Wie lässt sich eine Sprache für Erfahrungen von Flucht, Exil und Heimatlosigkeit finden? Diese Frage stellte Volha Hapeyeva, die 2022 mit dem WORTMELDUNGEN-Literaturpreis ausgezeichnet wurde, jungen Autor:innen.

Juli Mahid Carly, Irina Nekrasov und Jonë Zhitia haben darauf eindrucksvolle Antworten gefunden. Ihre Essays, die Missy in Kooperation mit der Crespo Foundation veröffentlicht, wurden mit dem WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Förderpreis für kritische Kurztexte ausgezeichnet. Die Erfahrung einer Existenz des Dazwischen, der Heimatlosigkeit, der Nicht-Zugehörigkeit verbindet die Texte. Juli Mahid Carly sampelt orientalische Klischees und popkulturelle Referenzen, Irina Nekrasov betreibt am Rande des Fiktiven eine Spurensuche über Generationen hinweg und Jonë Zhitia schreibt über die Überforderung des ständigen Dazwischen-Seins und die Suche nach einer Heimat in der Sprache.

© I. Nekrasov

Jonë Zhitia (*1996 in München) studiert Soziologie und Literarisches Schreiben an der Universität Leipzig. Sie ist Mitbegründerin des nachhaltigen und feministischen Onlinemagazins EKOLOGISKA MAG und veröffentlichte unter anderem in den Magazinen tuerspion und JENNY.

 

Nadryw | Sprache fühlen

Bilingual aufwachsen bedeutet nicht zwei Sprachen zu können. Bilingual aufwachsen bedeutet stetiges Übersetzen, ein Ballspiel zwischen Sprachen, als ob man einen Gegenstand zwischen den Händen hin und her wirft, um ein Gefühl für ihn zu bekommen. Auf Wikipedia gibt es ein Zitat von Wolf Schmid: „Nadryv (von den Wörterbüchern erläutert als die „Verhebung“, die Überanstrengung, der an Hysterie grenzende, überreizte Ausdruck eines Gefühls) ist eine psycho-ethische Grundsituation in der Welt Dostoevskijs, eine überspannte sittliche Haltung, die einer eigentlichen Neigung widerspricht, eine Form pseudo-idealistischer Selbstverleugnung. An den meisten Stellen ist nadryv am besten mit Selbstvergewaltigung wiederzugeben.“

Die Tochter von Kriegsgeflüchteten zu sein, ist nicht leicht, aber es gibt Regeln, über die sich dein Aufwachsland und deine Eltern einig sind, und die du zu befolgen hast:

  1. Du darfst dich nicht beschweren, du musst dankbar sein.
  2. Was dir passiert kann nie wirklich schlimm sein.
  3. Vergiss nicht: Du darfst hier Leben, es ist keine Selbstverständlichkeit
  4. Da wo du aufgewachsen bist, gehörst du nicht hin. Du bist nicht zu Hause!
  5. Du bist zu Deutsch/Albanisch, nicht Albanisch/Deutsch genug,

 

Wie sucht man Sprache? Ich war vielleicht 8 als meine Mutter über Danielle Steel Bücher gesprochen hat, aber eigentlich nie über die Bücher, sondern immer nur, wo sie selbst darin vorkam. So sehr hat sie sich gefunden, dass ich in diesem Alter glaube: Danielle Steel schreibt Bücher über meine Mutter. Ich bin nicht viel älter, als ich anfange jemanden zu suchen, der über mich schreibt. Dessen Worte Spiegel sind, dessen Gedanken mir helfen, die meinen zu ordnen. Dostojewski hat die Worte geschaffen, aus Buchstaben und vertrauten Klängen, als habe er eine Sandburg gebaut. „Nadryv ist ein so umfangreiches und verständliches Wort, dass selbst die Deutschen es für sich selbst wollten, es aber nicht übersetzen konnten. Also haben sie es liegen lassen. – Nadryw. Das ist verständlich, es ist unwahrscheinlich, dass ein Bayer aus den Alpen eine echte russische Nadryw erlebt. Es gibt keinen Grund.“ Die Selbstzerrissenheit, das Zerbrechen am Ideal. Der Kosovo zerbricht an der Erinnerung meiner Mutter, meine Mutter zerbricht an meinem Deutsch-Sein. Meine Freunde an meinem Albanisch-Sein. Mein Selbst wird zerrissen durch die Scherben des Ideals.

Ich bin nie ins Exil gegangen, ich bin ins Exil hineingeboren. Mein einziges Zuhause ist die Autobahn zwischen Deutschland und Kosovo. Dazwischen liegen Österreich, Kroatien, Serbien, Ungarn, Montenegro – je nachdem, welche Route man fährt. Keines dieser Länder bedeutet für mich Heimat, Heimat stoppt mit den Autoreifen, wenn sie sich nicht mehr drehen, ist Heimat nur noch eine Erinnerung. Deniz Utlu schreibt dazu: „Heimat ist eine Funktion der Immobilienpreise“.

Im Haus von Kriegsgeflüchteten herrscht Krieg. Er beginnt an der Türschwelle, die Schüsse, die Bomben, das Weinen, dröhnt jeden Tag aus dem Fernseher. Es gibt keine Altersfreigabe für die Nachrichten, es gibt keine naiven Kinder, nur dieselben abgestumpften Blicke von Augen, die seit Generationen weitergegeben werden.  Ich bin noch im Kindergarten, als ich das erste Mal Leichen im Fernsehen sehe, ich bin zehn, als mein Vater den Fernseher abschaltet, weil American Beauty erst ab 12 ist. Der Krieg beginnt an der Türschwelle, er ist kein Ausnahmezustand, er ist das tägliche Brot, er erinnert uns an unsere Schuld und daran niemals denen zu vergeben, die uns unser Zuhause nahmen. „Jedes Zuhause ist ein zufälliges“, laut Saša Stanišić, „Dort wirst du geboren, hierhin vertrieben, da drüben vermachst du deine Niere der Wissenschaft. Glück hat, wer den Zufall beeinflussen kann. Wer sein Zuhause nicht verlässt, weil er muss, sondern weil er will.“ Zuhause ist auch Heimat. Heimat braucht ein Heimatministerium, so die CDU. Heimat ist: Der Ort an dem du geboren wurdest. Wenn deine Eltern Asylanten waren, illegale Einwanderer, Flüchtlinge, alles dessen Leben du mit einer Obergrenze für nichtig erklären darfst, ist der Ort an dem du geboren wurdest, die Erinnerung an die Nichtheimat. An die Nicht-Existenzberechtigung. An das Nicht-Mensch-genug-sein. Es gibt Worte, die gehören uns nicht, die unsere Sprache nicht aussprechen kann. Wenn ich ein Wort nicht verstehe, übersetze ich es in andere Sprachen, ins Albanische, ins Englische, manchmal sogar ins Französische, obwohl mein Französisch gar nicht so gut ist. Ich übersetze sie, um ein Gefühl für sie zu bekommen. Sprache fühlt man. Fühlt man wie vibrierende Autositze, die einen in den Schlaf wiegen. Die Zugehörigkeit entspricht der Heimat. Die Zugehörigkeit widerspricht der Andersartigkeit. Andersartigkeit schreibt man sich nicht selbst zu. Andersartigkeit wird zugeschrieben. Im Kosovo nennt man uns „shaci“ vom deutschen Wort „Schatzi“. In der populären TV-Serie „Cafeneja jonë“ nannte eine ausgewanderte Person ihren albanischen Freund Schatzi. Shaci bezeichnet jetzt die Ausgewanderten und ihre Kinder. Die Albaner:innen der Diaspora. Die Albaner:innen der Diaspora sind in Deutschland Kanak:innen. Sind in Deutschland Nutznießer:innen. Sind illegale Einwanderer:innen. Sind Flüchtlinge. Sind Balkanhuren. Sind Autodiebe. Albanien hat die größte BMW-Dichte Europas. Jonë Zhitia

 

Der gesamte Text erscheint im Frühjahr 2023 bei SUKULTUR.