Neinsagen macht einsam
Konsequent zu sein wurde mir immer als erstrebenswert, fast schon als Tugend verkauft. Von meiner Familie, von der Gesellschaft, vom Kapitalismus. Was dir niemand sagt: Die einzige Konsequenz, die belohnt wird, hat mit Leistung zu tun. Deine Ausbildung konsequent zu Ende bringen, konsequent Karriere machen, konsequent früh aufstehen und konsequent bis zu deinem Tod arbeiten. Dich konsequent ausbeuten lassen lieben wir – ansonsten ist Konsequenz tatsächlich gar nicht so beliebt. Dem Chef konsequent die Überstunden verweigern, die Freund*innen konsequent daran erinnern, keine ableistischen Slurs zu benutzen, oder konsequent im Umgang mit Verwandten sein, selbst wenn das den absoluten Kontaktabbruch zu Teilen der Familie bedeutet. Das sind eher unsexy Seiten von konsequentem Verhalten. Verständlich also, dass das viele ablehnen und ihre eigene Inkonsequenz als die Fähigkeit, Ambivalenzen auszuhalten, verbuchen. Ich gelte in meiner Familie gleichzeitig als die Nervige mit der großen Klappe und als das Sensibelchen. Beides, weil ich nicht viel durchgehen lasse. Und während das theoretisch

alle unterstützen, stört mein konsequentes Gegenhalten in der Praxis doch erheblich, wenn es z.B. um die Pflege meines kranken Vaters geht, zu dem ich keine gute Beziehung habe: Die „Ambivalenzen aushalten“- Fraktion versteht zwar, wieso ich seit jeher nichts mit ihm zu tun haben will, geht aber davon aus, dass ich trotzdem zur Stelle bin, wenn es hart auf hart kommt. Dass ich ihn lieber sich selbst und seiner Misere überlasse, als mein Leben seiner Pflege zu widmen, schockiert sie. Dabei bin ich eigentlich nur konsequent – und ich dachte immer, das sei was Gutes! Leider bringt es mir aber in dem Moment rein gar nichts, dass konsequent zu sein auf dem Papier als Stärke gewertet wird. Der Gedanke, dass ich „das Richtige“ tue, spendet mir keinen Trost, er gibt mir keine Kraft, keinen Rückhalt. Das Einzige, was mich antreibt, ist die Vision von einer Zukunft, in der der einzige Schmerz, den ich spüre, einer ist, den ich selbst zu verantworten habe. Rea Mahrous

Solo, poly, lonely?
Single, in einer Partnerschaft, verheiratet – selbst auf progressiveren Datingplattformen wie OkCupid gibt es für solo poly lebende Menschen keine passende Zuordnung. Alle Optionen fühlen sich falsch an: Single würde bedeuten, ich hätte keine romantischen Beziehungen – das stimmt nicht. Aber ich bin auch nicht „in einer Partnerschaft“ und schon gar nicht verheiratet. Meine romantischen Bindungen sind unterschiedlich nah, manche lockerer, andere verbindlicher, doch meine Primary Beziehung bin ich selber (und mein Hund, wenn ich ehrlich bin). In den letzten zehn Jahren habe ich unterschiedliche nicht- monogame Beziehungsmodelle ausprobiert. Verfliegt die anfängliche Euphorie, bin ich immer mit denselben Problemen konfrontiert: Mir wird alles zu nah, und gleichzeitig fühle ich mich einsam. Und es strengt mich an, neben meinen eigenen Bedürfnissen und Zeitplänen eine weitere Person mitdenken zu müssen. Seitdem ich solo poly lebe, ist es anders. Mir fällt es leichter, meine Grenzen zu setzen und trotzdem Nähe zuzulassen, weil bestimmte symbiotische Dynamiken gar nicht erst entstehen. Ich kann mein Ding machen und muss trotzdem nicht auf Intimität verzichten. Diese Freiheiten haben aber auch ihren Preis. Selbst mit einem Netzwerk aus engen Freund*innenschaften und mehreren Lovers fehlt manchmal eine gewisse Form der Sicherheit, die Primary Beziehungen mit sich bringen. Das habe ich in den ersten Monaten der Pandemie gespürt, in meinen depressiven Episoden, in der von Überforderung durchzogenen Anfangszeit mit meinem Hund oder jedes Jahr, wenn der Winter einbricht und Leute sich in ihre Paarbeziehungen zurückziehen: Manchmal bin ich halt auf mich allein gestellt und es war meine eigene Entscheidung. Als ich in den letzten Monaten die Essays „Allein“ von Daniel Schreiber und „The Freezer Door“ von Mattilda Bernstein Sycamore gelesen habe, konnte ich mich in vielen Passagen über Einsamkeit und Queerness wiederfinden – in jeder meiner Lebensphasen. Autonom hingegen fühle ich mich erst seit wenigen Jahren. Hengameh Yaghoobifarah

Missy Magazine 01/23, Dossier Alleinsein
© Csilla Klenyanszki

Schiefe Schrauben
Mein Arbeitskollege erzählt mir hinter dem Kinotresen von seiner Kindheit in einer großen Familie auf kleinem Wohnraum. Ich staune über die Ruhe, die er von klein auf in sich selbst finden musste, als Alleinsein eine Seltenheit war. Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, krampft sich immer irgendetwas in mir zusammen, Bauch, Lächeln, Hände. Ich erinnere mich an meine Dorfkindheit in einer Pflegefamilie. Bevor ich während meines Abiturs von „daheim“ rausgeschmissen wurde, wurde viel gekämpft: z.B. um meinen fehlenden Kinderzimmerschlüssel, dessen Abwesenheit mir in regelmäßigen Abständen meine Privatsphäre und meine Würde nahm. Der Schlüssel wurde bei jedem „Fehltritt“ konfisziert, immer dann, wenn ich mir nichts sehnlicher wünschte, als einen Raum für mich zu haben. Alleine für mich und meine Gedanken, Ängste, Träume und mein Trauma. Alleinsein wurde für mich zum Luxus, den ich nur haben durfte, wenn mein Umfeld das entschied. Irgendwann trat mein Pflegevater meine Zimmertür ein, im Glauben, ich hielte meinen schlaksigen Teenagerkörper von innen gegen das Holz, dabei hatte ich den Schlüssel zu meinem Alleinsein in einer Schublade gefunden und von innen abgeschlossen. Der Rahmen der Kinderzimmertür wurde sporadisch mit schiefen Schrauben repariert und zeugt heute noch vom gewaltvollen Ende eines weiteren Versuchs, alleine zu sein. Heute lebe ich in einer Wohnung in Berlin, ganz für mich allein. Ich liebe die Menschen, die mich umgeben, aber mein Alleinsein ist mir heilig. Nachts schließe ich meine Wohnungstür immer zu, um meinen Raum und mein Alleinsein zu schützen. Ich lächle meinen Arbeitskollegen etwas schief an: „Bei mir war das auch nicht so einfach, mit dem Alleinsein.“ Mein Kollege nickt versonnen und ich verschwinde im Bauch des riesigen Kinos, um die Bar aufzufüllen – und noch ein paar Momente mit mir allein zu sein. Vanessa Sonnenfroh

Zwischen Krankenhaus und Lockdown
Mit 15 habe ich mein Elternhaus in einer kleinen russischen Stadt verlassen, um in einer größeren Stadt auf eine bessere Schule zu gehen. Meine Eltern unterstützten mich, aber ein Umzug kam für sie nicht infrage. In den ersten Monaten fühlte ich mich unglaublich einsam, aber allmählich fand ich mich zurecht und empfand meinen Zustand nicht mehr als einsam, sondern als unabhängig und selbstbestimmt. Diese extreme Selbstständigkeit prägte mein ganzes Leben. Mit 28 in Deutschland bekam ich plötzlich eine körperliche Behinderung. Monatelang verbrachte ich in Krankenhäusern und Reha-Einrichtungen – ohne Möglichkeit, selbst zu bestimmen, wann und wie lange ich allein bin. Nach meiner Entlassung wohnten meine Eltern mit mir abwechselnd in meiner Einzimmerwohnung. Am Anfang brauchte ich tatsächlich eine Pflegeperson. Die Unfähigkeit, allein zu sein, hat mich weiterhin belastet. Zugleich war ich wegen meiner Behinderung scheinbar vom Rest der Welt isoliert. Die Aktivitäten, die ich früher genoss, waren mir nicht mehr oder nur schwer zugänglich. Nach dem Motto „aus den Augen, aus dem Sinn“ ist auch mein Freundeskreis in dieser Zeit stark geschrumpft. Mutter und Vater konnten sich nicht vorstellen, dass ich wieder allein wohnen würde. Doch ich überzeugte sie davon, es zumindest zu versuchen. Während dieser Probezeit des Alleinseins begann die Pandemie und machte es meinen Eltern unmöglich, zu mir zu reisen. Meine Freund*innen waren auf einmal deprimiert wegen des fehlenden Soziallebens. Aber mir ging es gut! Ich hatte die totale soziale Isoliertheit bereits erlebt. Im Vergleich schienen mir die pandemiebedingten Maßnahmen eher mild. Über die sich Bemitleidenden dachte ich: „Sie verstehen nicht, wie gut sie es haben. Sie sind gesund. Sie müssen nur durchhalten, damit sie und die anderen gesund bleiben.“ Ich schwieg, um ihre Erfahrung nicht abzuwerten. Heute ist mir klar: Ich möchte Einsamkeit freiwillig erleben. Nicht weil ich so krank bin, dass ich mich in einer sterilen Umgebung befinden muss, oder weil die Barrieren alles unzugänglich machen, sondern dann, wenn ich Lust dazu habe. Anna Laletina

Endlose Tage
„Wenn ich gewusst hätte, wie einsam man sich fühlt, hätte ich dich letztes Jahr öfter besucht“, sagt meine Freundin und schaut auf ihre entzückende, wenige Monate alte Tochter. Mein eineinhalbjähriges Kind turnt zwischen uns herum. „Na ja“, sage ich, „es war Dauerlockdown. Du hast mehr als Vollzeit gearbeitet. Und wir wohnen fast eine Stunde mit den Öffis entfernt.“ Wir nicken beide ein bisschen kraftlos, die Babys brabbeln, es ist einer der wenigen Nachmittage, an denen wir es schaffen, uns zu treffen. Meine Elternzeit ist längst vorbei. Ein Jahr zuvor: Es ist 10:15 Uhr, es fühlt sich an wie 18:30. Ich sehne mich nach dem nächsten Schläfchen des Babys, ich will wenigstens ein bisschen chatten. Und ich habe keine Lust, schon wieder stundenlang allein mit dem Baby in der Trage durch den Kiez zu wandern, ich kann alle Aushängetafeln des Bezirks auswendig, bin ziemlich sicher, dass ich die einzige Person bin, die sie liest. Ich sage mir: „Es ist normal. Du darfst durchdrehen. Es war nie so gedacht, dass eine Mutter den ganzen Tag allein mit ihrem Kind abhängt.“ Meine Mutter hat die Sommer ihrer Kindheit auf dem Bauernhof, von dem meine Großmutter stammt, verbracht, wilde, freie Sommer, so stelle ich mir sie vor, in einem Pulk aus Kindern, ohne viel elterliche Betreuung. Für die Kleinkinder und Babys waren immer alte Frauen aus der Großfamilie da, die Mütter arbeiteten in der Landwirtschaft. Allein war nie jemand. Doch nicht alles war idyllisch, meint meine Mutter, es gab auch viel Schreienlassen der Babys, wie das damals üblich war. Du musst dir ein Dorf schaffen, sagt dir die bedürfnisorientierte Erziehungs-Bubble, wenn du einsam bist mit Baby, aber wie das genau gehen soll, in einem durchfunktionalisierten Alltag, bleibt schwammig. Abgesehen davon sind Dörfer für mich selten die Lösung. Ich habe das erste Jahr mit dem Baby und ohne Lohnarbeit genossen, trotz ständiger Angst vor einer Corona-Infektion und Kontaktbeschränkungen. Trotzdem überschattet ein Gefühl diese Zeit: nämlich, dass das System auf Eltern kleiner Kinder scheißt, sie aber zu heteronormativen Held*innen aufbauscht, wenn es gerade in den Kram passt. Anna Mayrhauser

Politische Vereinsamung
Ständig begleitet mich die Frage, ob ich Dinge beim Namen nennen darf, wenn mein Umfeld sie ausblendet. Schlagwörter: Islamismus, Diktatur. Die Konsequenz ist, dass ich mich zurückziehe oder zurückgehalten werde oder gar studentische und politische Gruppen immer wieder verlassen muss. Ist das eine Politik der Einsamkeit oder vielleicht politische Vereinsamung? Ich spreche gerne über die syrische Diktatur, die sich als sozialistisch, antiimperialistisch, arabischnationalistisch, muslimisch, aber auch ein bisschen säkular (lol) gibt. Diese Eigenschaften klingen widersprüchlich, sind jedoch strategisch. Sozialismus und Antiimperialismus können eine positive Bedeutung haben. Nur nicht da, wo ich herkomme. Unangenehmer wird es, wenn ich etwas über Islamismus sage oder von Queerfeindlichkeit in Syrien erzähle – zwei Phänomene, die weder zufällig sind, noch vom Westen in muslimisch geprägte Regionen importiert wurden. Da werden einige sonst so scharfe und kritische Stimmen doch sauer, weil meine Erzählungen nicht mit ihren Erfahrungen und Zuschreibungen übereinstimmen. Überraschung: Wir erleben und verarbeiten die Realität unterschiedlich, aufgrund von Geschichte und Ereignissen, die von Diktaturen, Militärmächten und Terroristen getragen werden. Lieber bleibe ich einsam, als dass ich Mythen über das vermeintlich schöne Zusammenleben in Syrien erzähle. Ich verstehe Einsamkeit als „lebendig“ und „gelebt“ und kann das gut auf das Leben vor und nach meinem Umzug nach Deutschland übertragen. In Syrien musste immer geheim sein, was wir dachten und wollten. Gesellschaftliche, religiöse und staatliche Zensur und Überwachung regelten jedes Detail in unserem Leben. In Deutschland heißt es: anpassen, anpassen, anpassen. Auch hier werden Menschen innerhalb von migrantischen Communitys weiter ausgegrenzt, wenn sie die vermeintliche Homogenität mit einer abweichenden Haltung unterbrechen. Same Shit, nur anders. Das ist eine Politik der Einsamkeit, in der sich politische Gegensätze in der Rhetorik ähneln. Queer zu sein hat mir beigebracht, die Einsamkeit zu akzeptieren, weil ich weiß, dass das ein kollektives Gefühl ist. Dadurch entsteht Hoffnung. Vielleicht funktioniert die politische Einsamkeit ähnlich. Zain Salam Assaad

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 01/23.