Nuancen, um ein Stück in Richtung Americana, Blues oder Jazz auszuformen. Die Lyrics sind geprägt von den großen Themen der jüngeren Vergangenheit: Einsamkeit während des Lockdowns („Song Of A Caged Bird“, „Keep On Pushing These Walls“), Flucht und Migration („Box Of Echoes“) – und doch klingt „Another Life“ nie deprimiert, verbreitet stattdessen Hoffnung und Trost. Und wie bereits erwähnt, diese herrliche Stimme! Christina Mohr

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Chloe Moriondo
„Suckerpunch“
( Elektra Records )
 
„Weniger ist mehr“ ist auch nicht mehr als eine billige Floskel des Patriarchats, um marginalisierte Gruppen ruhig zu halten und ästhetische Normen vorzuschreiben. Das aktuell spannendste Subgenre, das sich dieser Haltung mit einem Megafon entgegenstellt, ist der Hyper-Pop. Und genau den spielt Chloe Moriondo auch vier Jahre nach dem Debüt on point. An „Suckerpunch“, dem dritten Album, ist deswegen von allem viel zu viel – und man muss es einfach lieben. Hier ein paar Hundegebell- Samples („Hell Hounds“), dort ein paar Meta- Lyrics mit Verbeugung zu Christina Aguilera und Britney („Popstar“) und da kommt auch schon eine Rekontextualisierung von „Barbie Girl“ durch die Tür („DRESS UP“). Der Clou: Selbst, wenn es mit bizarren Streichern und noch abgedrehteren Background-Vocals in das „Hotel For Clowns“ geht, bleibt der Sound eingängig und berauschend. Hörer*innen werden vielleicht Ähnlichkeiten zu Marina, Charli XCX und Ashnikko ausmachen, „Suckerpunch“ tanzt vor Kreativüberdruss aber von jeden Copy-Cat- Vorwürfen davon. Dafür will der Endorphinschwall gar nicht aufhören und reißt beim bebenden „Fruity“ genauso kompromisslos mit wie beim zweischichtigen „Plastic Purse“ oder den sanfteren Songs der Platte. Gegen den Herbst-Blues ist das hier die Eskapismusplatte der Saison. Julia Köhler 

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Björk
„Fossora“
( One Little Indian Records )

Genau wie auf dem Cover zu Björks zehntem Album, ist das eigentlich Faszinierende an Pilzen das, was unter ihren Fruchtkörpern lauert: ein komplexes Netzwerk aus normalerweise fast unsichtbaren Fäden – Myzelien oder „mycelia“ auf Englisch –, die sich ein bisschen wie das Gehirn des Waldbodens verhalten, aber nicht mit unseren Begriffen von einem „denkenden Bewusstsein“ einhergehen. Björk nimmt dieses dezentralisierte und dehierarchisierende Ideal organischer Verbundenheit und stellt es unserer verzerrten digitalen gegenüber: „To insist on absolute justice at all times / It blocks connection“, bringt sie björkig auf den Punkt. Die Künstlerin spürt vielen bedeutungsvollen Verbindungen auf „Fossora“ nach, was in etwa „die in der Erde Grabende“ bedeutet, den universalen, nicht- menschlichen, romantischen oder familiären. Auf „Ancestress“ verarbeitet sie den Tod ihrer Mutter, auf „Her Mother’s House“ fragt Björk nach ihrer eigenen Rolle als Mutter im Duett mit Tochter Isidora. Selbst klanglich ist das Album aufgebaut wie ein Fadenspiel. Stücke, die sich um schwelgerische orchestrale Kompositionen winden, an Gabber-Drums prismenartig aufplatzen, den Dissonanzen zum Trotz wieder zusammen- wachsen, während der Bass durchs Unterholz rumpelt. Jedes einzelne Element ist stets mit dem gesamten Organismus verknüpft. Denn nicht nur Pilze verbinden: „Hope is a muscle that allows us to connect.“ „Fossora“ ist so widerspenstig wie kaum ein Björk-Album in dreißig Jahren, trotzdem eins der besten. Visionärer Pop im Zeitalter des Anthropozän. Sonja Ella Matuszczyk 

Dieser Artikel erschien zuerst in der Missy 06/2022