Heute ist es drei Jahre her, dass ein rechtsextremer Attentäter in Hanau neun Menschen ermordete und anschließend seine Mutter und sich selbst tötete. Es sind ebenfalls drei Jahre, in denen die Angehörigen der Ermordeten tagtäglich Aufklärungs- und Erinnerungsarbeit leisten müssen, weil der Staat sich seiner Verantwortung entzieht. Als Betroffene von strukturellem Rassismus und behördlichem Versagen organisierten sich Angehörige und Verbündete und gründeten die Initiative 19. Februar Hanau. Diese macht es sich zur Aufgabe, einen Raum der Begegnung und Erinnerung sowie eine Anlaufstelle für Vernetzung und Beratung zu schaffen. Drei Jahre nach der rassistischen Ermordung ist das Attentat immer noch nicht lückenlos aufgeklärt. Drei Jahre nach der Gewalttat warten Familien und Hinterbliebene immer noch darauf, dass die Behörden sich ihr Versagen eingestehen.

Wir trauern auch in diesem Jahr um:

 

Ferhat Unvar

Hamza Kurtović

Said Nesar Hashemi

Vili Viorel Păun

Mercedes Kierpacz

Kaloyan Velkov

Fatih Saraçoğlu

Sedat Gürbüz

Gökhan Gültekin

 

Die Kontroversen, die nach wie vor dringender Klärung bedürfen, betreffen unter anderem die Erreichbarkeit der Polizei in der Tatnacht, eine verschlossene Notausgangstür an einem der Tatorte und die Tatsache, dass das Sondereinsatzkommando der Polizei (SEK) direkt vor dem Haus des Täters stationiert gewesen sein soll, dieses aber erst Stunden, nachdem der Täter sich selbst und seine Mutter erschoss, stürmte. Die Schüsse wollen die Beamten nicht gehört haben, was, wie das Rechercheteam von Forensic Architecture rekonstruiert hat, unwahrscheinlich bis unmöglich ist.

 

© 2020 Anja Goldstein/Shutterstock

Was die Erreichbarkeit der Polizei betrifft: Angehörige und Hinterbliebene der Opfer machten zunächst darauf aufmerksam, dass Notrufe bei der Polizei in der Tatnacht offensichtlich gar nicht erst eingingen oder unbemerkt blieben. Die hessische Polizei registrierte in der Tatzeit zwischen 21.55 Uhr und 22.09 Uhr gerade mal fünf Telefonanrufe über den Notruf 110. Mittlerweile ist jedoch bekannt, dass eines der später getöteten Opfer, Vili Viorel Păun, den Täter vom ersten zum zweiten Tatort verfolgt und währenddessen mehrmals versucht hatte, die Polizei zu erreichen. Keiner der Anrufe ging durch, Vili Viorel Păun wurde vom Täter auf einem Parkplatz erschossen. Im Juni 2021 wurden Polizeibeamte des SEK wegen ihrer Teilnahme an rechtsextremen Chat-Gruppen vom Dienst suspendiert. 13 von ihnen sollen in der Tatnacht in Hanau im Einsatz gewesen sein.

Das Ermittlungsverfahren gegen eventuelle Mittäter*innen durch die Staatsanwaltschaft in Hanau wurde bereits im August 2021 eingestellt und eine mögliche Beteiligung unbekannter Mittäter*innen ausgeschlossen. Warum? Die Kontroverse, die für die Einstellung des Verfahrens gegen eventuelle Mittäter*innen unter anderem ausschlaggebend war: der Notausgang der Arena-Bar, in der Hamza Kurtović und Said Nesar Hashemi in der Tatnacht erschossen wurden. In Überwachungsaufnahmen der Tatnacht ist zu sehen, wie eine Person in der Bar erfolglos versucht, die Tür zum Notausgang zu öffnen. Dennoch brachte die Staatsanwaltschaft die folgenden drei Gründe für die Einstellung des Verfahrens vor:

  1. Der Notausgang der Bar sei nicht verschlossen gewesen.
  2. Selbst wenn die Tür verschlossen gewesen wäre, hätte die Zeit nicht ausgereicht, um sich in Sicherheit zu bringen.
  3. Die Betroffenen seien ohnehin in die hintere Ecke der Bar geflüchtet und nicht in Richtung des Täters, der ihnen den Weg zum Notausgang versperrt hätte.

 

Diese, auf falschen Fakten basierende und respektlose Begründung, ist sinnbildlich für das behördliche Versagen rund um die Aufklärung des rassistischen Anschlags von Hanau. Im Bericht der Initiative 19. Februar vom 25. Januar 2023 heißt es, dass erst Anfang September letzten Jahres zwei Polizisten, die mit der Tatortaufnahme befasst waren, im Untersuchungsausschuss bestätigt hätten, dass der Notausgang der Arena-Bar verschlossen war. Eine ursprüngliche Vermutung wurde bereits 2020 von Angehörigen und von zwei Überlebenden gestellt: wegen rassistischer Razzien in der Bar sei der Notausgang per se verschlossen gewesen, um der Polizei ihre Arbeit zu erleichtern.

Auch in Bezug auf den Vater des Täters gibt es inzwischen denkwürdige Erkenntnisse. Er selbst war in der Tatnacht im Haus und will nur Schüsse von draußen gehört haben, als der Täter seine Mutter und im Anschluss sich selbst erschoss. Er soll zudem trotz eines Näherungsverbots mehrfach der Familie Unvar aufgelauert haben. Im September letzten Jahres wurde er wegen rassistischer Beleidigungen gegenüber Demonstrierenden zu einer Geldstrafe verurteilt; zeitweise aufgrund der richterlichen Anordnung, gegen die er immer wieder verstieß, ebenfalls in Gewahrsam genommen. Nach aktuellen Angaben der Staatsanwaltschaft Hanau laufen 24 Ermittlungsverfahren gegen ihn, 21 wegen des Verdachts von Verstößen gegen das Gewaltschutzgesetz und drei wegen mutmaßlichen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamt*innen. Ein Verfahren wegen Nachstellung sei eingestellt worden. Der Vater legte gegen das Annäherungsverbot Widerspruch ein, erschien Anfang Februar 2023 jedoch nicht beim Gerichtstermin. Dass Angehörige nicht nur mit dem Verlust von Ferhat Unvar zu kämpfen haben, sondern auch noch einem potenziell gefährlichen Mann, der sich nicht von Vollstreckungsmaßnahmen und Beamten beirren lässt, ausgeliefert sind, zeigt deutlich, wen der Staat schützt und wen nicht.

 

Drei Jahre Hanau: Was hat sich getan?

Die Angehörigen und Verbündeten kämpfen weiter. Ein Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags, mit dem SPD-Abgeordneten Marius Weiß als Vorsitzenden, wird im Zusammenhang des Hanauer Attentats noch bis Sommer 2023 tagen.

Weiterhin fordern die Angehörigen der Ermordeten die Klärung offener Fragen zur Waffenerlaubnis des Täters sowie zum in der Tatnacht vermeintlich überlasteten Hanauer Polizeiruf 110. Vor diesem Hintergrund stellte Niculescu Păun im Juni 2021 eine Strafanzeige gegen Verantwortliche der Notrufzentrale wegen fahrlässiger Tötung, die in einem langjährigen Prozess fallen gelassen wurde. Trotz der Beweise, die eine Einstellung des Ermittlungsverfahrens in Bezug auf den verschlossenen Notausgang verhindern müssten, zeigt der Prozess deutlich, dass das staatliche Interesse an einer würdevollen Aufklärung nicht gegeben ist.

Anfang Februar dieses Jahres berichtete die „Tagesschau“, dass das Bundesverwaltungsgericht der Klage der Angehörigen gegen Schwärzungen der Obduktionsberichte zustimmte. Diese wurde Anfang Dezember 2022 vom Untersuchungsausschuss gestellt, um das Behördenversagen im Zusammenhang mit der Tat aufzudecken. Vor einigen Tagen sagten nun zwei Rechtsmediziner in der Sitzung des Untersuchungsausschusses aus, dass „ein korrektes Vorgehen bei der Obduktionen der Opfer“ bestätigt werden kann. Der Aspekt, dass die Angehörigen nicht darüber informiert wurden, was mit ihren Liebsten geschah, und die Diffamierung und Dehumanisierung, die die Angehörigen durch die Behörden erleben mussten, wurde in der Sitzung größtenteils ausgeblendet. Vanessa Gronemann (Grüne) resümierte, dass die Obduktionen zwar rechtlich korrekt gewesen seien, der Informationsaustausch zwischen der Generalbundesanwaltschaft und dem hessischen Landeskriminalamt jedoch nicht funktioniert habe. Hat das Tradition? Wir erinnern uns: Diese brüchige Kommunikation mit den Familien zeigte sich bereits wenige Stunden nach dem Attentat. So bekamen diese erst am Morgen nach der Tat die Todesnachricht, während sie alle gemeinsam in einer Sporthalle ausharren mussten. Das zeigt, dass der Opferschutz trotz jahrelanger Erfahrung mit rassistischen Terroranschlägen immer noch keine Priorität hat.

Die gesellschaftliche Tragweite des Attentats von Hanau lässt sich kaum übertreiben. Nicht nur die Morde selbst, sondern auch die beschämenden Lücken in ihrer bisherigen Aufklärung bedeuten für Angehörige und Hinterbliebene sowie für migrantisierte und rassifizierte Menschen in Deutschland vor allem eines: Gerechtigkeit und Sicherheit ist für sie ein erbitterter Kampf und nicht Status quo. Immer wieder betonen Hinterbliebene die Demütigung, die Hilflosigkeit und den strukturellen Rassismus, den sie erleben. Dass die Hinterbliebenen überhaupt um Klarheit und faktenbasierte Ermittlungen kämpfen müssen, ist ein Armutszeugnis. Sowohl der institutionelle Rassismus in Deutschland als auch der offensichtliche Mangel an Opferschutz gehören zur abscheulichen Tagesordnung. Das Attentat von Hanau ist nicht nur kein Einzelfall, es wird seit drei qualvollen Jahren jeden Tag weiter auf Familien und Hinterbliebene der Opfer verübt.

Erinnern heißt ändern  – ein Slogan, der in die Praxis umgesetzt werden muss. Mit der unermüdlichen Arbeit, die die Initiative 19. Februar leistet, um nicht nur die rassistischen Morde aufzuklären, sondern möglicherweise auch einen Präzedenzfall zu schaffen, wird ein antirassistischer Kampf auf Bundesebene gekämpft. Als Gesellschaft, als Verbündete, als solidarische Mitmenschen rufen wir dazu auf, die Initiative bei ihrer Arbeit zu unterstützen.

Unterstütze die Initiative bei ihrer Arbeit mit einer Spende: https://19feb-hanau.org/spenden/ sowie die Bildungsinitiative Ferhat Unvar, die sich für antirassistische Bildung & Empowerment einsetzt und von Ferhats Mutter Serpil Temiz Unvar gegründet wurde.

Initiative 19. Februar:

Lückenlos e.V.
IBAN: DE19430609674108589900
BIC: GENODEM1GLS
GLS Bank Bochum

Verwendungszweck: Spende Initiative 19. Februar

Neben dem Stichwort „Spende 19. Februar“ bitte unbedingt deine Adresse auf dem Überweisungsformular angeben, sollte eine Spendenbescheinigung erwünscht sein.

Bei Spenden bis zu 200 Euro dient dieser Beleg in Verbindung mit deinem Kontoauszug als Spendenquittung zur Vorlage bei deinem Finanzamt.

Kontakt:
spenden@19feb-hanau.org

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