Wie lässt sich eine Sprache für Erfahrungen von Flucht, Exil und Heimatlosigkeit finden? Diese Frage stellte Volha Hapeyeva, die 2022 mit dem WORTMELDUNGEN-Literaturpreis ausgezeichnet wurde, jungen Autor:innen.

Juli Mahid Carly, Irina Nekrasov und Jonë Zhitia haben darauf eindrucksvolle Antworten gefunden. Ihre Essays, die Missy in Kooperation mit der Crespo Foundation veröffentlicht, wurden mit dem WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Förderpreis für kritische Kurztexte ausgezeichnet. Die Erfahrung einer Existenz des Dazwischen, der Heimatlosigkeit, der Nicht-Zugehörigkeit verbindet die Texte. Juli Mahid Carly sampelt orientalische Klischees und popkulturelle Referenzen, Irina Nekrasov betreibt am Rande des Fiktiven eine Spurensuche über Generationen hinweg und Jonë Zhitia schreibt über die Überforderung des ständigen Dazwischen-Seins und die Suche nach einer Heimat in der Sprache.

© J. Schöttler

Irina Nekrasov (*1993 in Tscheljabinsk) studiert Kulturwissenschaften und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Irina ist Teil des Autor_innenkollektivs PMS Postmigrantische Störung. Veröffentlichungen u.a. in der „Anthologie Solidarisch gegen Klassismus“.

 

Marijam

In meiner Kindheit war es üblich, dass wir am Abend nach dem Essen noch mit Schwarztee und Gebäck den Geschichten unserer Mutter zuhörten. Während des Essens mussten wir schweigen (Когда я ем – я глух и нем) und auch danach stellten wir keine Fragen. Wir tunkten Prjaniki in den Tee, während sie die Geschichten auf unserem dunkelblauen Küchentisch ausbreitete. Geschichten über Großonkel und Großtanten, über Klassenkameraden und Geschwister, über die Großeltern und Nachbarn. Über Kriege, Gefängnisse, Reaktorunfälle, Gulags, übers Tanzen gehen und Verlieben. Sie erzählte ohne zu kontextualisieren, zu erklären, wieso etwas kam, wie es kam, woher es kam, sie erzählte auch, ohne es kindgerecht zu machen.

Es war also üblich bei Gebäck und Tee den Traumata zu lauschen und sich dabei Landschaften und Städte vorzustellen, die man nie gesehen hatte. Eine Geschichte ließ meine Mutter aber lange aus. Erst als sie eingebürgert wurde, ich schon längst ein Teenager, der heimlich hinterm Schulgebäude rauchte und abends nicht mehr bei Tee am Tisch saß, tauchte meine Urgroßmutter auf.

Der Name meiner Mutter war Zaytuna. Zaytuna, arabisch für die Olive und den Olivenbaum. Jeder Brief, der in Deutschland an meine Mutter formuliert war, war ein Buchstabenanreihung, die ihren Namen in Stücke riss. Der Quellekatalog war stets adressiert an Herrn Zaytuna, ohne Nachnamen. Freund_innen und Verwandte nannten sie Zoya.

Als meine Mutter ihren deutschen Pass erhielt, hatte sie die Möglichkeit, ihren Vornamen zu ändern. Sie fiel in die Kategorie: falls es keine deutschsprachige Form des Vornamens gibt, statt dieses Vornamens einen neuen für deutsche Staatsangehörige gebräuchlichen Vornamen annehmen.

So kam es, dass sie eines Tages vom Amt wiederkam und verkündete, dass sie nun Marie hieß. Ich erinnere mich genau an mein Verwirrtsein und an meine Wut, Marie, der Name von all den Mädchen die mit ihren Blicken und ihren Sprüchen meine Schulzeit zur Hölle machten, Marie, statt Zoya, statt Zaytuna.

Marie, oder in seiner nicht deutschen Version, Marijam, das war der Name meiner Urgroßmutter. Meine Urgoßmutter tauchte in den Geschichten auf, als meine Mutter ihren Namen zurück in unser Zuhause brachte.

Marijam, die meine Urgroßmutter war, lebte in Tatarstan. Sie soll gebildet gewesen sein, hart und streng. Sie heiratete und bekam Kinder. Mit vieren von ihnen wurde sie vor etwa 90 Jahren unter Stalin deportiert. Danach kamen sie nie nach Tatarstan zurück, sondern blieben hinter dem Uralgebirge. Sie bekam mehr Kinder und verlor sie an Hunger, Kälte und Zwangsarbeit.

Als meine Mutter begann, von Marijam zu sprechen, tauchten immer mehr Bilder auf, die ich eigentlich schon kannte. Zum Beispiel von meiner Mutter, wie sie als Kind ihre Holzdielen schrubbte und dabei nicht aus den Augen gelassen wurde. Oder, wie sie Jahr um Jahr Aborte einleitete, indem sie vom Scheunendach sprang.

Als ich das erste Mal versuchte, von Marijam zu schreiben, war es aber eine andere Geschichte, die mich dazu brachte. Die mich nicht losließ und deswegen am Anfang meines Textes stand:

Marijam Syndokova hat zu Fuß, zu Pferd und mit dem Zug eintausendsiebenhundert und fünfzehn Kilometer zurückgelegt, um sicher zu stellen, dass Joseph Stalin tot war.

Nachdem ich diese Geschichte zum ersten Mal gehört hatte, schaute ich mir auf YouTube Videos seiner Beerdigung an. Farbaufnahmen von U.S. Army Major Martin Manhoff, von seinem Balkon aus sieht man unendlich lange Reihen von Soldaten. Zwischen den kleinen olivgrünen Figuren schwarze Pferde, die einen Sarg ziehen. Ich weiß nicht, ob meine Urgroßmutter jemals loszog, um sich Stalins Tod zu vergewissern. Tausende Menschen strömten damals zu seiner Beerdigung, einige Hunderte starben im Chaos der Massen. Überliefert ist aber, dass es ihr nicht darum ging, ihn zu betrauern. Sie wollte sicher gehen, dass sie und ihre Familie sicher vor ihm war.

Das Ausgraben von Familienmythen löst bei mir ein beklemmendes Gefühl aus. Ich schreibe aus einer Wohnung in Leipzig heraus, die 1939 gebaut wurde. Jahre nach der ersten Deportation von Marijam und ihrer Familie. Zwei Jahre bevor mein Urgroßvater väterlicherseits erschossen und meine russlanddeutsche Urgroßmutter mit meiner Oma auf dem Arm ebenfalls nach Sibirien deportiert wurde. Jede Geschichte, die ich ausgrabe, scheint mir Erklärungen zu liefern dafür, wieso meine Eltern waren, wer sie waren und wieso ich bin, wer ich bin. Und gleichzeitig sind es Mythen, die ich nicht belegen kann, die entweder an unserem dunkelblauen Küchentisch erfunden wurden oder die beim stille Post spielen verfälscht bei mir ankamen. Die durch drei Sprachen,  über zwei Länder und tausende Kilometer vielleicht gar keine Mythen mehr sind, sondern nur noch Anekdoten.

Im letzten Jahr fand ich einen Roman, der von einer tatarischen Bäuerin handelt, die während der Zwangskollektivierung in den 30er Jahren nach Sibirien deportiert wurde.‚Sulejka öffnet die Augen‘ von Gusel Jachina ist ein Beststeller, der in 35 Sprachen übersetzt wurde. Auf dem Cover ein Zitat der Zeitschrift BRIGITTE darüber, wie Jachina „die Stärke von Frauen in dunklen Zeiten“ feiert.

Jachina schreib ihren Roman in Gedanken an die Geschichte ihrer eigenen Großmutter. Ich kämpfte mich durch fünfhundert vierzig Seiten voller Kitsch, Romantisierung von Massendeportationen und Stalinismus, von angedeuteter struktureller Gewalt, die nicht aus erzählt wird. Ich habe beim Lesen die Geschichte meiner Urgroßmutter gesucht, habe Jachina gesucht und ihre Intentionen und Fragen, habe nach mir in dem Roman gesucht.

Beim Lesen rief ich ständig meine Mutter an und stellte Fragen. Zum ersten Mal waren meine Fragen präzise genug, um beantwortet zu werden. Meine Mutter hat viele Geschichten erzählt an unserem Küchentisch, aber Fragen stellen sollten wir nicht. Sie wollte selbst entscheiden, wie sie die Geschichten weitergibt, was bleibt und was verändert wird. Verändert man eine Geschichte oft genug, weiß man irgendwann nicht mehr, welche Version die richtige ist. Vor allem dann, wenn es niemanden gibt, der korrigieren kann, der sagen kann, das erinnerst du falsch. Die Menschen in ihren Geschichten waren entweder tot oder lebten hinter dem Ural. Die Onkel und Tanten waren zu weit weg, um zu korrigieren, sie waren einen teuren Fernanruf entfernt, diese Art Anrufe, für die man vorher Rabattcodes eintippt und bei denen man in den Hörer schreit. Sie entschied was erzählt wurde oder ihr Gedächtnis entschied es. Assimilation macht vergesslich, und Assimilation ist unsere Familientradition.

Der Roman endet mit Jusuf, einem Teenager, der auf einem Floß aus dem Gulag flieht in Richtung Leningrad. Er will Künstler werden und sieht dort seine Chancen. Er spricht russisch und französisch. Er ist der Sohn der Protagonistin Sulejka und ihres ermordeten Mannes, er ist Kind tatarischer Eltern. Bevor er auf das Floß steigt, gelingt es Sulejkas neuem Partner, Jusufs Geburtsurkunde zu fälschen und sich als Vater einzutragen. Sulejkas Partner ist Russe. Mit seinem Namen in der Geburtsurkunde wird Jusuf nach sowjetischem Gesetz Russe. Er steigt auf das Floß ohne die tatarische Sprache und ohne den tatarischen Vater.

Beim Bügeln sollte ich meiner Mutter immer Videokassetten in den Rekorder schieben. In raschelnder Qualität tauchten nacheinander Männer auf, die auf der Bühne hin und her gingen und Lieder sangen. Es wurde immer wieder auf ihr Gesicht gezoomt und wieder zurück, sie gingen von links nach rechts, von rechts nach links, die Kamera vor und zurück. Meine Mutter bügelte und sang dabei. Wir Kinder saßen auf dem Boden und warteten auf fertige Wäsche, die wir einsortierten. Ich verstand die Lieder nicht. Vor ein paar Jahren fand ich die Elektro-HipHop Band Aigel. Die Sängerin ist Tatarin, fast alle Lieder von ihr auf russisch. Ich spielte meiner Mutter einen tatarischen Song von ihr vor. Ich setzte mich vor sie und schaute gebannt auf ihr Gesicht. Ich studierte jede einzelne Regung. Ich suchte nach Anzeichen danach, ob sie die Worte wirklich verstand. Unser Tatarischsein ist durch so viele Assimilierungsprozesse gegangen, dass ich ihren Körper anstarrte und auf eine Reaktion wartete. Als wäre in ihr ein Beweis versteckt. Sie bekam den selben glasigen Blick wie beim Bügeln. Als das Lied vorbei war, fragte ich sie, wieso sie mir nie Tatarisch beigebracht hat. Aus glasig wurde verletzt, eine Sprache bringt man einem Kind nicht alleine bei, man braucht jemanden, mit dem man sie spricht, mit wem hätte ich sie sprechen sollen.

Suleijka, die Romanprotagonistin sprach kaum ein Wort russisch, bevor sie deportiert wurde. Sie war tiefreligiös. Ihrem Sohn brachte sie kein tatarisch bei. Gusel Jachina hat sich etwas dabei gedacht, wieso dieses Detail einbauen, wieso Jusuf kein tatarisch sprechen lassen, warum die Nationalität einrussischen? In ihrem Roman geht es nicht nur um die Zwangserziehung zum Sowjetmenschen, es geht auch darum, dass der Sowjetmensch russifiziert sein muss.

Das die Brüderlichkeit zwischen den hunderten von Völkern in der Sowjetunion letzten Endes trotzdem kategorisierte und hierarchisierte, darüber wird kaum gesprochen. Meine Schwägerin erzählt mir von ihrer Zeit im Kindergarten und in der Grundschule, in der sie alle „смуглая“ schimpften, ein Wort, dass ich in Anführungsstrichen setze, weil es nicht beschreiben soll, dass ihre Haut braun und ihre Haare schwarz sind, sondern weil es rassifiziert und abwertet. Rassismus und Antisemitismus gab es in der Sowjetunion institutionalisiert und individuell. Die Norm war weiß, blond, blauäugig, slawisch. In meiner Familie, in der alle braune Augen haben, wurde geschwärmt davon, dass in Russland die leben, die blaue Augen haben, als würde es unsere Augen verfärben, wenn wir nur fest genug daran glaubten. Jede Form von struktureller Gewalt funktioniert spezifisch abhängig von Raum und Zeit. In der Sowjetunion bedeutete sie, sprich russisch, finde ein russisches Äquivalent für deinen Namen, wenn es geht, heirate einen Russen, dann wird dein Kind dank der sowjetischen Nationalitätennomenklatur Russe. So entgehst du Alltagsdiskriminierung, verhinderst, dass du nicht an die Universität zugelassen wirst, vielleicht rettet es dich vor Deportation und Massenerschießung. Meine Mutter erzählt mir davon, wie in dem Dorf, in dem sie aufwuchs das Sprichwort galt: Bekomme lieber Besuch von einem Feind, als von einem Tataren.

Meine Urgroßmutter wuchs in einer großen Familie in der Nähe von Kazan auf. Nachdem die Haftzeit von ihr und dem Rest meiner Familie vorbei war, kamen sie in ein Dorf in der Nähe von Tscheljabinsk. Es war üblich, dass Deportierte nicht mehr in die Städte und Dörfer zurückkamen – teilweise wegen Verboten, teilweise weil das Geld für eine Reise nicht gereicht hätte. Sie waren die einzige tatarische Familie. Sie versuchten unauffällig zu fasten und unauffällig zu beten. In ihrem Haus war ein Koran versteckt, aus dem sie abends vorlas. Im Haus daneben wohnte meine Mutter als Kind.

Zaytuna, die Marie wurde, nicht Marijam, aber Marie, wurde von Freund_innen und Verwandten Zoya genannt. Die Deutschen betonten es wie die Sojabohne. Meine Mutter, die Zoya hieß, das war etwas, was ich nicht hinterfragte. Schließlich ist es das, was im Russischen mit Namen passierte, aus Evgenij wurde Zhenya, aus Oxana Xjuscha. Erst als ich zum ersten Mal Zaytuna in eine Suchmaschine tippte, fand ich es merkwürdig, dass ein arabisches Wort, ein tatarischer Name eine russische Abkürzung hatte. Ich rief bei ihr an und fragte, Mam, Zoya, das ist doch gar keine Abkürzung oder, und sie sagte, nein, natürlich nicht. Aber wer tut seinem Kind denn so etwas an, so etwas schlimmes und nennt es Zaytuna. Aber Mam, sagte ich, weißt du, was dein Name bedeutet, dass es die Olive ist, dass die Übersetzung Olivia wäre, und sie wurde kurz still und sagte dann, wieso hast du mir das nicht damals gesagt, dann hätte ich Olivia genommen.

Ich begann Wort und Wort zu durchsuchen, versuchte herauszuhören, welche Worte wurden russifiziert, ich fand immer mehr von ihnen.

Ich fand Namen, ich fand Redewendungen, ich fand чак-чак.

Чак-чак das war Teig anrühren aus Eiern, Mehl, Backpulver und Salz. Ihn kneten und dünn ausrollen. Mit einem scharfen Messer in dünne Streifen schneiden. Die dünnen Streifen  zerteilen, keine zwei Finger dick in kleine Teigplättchen. In heißem Fett frittieren, einen Sirup aus Honig kochen. Den frittierten Teig mischen in noch heißem Sirup und stapeln zu einem Hügel. Puderzucker über den Hügel streuen. Schwarzen Tee kochen. Zusammensitzen. Чак-чак war, einmal im Jahr zusammen kommen und dem Tod meiner Großmutter gedenken. Nur dass wir zuhause nicht чак-чак sagten, wir gaben ihm einen russischen Namen.

Spreche ich Russisch, stolpere ich immer wieder über Begriffe, die einen anderen Klang haben, die nicht slawisch klingen, die für mich aber lange eins waren, untrennbar, weil sich für mich meine Zuhausesprache ohnehin unterschied von meiner Draußensprache. Die Zuhausesprache war auch meine Geheimsprache, mit der wir im Supermarkt streiten konnten, mit der ich am Tisch mit Deutschen eine böse Bemerkung machen konnte. Ich kann nicht telefonieren, wenn andere im Raum sind, in meiner Zuhausesprache kann ich es, auch wenn dann jemand lacht und sagt: ich habe ein Wort verstanden, lustig, du hast ein deutsches Wort eingebaut in dein Sprechen. Die Zuhausesprache ist gespickt von deutschen Worten, die nicht mehr auffallen im Fluss, was ich aber nicht begriff, war, dass sie auch gespickt ist mit tatarischen. Die Auswahl war willkürlich, eine Mischung aus Koseworten, Flüchen, Möbelstücken und Gebeten. Bevor ich Prüfungen schrieb, Bismillah, wenn ich Albträume hatte, Bismillah, wenn das Auto nicht ansprang, sag Bismillah, spuck drei mal und sag Bismillah. Als Teenager besuchte ich als Tourist_in eine Moschee, es kamen Betende herein und sagten Bismillāhi r-raḥmāni r-raḥīm und ich zuckte zusammen, weil das meine Zuhausesprache war und ich dachte, meine Zuhausesprache heißt russisch.

Die erste Deportation meiner Urgroßmutter, ihres Mannes und ihrer Kinder fand im Zuge der Entkulakisierung statt. Kulak, das ist der wohlhabende Bauer. Das Land, die Geräte und die Arbeitskraft sollten in der jungen Sowjetunion verkollektiviert werden. Wer nicht mitmachte, wurde gezwungen. Eigentlich ein linker Traum, bis heute: Umverteilung. Tatsächlich wurden Menschen millionenfach deportiert, starben bereits bei den Transporten, wurden massenerschossen und entrechtet. Wer als „Kulaken“ klassifiziert wurde, war willkürlich. Es gab Quoten aus Moskau, die erfüllt werden mussten. Die Vernichtung von Bauern führte zu Hungersnöten, der Millionen Menschen zum Opfer fielen. Stalin nannte es die „Liquidierung des Kulakentums als Klasse“. In der Ukraine bezeichnet man diese Zeit der menschengemachten Hungersnot als Holodomor und Genozid.

Meine Urgroßmutter, ihren Mann und ihre Kinder zu enteignen und zu deportieren war vielleicht Teil des Klassenkampfes der Sowjetunion. Zur Folge hatte es, dass sie nach ihrer Haft aus einem tatarischen Dorf in ein russisches zogen. Dass die Generation meiner Mutter sich als falsch und anders fühlte. Dass sie verheimlichte, dass sie Tatarin ist und ihren Namen einrussischte. Dass die Generation meiner Geschwister russische Namen erhielt. Dass ich erst von Marijam erfuhr, als meine Mutter sich ihres eigenen tatarischen Namens entledigte. Auf einem deutschen Standesamt den Namen meiner Urgroßmutter nahm, die sie immer gezwungen hatte ihre Holzdielen zu schrubben, die sie als hart beschrieb und gebildet, ihn eindeutschte, an sich nahm und noch einmal das tat, was unsere Familientradition war: sich zu assimilieren. Irina Nekrasov