Missy Magazine 01/23, Filmrezis
© Bandita Films

Die Linie
„Hundert Meter heißt hundert Meter. Nicht 50 oder 85, klar?“, schnauzt der Anwalt Margaret, die junge Frau mit dem verwundeten Gesicht vor sich, an. Eben hat er ihr erläutert, dass ihre Mutter sie angezeigt hat, sie deshalb drei Monate lang nicht näher als hundert Meter an ihr dörfliches Zuhause ran darf und bei Nichtbefolgung Gefängnis droht. Denn Margaret, eine erfolglose Musikerin, die zum Ausrasten neigt, hat ihre Mutter, eine ehemals berühmte Pianistin, so geohrfeigt, dass sie auf Klaviertasten aufschlägt, ins Krankenhaus muss und später auf einem Ohr taub bleibt. Das Verbot kann Margaret, die bei einem Musikerkollegen unterschlüpft, nicht abhalten, täglich wieder aufzutauchen, um mit ihrer kleinen Schwester Marion, die wie ein Engel singt, anrührende Musik zu machen, sich mit ihrer hochschwangeren Schwester Louise zu zanken und Neuigkeiten über die Mutter rauszukitzeln. Bald steht Weihnachten vor der Tür, das Fest der Liebe, und Margaret schöpft neue Hoffnung … Der neue Film von Ursula Meier ist ein hochkarätig besetztes, packendes Familiendrama, das mit originellen ästhetischen Ideen aufwartet – in Slow Motion an der Wand berstendes Geschirr; die Frauen der Familie, die in einer Brache auf verschieden hohen Erdhaufen auf Stühlen thronen und warten – und den harten Stoff manchmal durch skurrilen Humor abmildert. Barbara Schulz

„Die Linie“ CH/FR/BEL 2022 ( Regie: Ursula Meier. Mit: Stéphanie Blanchoud, Valeria Bruni Tedeschi, Elli Spagnolo, India Hair u. a., 101 Min., Start: 16.03. )

 

Missy Magazine 01/23, Filmrezis
© jip film & verleih gbr

Midwives
„Midwives“ erzählt von Hla und Nyo Nyo, eine ist Buddhistin, die andere Muslima. Die beiden Hebammen behandeln in ihrer improvisierten Klinik im Rakhaing-Staat im Westen Myanmars Rohingya, die unterdrückte muslimische Minderheit. Damit bringen sie sich in Gefahr, da der Kontakt eigentlich nicht erlaubt ist. Über fünf Jahre hat die Filmemacherin Snow Hnin Ei Hlaing die beiden Frauen mit der Kamera begleitet. Mutig und unermüdlich gehen sie ihrer Aufgabe nach. Einfühlsam dokumentiert Snow Hnin Ei Hlaing ihren Arbeitsalltag, fängt intime Momente ein, hitzige Diskussionen und humorvollen Schlagabtausch. Die Bildkompositionen sind großartig – Licht, Farben und Stimmung werden geradezu poetisch eingefangen. Zwischendurch läuft zeitgenössische Musik des Landes mit untertitelten Liedtexten, welche die Komplexität des Konflikts noch weiter verdeutlichen. Die jüngere Nyo Nyo wird zum dritten MalMutter und träumt von ihrer eigenen Praxis, gleichzeitig wünscht sie ihren Kindern, die als Rohingya nicht die Schule besuchen dürfen, eine
bessere Zukunft. Der Militärputsch 2021 verschärft die Situation. Nachrichtenschnipsel unterstreichen die Drastik der sich zuspitzenden Lage.
Zu Recht wurde Hnin Ei Hlaings unter die Haut gehendes Langfilmdebüt
beim Sundance Film Festival ausgezeichnet. Amelie Persson

„Midwives“ MMR/CAN/DE 2022 ( Regie: Snow Hnin Ei Hlaing.92 Min., Start: 26.01. )

 

Missy Magazine 01/23, Filmrezis
© Ilkka Saastamoinen / © Salzgeber & Co. Medien GmbH

Girls Girls Girls
Vielleicht streiten sich die Filmwissenschaftler*innen in ein paar Jahren darüber, ob „Girls Girls Girls“ für ein neues queeres Kino steht oder für die gesellschaftliche Normalisierung „gleichgeschlechtlicher Liebe“ – oder beides? Alli Haapasalos Film, der beim Sundance Film Festival den Publikumspreis gewann, enthält alle Zutaten eines klassischen Coming-of- Age-Filmes: Freund*innenschaft und Familie, Nebenjob und Hobbys, große Träume und die Frage, was im Leben eigentlich wichtig ist. Dazu gehört auch Begehren: Rönkkö sehnt sich nach erfüllendem Sex; Mimmi verliebt sich in Emma und hadert fortan mit einer Beziehung, deren Dynamik auch durch unterschiedliche Klassen- und Familienherkunft geprägt ist. Alles spielt eine Rolle, alles wird verhandelt, nur eben nicht, dass es hier zwei Girls sind, die einander begehren. Begriffe wie „lesbisch“, „bisexuell“ oder „queer“ tauchen nicht auf; einen Konflikt mit den Eltern rund um „Coming-out“ scheint es nicht zu geben. So bricht der Film immer wieder mit den Seherwartungen des Publikums, das queere Geschichten entweder mit Leiden verbindet oder zumindest mit einer expliziten Verortung von Identitäten, auch im Sinne des Empowerments. Stattdessen erzählt „Girls Girls Girls“ in popfeministischer Ästhetik von einer ganz normalen Jugend zwischen Partys, Smoothie-Läden und Liebeskummer. Merle Groneweg

„Girls Girls Girls“ FIN 2022 ( Regie: Alli Haapasalo. Mit: Linnea Leino, Aamu Milonoff, Eleonoora Kauhanen u. a., 100 Min., Start: 23.02. )

 

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© 2022 Alamode Film

Holy Spider
In der heiligen Stadt Mashhad werden mehrere Sexarbeiterinnen nacheinander brutal ermordet. Saeed (Mehdi Bajestani) hat eine „göttliche Mission“: Er soll die Stadt von sittenlosen Frauen säubern. In den Medien wird er „Spinnenmörder“ genannt. Als der Fall publik wird, kommt die Journalistin Rahimi (Zar Amir Ebrahimi) aus Teheran nach Mashhad. Sie will über den Fall berichten.Der Film basiert lose auf dem wahren und sehr berühmten Fall von Saeed Hanai, einem Serienmörder, der vor zwanzig Jahren in Iran hingerichtet wurde. Zwischen 2000 und 2001 tötete er 16 Frauen in Mashhad. Diese Femizide wurden damals in den iranischen Medien und in der Bevölkerung monatelang kontrovers diskutiert, von Verurteilung der Tat bis hin zu Victim Blaming. Der Spinnenmörder in „Holy Spider“ bringt Straßenprostituierte zu sich nach Hause und erdrosselt sie mit ihrem Kopftuch. Regisseur und Co-Drehbuchautor Ali Abbasi kritisiert in seinem Film einerseits den religiösen Teil der iranischen Gesellschaft scharf. Andererseits zeigt er die strukturelle Korruption im Justiz- und Polizeisystem in Iran auf. „Holy Spider“ ist ein Film über Armut, Drogenkonsum, Religion und Frauenhass. Er ist atemberaubend und zeichnet ein reales Bild des Leidens vieler Frauen in den Straßen iranischer Städte im Schatten von Angst und Diskriminierung. Negin Behkam

,,Holy Spider“ DK/DE/SWE/FR 2022 ( Regie: Ali Abbasi.Mit: Mehdi Bajestani, Zar Amir Ebrahimi, Sara Fazilat u. a.,119 Min., Start: 12.01. )

 

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© Grandfilm GmbH

Human Flowers Of Flesh
Eine kleine Gruppe Menschen ist unterwegs – in Bergen, durch Küstenstädte, auf dem Meer und sogar unter Wasser. Wir erfahren weder, wer sie sind (Forschende, Reisende, Bekannte?), noch wohin es sie treibt. Stattdessen sind wir eingeladen, sie für 106 Minuten zu begleiten und dabei nicht nur sie, sondern auch uns selbst zu beobachten. Dies gelingt durch poetisch starke Bilder und geduldige Einstellungen, die uns nicht vorgeben, wohin zu schauen und was zu schlussfolgern ist. Wenn ein Narrativ sichtbar wird, ist es das eigene. Der Film funktioniert so wie eine Meeresoberfläche, die den Blick der Zuschauenden zurück nach innen wirft. Herausgerissen oder noch tiefer eingesogen in die Kontemplation wird man immer wieder von den packenden Sounds der Musikerin Nika Son. Die Regisseurin Helena Wittmann hat nach ihrem ersten Langfilm „Drift“ nun wieder einen Film geschaffen, der konventionelle Dramaturgien und Blickhierarchien nicht nur infrage stellt, sondern direkt auflöst. Besonders spannend ist dieser Verzicht auf Narrativ im Zusammenhang mit dem Thema der französischen Fremdenlegion, das ab und an auftaucht. Hier zitiert Wittmann sichtbar den grandiosen Film „Beau Travail“ von Claire Denis, bietet durch ihre reduzierte Erzählweise aber eine Perspektive auf Militär, Kampf und Männer an, die wir selten zu sehen bekommen. Franzis Kabisch

„Human Flowers Of Flesh“ DE/FR 2022 ( Regie: Helena Wittmann. Mit: Angeliki Papoulia, Vladimir Vulevic, Ferhat Mouhali u. a., 106 Min., Start: 02.02. )

 

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© 2022 Drop-Out Cinema

Catch The Fair One
Die Exboxerin Kaylee (Kali Reis) schläft mit einer Rasierklinge im Mund. Seit das spurlose Verschwinden ihrer kleinen Schwester Weeta (Mainaku Borrero) ihr Leben aus der Bahn geworfen hat, hat sie nicht aufgehört, nach Antworten zu suchen. Die Spur führt zu einem Ring von Mädchenhändlern und Kaylee kennt nur noch ein Ziel: Von Polizei und Familie im Stich gelassen beschließt sie, sich in den Ring einschleusen zu lassen – mit Rasierklinge und Fäusten als einziger Versicherung. „Catch The Fair One“ ist ein kleines, schmerzerfülltes Wunder. Regisseur Josef Kubota Wladyka erzählt schnörkellos und klar, allein mit der vollen Kälte und Brutalität, die dem Thema selbst anhaften. Den Film treibt eine rohe, ungebremste Wut an. Auf das Vergessen, auf die Gleichgültigkeit und die Fügsamkeit, mit der insbesondere das Verschwinden indigener Mädchen und Frauen in den USA hingenommen wird. Dabei gelingt der rare Balanceakt, weder in ein kathartisches Gewaltspektakel noch in die vagen Gemeinplätze eines postheroischen Rachethrillers abzugleiten. Actionreich inszeniert, bewahrt sich die Handlung stets ihre politische Schärfe und Aufrichtigkeit. Viel dieser tonalen Präzision ist Kali Reis zuzuschreiben, die ihre Rolle mit stoischer Kraft spielt und am Drehbuch beteiligt war. Linus Misera

„Catch The Fair One“ USA 2022 ( Regie: Josef Kubota Wladyka. Mit: Kali Reis, Daniel Henshall u. a., 85 Min., Start: 26.01. )

 

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© ARSENAL Filmverleih GmbH

Das Blau des Kaftans
Das Ehepaar Halim und Mina schmeißt gemeinsam die traditionelle Schneiderei seines Vaters in der Medina der marokkanischen Stadt Salé. Halims Homosexualität äußert sich nur im Geheimen, in stillen Nahaufnahmen seiner Hände oder voyeuristischen Blicken. Als Lehrling Youssef in das Leben der beiden tritt, scheint Drama vorprogrammiert – doch diese Dreieckskonstellation folgt ihrer eigenen Logik. Als ob ein goldener Faden sie zusammenhält, wie den seidigen Stoff eines Kaftans. Gemeinsam stehen sie vor einem Problem, das weit größer ist als alle Beziehungskrisen. Die marokkanische Regisseurin Maryam Touzani wurde mit ihrem zweiten Spielfilm „Das Blau des Kaftans“ zum zweiten Mal zu den Filmfestspielen in Cannes eingeladen. Sie zeigt darin Ängste, Träume und Realität von drei unangepassten Menschen: eines schwulen Mannes, dessen Regierung seine Identität ignoriert und bestraft; seiner heterosexuellen Ehefrau, die in einer Männerwelt keinen Platz für ihre Lust findet; und eines jungen Lebenskünstlers, der entschlossen seinen Platz in der Gesellschaft sucht. Gezielte Dialoge, Stille, warme Farben, ruhige Kamerafahrten und detailverliebte Close- ups durchdringen die Hauptcharaktere emotional vielschichtig – auch abseits ihrer sexuellen Orientierung. Die Botschaft: Habe keine Angst zu lieben! Laura Helene May

„Das Blau des Kaftans“ FR/BEL/MAR 2022 ( Regie: Maryam Touzani. Mit: Lubna Azabal, Saleh Bakri, Ayoub Missioui u. a., 118 Min., Start: 16.02. )

 

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© Oleksandr Roshchyn / © déjà-vu film UG

Stop-Zemlia
Masha ist 16, zusammen mit ihren Freund*innen Senia und Yana besucht sie eine Schule in Kiew. Äußerlich passiert wenig, innerlich aber sind die Protagonist*innen aufgewühlt. „Wie fühlt sich dein Körper an, wenn du verliebt bist?“, „Was machst du, wenn du den Schulabschluss in der Tasche hast?“ Vor einer hellen Wand beantworten die Jugendlichen in dokumentarischen Einschüben solche Fragen. Die ukrainische Filmemacherin Kateryna Gornostai hat einen aufregenden Genrehybrid geschaffen, mit dem sie den Jugendlichen in ihrem Alltag nahekommt. Beinahe alles ist noch offen. Und das ist nicht nur schön. Studieren oder Ausbildung? Verliebt oder befreundet? Queer oder straight? Der langhaarige Senia hängt lieber mit Mädchen ab, Masha ist von Sasha genervt – oder fühlt sich so Verliebtsein an? Durch den genauen Blick der Kamera entsteht ein zartes Gruppenporträt. Äußeres Geschehen und intensive Beobachtung einzelner Figuren stellt Gornostai gleichberechtigt nebeneinander. Jenseits von Klischees fängt sie so die Wachstumsschmerzen dieser jungen Leute ein. Bei der Schuldisco traut sich Masha endlich in Sashas Nähe. Wir sind ganz nah dran, wenn sie intensive Sekunden der Wahrheit erlebt und spürt, dass alles Weitere auch von ihr abhängt. Gedreht im Jahr vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine, war dieser starke Film auf der Berlinale 2021 in der Sparte „Generation 14plus“ zu sehen. Anna Opel

„Stop-Zemlia“ UKR 2021 ( Regie: Kateryna Gornostai. Mit: Maria Fedorchenko, Arsenii Markov, Yana Isaienko, Oleksandr Ivanov u. a., 122 Min., Start: 09.02. )

 

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© Markus Zucker / ©2022 Schiwago Film, DOMAR Film

Wann kommst du meine Wunden küssen
Maria, Laura, Jan und Kathi, alle um die vierzig, waren einst enge Freund*innen und als Regisseurin, Schauspielerin und DJ in Berlin erfolgreich, als Aktivistin in Südamerika unterwegs. Doch Karriere war gestern, heute finden sie sich nach einigen Jahren der Funkstille auf einem abgelegenen Hof, auf dem Maria und Laura aufwuchsen, mitten im verschneiten Schwarzwald wieder. Den Hof bewirtschaften jetzt Laura und Jan, Kathi lebt dort, kämpft gegen ihren Krebs an. Als auch Maria spontan auftaucht, brechen schnell alte Konflikte auf, aktuelle Bedürfnisse, lang gehegte Träume und Wünsche drängen an die Oberfläche. Ein explosiver Cocktail, der von Technoklängen, die an die vergangenen Zeiten erinnern, und atmosphärischen Bildern des Waldes, die zugleich für Ruhe im Strudel der Gefühle sorgen, begleitet wird. Und das braucht es, denn Hanna Dooses neuer Film ist voller Wucht mit vier Protagonist*innen, die irgendwie alle im Dazwischen hängen: zwischen Leben und Tod, Neuanfang und Verlust, Liebe und Ablehnung, Mut und Angst, zwischen zurückgezogenem Natur- und pulsierendhedonistischem Stadtleben. Jede*r scheint gegen sich und die eigenen Dämonen zu kämpfen: Wohin soll die Reise nun gehen? Wer küsst die Wunden, heilt die Trauer? Hanna Doose vereint in diesem Drama ein großartiges Ensemble, das jede einzelne Szene improvisiert und dem Film dadurch eine Intensivität, Rohheit, Intimität und Authentizität verleiht, die in den Bann ziehen. Indra Runge

„Wann kommst du meine Wunden küssen“ DE 2022 ( Regie: Hanna Doose. Mit: Bibiana Beglau, Gina Henkel, Katarina Schröter, Alexander Fehling u. a., 111 Min., Start: 02.02.)

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 01/23.