Hypertext von Zain Salam Assaad

 „Hypertext” ist das Produkt aller möglichen Memes und Sad Songs des letzten Jahrhunderts. In dieser Kolumne beschreibt Zain Salam Assaad mal satirisch, mal ganz ernst, wie sich Exil, Popkultur und Weltgeschehen zwischen dem Mainstream und am Rand der Gesellschaft bewegen – zwischen Pass und Smash. Dazu teilt Zain Memes oder eigene Mood-Playlists.

TW: Der folgende Text enthält Darstellungen von Gewalt.
Für ein Premium-Leseerlebnis kannst du dir ergänzend Zains Playlist anhören.

Wie sieht ein einsamer Mensch aus? Er lächelt manchmal und manchmal weint er. Manchmal malt er oder sitzt in einer großen Menschengruppe, die seine Einsamkeit nicht sieht. Dieser Mensch kann alles sein, was wir nicht sehen wollen oder können. Lange habe ich mich für meine Einsamkeit geschämt. Es ist ein starkes Gefühl, welches mein Leben klar von dem Leben anderer in meiner Umgebung abgrenzt. So wie ein Theaterstück, mit dem ich relaten kann. Dennoch sitze ich alleine im Publikum und kann davon niemanden erzählen. Doch ich wage es mir einzugestehen: Ich fühle mich einsam. Die meiste Zeit. Ich wage es auch zu sagen, dass ich viele einsame Menschen kenne und dass ich immer in einem vereinsamten Kollektiv gelebt habe.

Zain Salam Assaad

Zain Salam Assaad studierte Kommunikations- und Medienwissenschaft in Leipzig. Heute arbeitet Assaad als frei*e Journalist*in und Übersetzer*in, insbesondere für die Themen LSBTIQ*-Rechte, Migration und digitale Trends, wobei dey immer Dinge in einen Kontext setzt. In der Freizeit beschwert dey sich gerne über das Wetter in Deutschland, toxische Netzkulturen und empathiefreie Debatten.
© Bär Kittelmann

Einsamkeit ist subjektiv und die Ursachen dafür lassen sich nur schwer verallgemeinern, weil sie eine Diskrepanz in der Wahrnehmung privater Beziehungen darstellt. Migration verstehe ich als eine Erfahrung der Vereinsamung. Menschen, die eine Sprache nicht beherrschen, sollen ein Leben im neuen Kollektiv finden. Oft verstehe ich mich mit älteren Migrant*innen aus der ersten Generation besser als mit den Jüngeren. Wir verachten uns einander gegenseitig mit viel Verständnis, aus verschiedenen Gründen. Es ist eine Mischung aus Generationenkonflikt und Kulturstreit. Menschen sind oft enttäuscht, weil ich als Migrant*in in der ersten Generation nicht gesellschaftskonform lebe, wie sie es sich vorstellen. Viele sehen neue Migrant*innen als Kulturträger*innen, da sie nicht in Europa sozialisiert sind. Noch verstehen wir uns aber, weil wir oft ähnliche Arten von Einsamkeit kennen und verinnerlicht haben. Wir sehnen uns nach einem romantisierten Leben, das uns mal bekannt war. Damals, als die Familie zusammengehalten hat und alle geteilt haben. Ich frage mich: Sind alle Migrant*innen so einsam wie ich?

„Eib“

Ich habe als Kind viel Zeit mit meinen Großeltern verbracht. Stundenlang erzählte mir meine libanesische Oma von ihren Sorgen und ihrer Einsamkeit. Darüber, wie sie im Krieg mit meinen Onkeln und Tanten nach Syrien geflohen ist. Oder darüber, wie sie tagelang auf eine Erlaubnis warten musste, um meinen Vater im Gefängnis besuchen zu dürfen. Sie sagte immer sehr leise: „Mach nichts mit Politik, sie bringt nichts außer Kopfweh.“ Man müsse seine Gedanken und Konflikte innerlich aufarbeiten, sagte sie. Dafür gebe es gar keinen Platz in diesem Leben. So verstecken alle ihre Einsamkeit, obwohl sie für alle sichtbar ist. Sie ist sichtbar, weil alle das selbst erleben und verdrängen. Man schaut weg von sich, wenn man überleben will, sagte meine Oma. Es ist „Eib“, das zu behaupten, wenn du fest mit beiden Beinen im Leben stehst. Eib ist etwas Großes in vielen Kulturen in Syrien und in der Region. Es steht für etwas Schändliches, was andere Mitmenschen sogar ablehnen oder verurteilen würden. Meine Oma erzählte dann am Ende immer, halb weinend, dass es alles nur Wörter sind, die sie nicht wirklich so meint. Schließlich hat sie doch viel Glück, weil sie so eine große Familie hat. Darf man überhaupt einsam sein?

Das wort Eib wird oft benutzt, wenn Menschen Sex außerhalb der Ehe haben oder eben einfach LGBT+ sind. Scham spielt eine große Rolle dabei. Einsamkeit allerdings war auch Eib. Manche meinten, man müsse heiraten, Kinder bekommen oder beten gehen, um die Einsamkeit zu überwinden. Stell dir vor, du hattest vor der Ehe Sex, du bist LGBT+ und dazu bist du auch noch sehr einsam. Das bedeutet, hardcore Eib in einer Gesellschaft zu sein, die sich gerne gegenseitig bestraft. Da, wo alle Gott spielen, sodass niemand gut und ruhig leben kann. Eine toxische Nähe, die mich dazu brachte, mir als Kind die Einsamkeit als Flucht daraus zu verstehen. Bis ich es da raus geschafft habe und mich so sehr danach sehne, dass sich überhaupt jemand für meine Existenz interessieren würde, wie die alte Nachbarin in Syrien, die sich immer so gerne in mein Leben eingemischt hat.

„Cool“ wie damals auf dem Schulhof

In der Schule erlebte ich Einsamkeit anders. Es waren Hunderte kleine Gesichter, die sich lachend gegenseitig mobbten. Man musste irgendeiner Gruppe angehören, um das ständige Mobbing steuern zu können. Nun durfte man cool oder uncool sein. Im Kollektiv war man teilweise geschützt. Bis die Sportlehrerin am Montag kam, die sich oft mit ihrem Mann zu Hause stritt und immer ganz früh zur ersten Stunde kam. Sie nahm einen Holzstock und schlug uns alle damit. Wir nannten es Gruppenbestrafung. Das passierte oft und nicht nur mit dieser Lehrerin. Ich stand einmal vor ihr mit neun Jahren und sagte, dass sie ihre Eheprobleme anders lösen soll. Sie war sehr wütend. Zu einer ähnlichen Erfahrung veröffentlichte der syrische Filmemacher Yaman Intabli 2019 einen Film, der das Schulsystem unter der Macht der Assad-Familie in Syrien thematisiert. In Syrien in die Schule zu gehen fühlte sich an, wie Teil einer Militärinstitution zu sein. Die Angst und die Gewalt, die Millionen unter diesem System erlitten, bildeten ein Kollektiv  aus vereinsamten Menschen, die parallel miteinander leben. Die syrische Diktatur verstärkte die Vereinsamung unter uns. Man muss flüstern, wenn man eine Meinung hat, und irgendwann spricht man nicht mehr. Kollektive Einsamkeit, die ich hier in Deutschland fühle, ist daher nichts Neues. Es ist ganz anders. Hier gibt es natürlich Sachen, die besser laufen können, und Freiheiten, die man nicht so wirklich zuvor kannte.

Ein Coming-out als einsamer Mensch

Die Diktatur, die Tradition, der westliche Individualismus und der deutsche Traum erlauben uns im Exil oft nicht, in die Vergangenheit zurückzublicken. Wenn man als einzige Person in einer Familie Syrien verlassen konnte, muss man hier in Deutschland glücklich werden, weil alle was dafür geopfert haben. Man muss so schnell wie möglich ein genormtes und normales Leben führen, als ob nichts passiert wäre. Die Existenzängste, die mit dem Ankommen in Deutschland anfingen, haben keinen Platz. Was mache ich mit einer Freiheit, die ich nicht da leben kann, wo ich sie gebraucht hätte? Was mache ich mit einer Zukunft, die ich sehr wahrscheinlich mit niemandem aus meinem früheren Leben teilen darf? Ich bin nicht traurig. Ich stelle nur diese Fragen, die nicht gestellt werden dürfen, weil erwartet wird, dass Migrant*innen, Menschen im Exil und Geflüchtete ständig glücklich und dankbar sein müssen. Ich möchte die Realität nicht verschönern. Ich fühle mich einsam. Sehr viele Menschen in Deutschland, und nicht nur Migrant*innen, fühlen sich ebenfalls einsam. Nun oute ich mich, denn ich kann sonst nicht mit den Schamgefühlen umgehen.

Einsamkeitsbewältigung – Gegenwartsbewältigung

Ich suche auch nach Strategien, wie ich meine Einsamkeit bewältigen und das Hier und Jetzt erleben und genießen kann. Vieles war bisher ein Fehlversuch und mir macht es nun mal am meisten Spaß, wenn ich mich nicht verstellen muss. Das Einsamsein ist oft ein passiver Zustand und wir Menschen wollen uns gern aktiv am Leben beteiligen, weil wir innerlich daran glauben, dass wir nicht nur zum vereinsamten Leiden geschaffen sind. Daher machen wir dies oder das. Ich sage deshalb nicht, dass Menschen so passiv bleiben sollten. Ich sage auch nicht, dass Menschen private Dinge von sich teilen müssen, um frei(er) leben zu können. Eher würde ich behaupten, dass ich mich frei fühle, wenn ich mich nicht verstecken muss. Wenn ich aus der Passivität ausbrechen kann.